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TEILDOKUMENT:




Maria Kestermann:
Schulische Situation jugendlicher Aussiedler




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1. Schulische Bedingungen in den Herkunftsländern der GUS

In den Ländern der GUS ist seit der Auflösung der Sowjetunion vieles im Umbruch, auch das Schulwesen. Es gibt wenig aktuelle Informationen über die Veränderung der Schule dort, hier können nur einige Tendenzen benannt werden, die von der Realität schnell überholt sein können. Vor allem auf dem Land und in abgelegenen Regionen haben sich Grundstrukturen und Rahmenbedingungen des Schulsystems der ehemaligen Sowjetunion erhalten, an anderen Orten sind Teile des früheren Bildungssystems bereits abgeschafft. Die zentralistische Einheitsschule ist hier durch andere Schulformen wie das Gymnasium oder das Lyzeum ersetzt worden. In den Städten sind Privatschulen für eine kleine elitäre Schicht entstanden, die sich nur wenige leisten können. Es besteht eine große Unsicherheit über die Einführung neuer Unterrichtsinhalte und -methoden. Man kann zwar alles in Frage stellen, und die Schulen sind auf der Suche nach schlüssigen Konzepten. Aber ein langsam reagierender Staatsapparat und die finanzielle Misere lassen Veränderungen kaum zu. So hat sich bei der Unterrichtsgestaltung in den Schulen bisher wenig geändert.

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2. Allgemeine Sozialisationserfahrungen der Aussiedlerjugendlichen in der GUS

Die heute zu uns kommenden Aussiedlerjugendlichen sind in der wirtschaftspolitischen Umbruchsituation aufgewachsen. In ihrem Entwicklungsprozeß fehlen ihnen positive erwachsene Vorbilder und Orientierungsmöglichkeiten. Ihnen wird Bestechlichkeit, Korruption, Gewalt in einer existentiell bedrohlichen Situation vorgelebt. Der Mensch verliert an Wert, die Gewalttätigkeit und die Bewertung kriminellen Verhaltens dort hat andere Grenzen als hier. Die Bedrohung des Alltags durch Kriminalität ist die Regel, die Jugendgefängnisse sind überfüllt. Durch bikulturelle Ehen steigt die Anzahl russischsprachiger Familien. Darum nehmen die Deutschkenntnisse bei Kindern und Jugendlichen immer mehr ab, das Niveau des Deutschunterrichts in den Schulen ist bis auf wenige Ausnahmen sehr niedrig. Der russisch-kulturelle Anteil bei Kindern und Jugendlichen wächst. Das heißt, die Kultur des Herkunftslandes ist ihnen in der Regel vertrauter als die deutsche Sprache und das, was sie unter „deutscher Kultur" verstehen.

Die Ausgangssituation in den Herkunftsländern, die bikulturelle Orientierung trifft zusammen mit der Migration als grundsätzlich kritische Lebenserfahrung. Ein bis zwei Jahre vor der Ausreise gehen die Aussiedlerjugendlichen nicht mehr zur Schule, die Berufsbildung aus dem Herkunftsland hat in Deutschland keinen Wert mehr. Die mitgebrachte Schulbildung und die Deutsch-Sprachkompetenz sinkt immer mehr. Vor allem die Altersgruppe der Jugendlichen ab 14 Jahren ist besonders schwer integrierbar: durch die Pubertätszeit als eine an sich instabile Phase und bei abgeschlossener Schulausbildung im Herkunftsland haben sie besonders große Schwierigkeiten, hier Zugang zum Ausbildungsmarkt zu finden. Die Integrationserwartung der deutschen Öffentlichkeit, in Schulen und bei außerschulischen Trägern ist häufig noch von dem Aussiedlerbild aus früheren Zeiten geprägt: bei ausreichenden Deutschkenntnissen können sie sich schnell der gesellschaftlichen Wirklichkeit anpassen.

Durch ihre bikulturelle Orientierung und die genannten Fakten verlängert sich der Integrationsprozeß in hohem Maße. Wenn sich dieses Verständnis in der Öffentlichkeit und den Institutionen durchsetzt, würden Schulen selbstverständlicher die bikulturelle Situation, die Migrationshintergründe und Identitätsunsicherheiten der Spätaussiedlerkinder und -jugendlichen berücksichtigen und die Integration als langfristigen, wechselseitigen Lernprozeß verstehen. Dementsprechend würden sich pädagogische Konzepte ändern, interkulturelle Inhalte und Methoden bekämen auch bei der Aussiedlerintegration einen anderen Stellenwert.

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3. Schulalltag in der GUS

Die schulische Alltagssituation ist katastrophal. Es fehlt in den staatlichen Schulen am Nötigsten: Alte Lehrpläne und damit verbundene Schulbücher wurden verworfen, neue Bücher und Unterrichtsmaterialien können nicht angeschafft werden. Die Gehälter der Lehrer werden über lange Zeiträume nicht bezahlt. Um ihre Existenz zu sichern, müssen sie Nebenjobs annehmen. Der Unterricht fällt oft aus oder ist auf wenige Stunden am Tag begrenzt. Die existentielle Versorgung für die Familien ist nicht mehr gesichert, dadurch verschieben sich auch die Prioritäten für die Jugendlichen. Die Konzentration der Schüler ist verringert, weil sie neben dem Schulunterricht ihre tägliche Existenz sichern müssen. Die Aufrechterhaltung des Unterrichts geht häufig auf die Eigeninitiative von engagierten Lehrern zurück. Die Schulen haben einen hohen Autoritäts- und Prestigeverlust zu verzeichnen. Es gibt nach dem Umbruch kein Recht mehr auf Bildung und Arbeit, darum hat der Schulbesuch nicht mehr den Stellenwert wie zu Zeiten des Sozialismus. Die ökonomische Situation von Rentnern und Jugendlichen wird als besonders schlecht bezeichnet.

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4. Das Schulsystem in der GUS

Die Möglichkeit für die Aussiedlerschülerinnen und -schüler, eine andere als die zentralistische Einheitsschule zu besuchen, besteht in der Praxis nur bedingt. Zum einen gibt es in den ländlichen Regionen keine Alternativen, zum anderen sind neue Schulformen in den Städten häufig in privater Hand. Aussiedlerschüler bringen andere Schulerfahrungen mit, die hier nicht immer leicht nachvollziehbar sind. Die Grundstruktur der elfjährigen Einheitsschule bildet die vierjährige Grundschule und die daran anschließende allgemeinbildende Mittelschule. Der Abschluß der „unvollständigen Mittelschule" nach neun Jahren beendet die Schulpflicht und erlaubt den Besuch von beruflichen Schulen, Technika, d.h. die Berufsausbildung ist schulzentriert. Die vollständige Mittelschule endet mit Abschluß der mittleren Bildung und dem Abitur nach elf Jahren, es berechtigt nach einer Aufnahmeprüfung zum Besuch von Hochschulen.

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5. Wesentliche Merkmale des Unterrichts in den Ländern der GUS

1. Eine strenge Reglementierung der Lehrer durch zentral erlassene Lehrpläne und dem dazugehörigen Lehrbuch bestimmen die Basis des Unterrichts. Der Umfang des Lehrstoffes ist groß, im Frontalunterricht wird versucht, den Lehrstoff in kurzer Zeit zu vermitteln. Die Schüler lernen, vorhandenes Wissen zu reproduzieren, Vorträge und Präsentationen vor der Klasse sind üblich. Soziale Lernformen und kommunikativer Unterricht sind erst in wenigen Reformansätzen vorhanden.

2. Der Stundenaufbau ist entsprechend straff und mit starken Kontrollen organisiert. Ein Tagebuch, in dem Hausaufgaben und Noten eingetragen werden, gewährleistet eine regelmäßige Kontrolle für Lehrer und Eltern über den Wissensstand der Schüler.

3. Der Lehrer ist eine Autorität und genießt hohe Achtung bei Schülern und Eltern, Gehorsam und Disziplin werden erwartet. Er hat die Verantwortung für die schulischen Leistungen des Schülers und wird dafür zur Rechenschaft gezogen. Der Lehrer erteilt den Schülern im Unterricht klare Aufforderungen, sich zu äußern.

4. Das Unterrichtsklima ist förmlicher als hier. Es wird mehr Wert auf gepflegte Kleidung gelegt. Naturwissenschaftliche Fächer haben einen hohen Stellenwert im Unterricht.

5. Im Vergleich zum Verhalten der Schülerinnen und Schüler hier sind sie dort wesentlich disziplinierter, sie respektieren Regeln des formalisierten Verhaltens. Sie arbeiten im Unterricht mit, stören nicht und sind lernmotiviert.

In den letzten Jahren gibt es eine Entwicklungstendenz in Richtung eines Schülerverhaltens, das uns an deutschen Schulen nicht unbekannt ist. Das Ursachenfeld ist komplex und erklärt sich zum einen durch die Unsicherheiten der Umbruchsituation, aber auch durch die spezifischen Schulbedingungen vor Ort, durch die Familie und das soziale Umfeld.

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6. Erworbene schulische und persönliche Kompetenzen

Die zu uns kommenden Jugendlichen haben im Schulalltag des Herkunftslandes bereits viele Kompetenzen und Orientierungen erworben:

1. Sie kennen ihren Schulalltag und können sich darin orientieren.

2. Sie haben eine hohe Merk- und Reproduktionsfähigkeit erworben. Disziplin, systematisches Lernen, Vortrags- und Präsentationsfähigkeit sind einige ihrer schulischen Fähigkeiten.

3. Sie können sich in ihrer Muttersprache gut verständigen.

4. Sie sind in der Lage, ihre Leistung und ihr Wissen durch das schulische Kontrollsystem einzuschätzen.

5. Sie besitzen häufig mathematisch-naturwissenschaftliche und musische Kompetenzen.

6. Sie haben ein großes Improvisationsvermögen und praktische Fähigkeiten aus dem „Über"lebenskampf entwickelt.

7. Sie bringen ein kollektives und soziales Gruppenverhalten mit.

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7. Unbekannter Schulalltag in der Bundesrepublik

Nach der Ausreise in die Bundesrepublik haben ihre dort erworbenen Kompetenzen und Verhaltensmuster keine Bedeutung mehr. Sie werden mit einem vollständig anderen Schulalltag konfrontiert, der sie stark verunsichert und orientierungslos werden läßt:

1. Sie beteiligen sich nicht am Unterricht, weil sie durch die Inhalte, Aufgaben und Verhaltensmuster irritiert sind und vieles nicht verstehen.

2. Die demokratischen Unterrichtsformen und das partnerschaftliche Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern führen zu großer Verunsicherung. Sie kennen klare Aufforderungen und klare Grenzen.

3. Aussiedlerjugendliche fühlen sich im Unterricht tendenziell isoliert und von den Lehrern wenig akzeptiert.

4. Kaum jemand zeigt Interesse an ihrem Schicksal und Herkunftsland, viele Lehrer und Schüler kennen den Erfahrungshintergrund von Aussiedlerschülern nicht.

5. Hier ist weniger Disziplin und rezeptives Verhalten als im Herkunftsland gefordert, dafür mehr Eigeninitiative und Selbständigkeit.

6. Durch die „Sprachlosigkeit" sind Aussiedlerjugendliche für die Mitschüler keine Gesprächspartner.

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8. Gruppenbildung

Die Spätaussiedlerjugendlichen suchen Akzeptanz und Entspannung vom anstrengenden Schulalltag in einer Gleichaltrigengruppe mit gemeinsamem kulturellen Erfahrungshintergrund. Die russische Sprache ist ihnen vertraut, sie gibt ihnen Sicherheit und Schutz in der Fremde. Sie verschließen sich gegenüber anderen, erfahren aber auch selber Ausgrenzungen.

Für schulische und außerschulische Pädagogen bedeutet das, Integration als langfristigen wechselseitigen Prozeß zu verstehen und professionelle Geduld zu zeigen. In den Herkunftsländer, vor allem in ländlichen Gebieten ist die Gruppenbildung ein übliches Freizeitverhalten, das hier reproduziert wird. Für Außenstehende ist dieses Verhalten fremd und wirkt manchmal bedrohlich. Die Gruppe kann aber auch durch die beschriebene Lebenslage Ausgangsort für gewalttätige und kriminelle Tendenzen werden. Die Distanz und Sprachlosigkeit zwischen ausgesiedelten, einheimischen und ausländischen Schülern zu überwinden, wäre ein großer Schritt in Richtung Integration. Es sind bisher keine langfristig erfolgreichen Konzepte bekannt, die dieses Ziel erreichen könnten.

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9. Die soziale Integrationsförderung in der deutschen Schule

Die Schule ist für die Aussiedlerkinder und -jugendlichen nach der Ausreise eine wichtige soziale Institution. Lehrer und Mitschüler sind in der ersten Phase nach der Aussiedlung häufig die einzigen einheimischen Bezugspersonen. Die deutsche Sprachförderung ist nur eine wichtige Voraussetzung, um am schulischen Leben teilnehmen zu können. In den Schulen muß auch zur Kenntnis genommen werden, daß die Jugendlichen in einer anderen kulturellen Welt aufgewachsen sind und ihre Bikulturalität in Zusammenhang mit dem deutschen Spracherwerb berücksichtigt werden muß. Die Sprachförderung darf daher nicht isoliert vom sozialen Kontext gesehen werden:

1. Migration ist grundsätzlich eine einschneidende Lebenserfahrung, die sich – auch – auf Schulerfolg oder Schulmißerfolg auswirkt: Lehrer sollten berücksichtigen, daß Migration mehr ist als ein Schulwechsel. Es ist ein Bruch in der Persönlichkeitsentwicklung und der Schüler ist unterschiedlich psychosozial belastet.

2. Aussiedlerjugendliche machen Trennungserfahrungen: Die Trennung von der Heimat bedeutet das Abschneiden aller sozialen Beziehungen. Oft führen diese traurigen Erfahrungen zu depressivem, ängstlichem, aber auch zu extrem aggressivem Verhalten. Das kann zu Schwierigkeiten im sozialen und schulischen Bereich führen. Lehrer sind in der ersten Phase nach der Aussiedlung wichtige Vertrauenspersonen. Bei psychosomatischem Verhalten der Schüler sollten kompetente Fachkräfte aus den Beratungsstellen hinzugezogen werden.

3. Jugendliche erleben die Konfrontation mit der neuen Lebenswelt am stärksten: Sie haben schon wichtige gesellschaftliche, ethische und individuelle Handlungsorientierungen des Herkunftslandes erworben. Die Schule sollte sich vertraut machen mit den Sozialisationsbedingungen von Aussiedlerjugendlichen im Herkunftsland. Es ist wichtig, auf andere Denk- und Verhaltensmuster einzugehen, die sich von denen ihrer Mitschüler unterscheiden.

4. Nach der Aussiedlung fehlt den Schülern durch die extrem belastete Familien-, Wohn- und Einkommenssituation die Stabilität der Lebens- und Lernbedingungen: Darum muß die Schule darauf achten, daß Aussiedlerschüler langfristig ihrem Leistungsniveau entsprechend gefördert werden.

5. Lerninhalte sind oft nicht genügend situationsbezogen: Sprachkompetenz hängt immer vom sozialen Kontext ab. Schule sollte daher intensiven Sprachunterricht in Verbindung mit Lerninhalten zur Alltagsbewältigung anbieten.

6. Aussiedlerjugendliche sind hier fremd, sie brauchen Bezugs- und Vertrauenspersonen: Sie haben kaum jemanden, der ihnen bei Problemen kompetent weiterhelfen kann. Die Schule kann hier Vermittler sein und mit außerschulischen Partnern kooperieren wie Beratungsstellen, Jugend- und Arbeitsämter, an die Kinder und Jugendliche sich vertrauensvoll wenden können.

7. Aussiedlereltern müssen mehr in die Arbeit der Schulen eingebunden werden: Mit zweisprachigen Elternabenden und Informationstagen über das Schulsystem wurden bisher in der Praxis gute Erfahrungen gemacht. Schulprobleme der Jugendlichen sollten bei Bedarf mit Hilfe eines Dolmetschers erörtert werden.

Die komplexen Problemlagen der Aussiedlerjugendlichen wie auch anderer benachteiligter Schülerinnen und Schüler erfordern die Zusammenarbeit schulischer und außerschulischer Fachkräfte. Schulen sollten sich als Orte verstehen, wo solche Strukturen aufgebaut und gepflegt werden.

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10. Die sprachliche Integrationsförderung

Es gibt viele Aussiedlerschüler, die trotz des Sozialisationsbruchs und des Kulturschocks genügend Energie und Stärke mitbringen, den schweren schulischen Neuanfang zu bewältigen. Außerdem gibt es engagierte Schulen und Lehrerkollegien, die durch ihren persönlichen Einsatz eine erfolgreiche Förderung bei Aussiedlerkindern und -jugendlichen erreichen. Ich möchte nachfolgend auf einige strukturelle, inhaltliche und organisatorische Lücken in der schulischen Eingliederung hinweisen:

10.1. Schulformen

Nach den Regelungen der Bundesländer haben sich alle Schulformen an der Aufgabe zu beteiligen, ausgesiedelte Kinder und Jugendliche aktiv und rasch in Schule und Berufsausbildung, Staat und Gesellschaft einzugliedern. In den Schulen stellt sich die Eingliederung aufgrund der nahezu völlig fehlenden Sprachkenntnisse und der beschriebenen bikulturellen Fremdheit der Aussiedlerjugendlichen als ein „erhebliches" Problem dar. Experten berichten und Statistiken belegen, daß bei kaum vorhandenen Deutschkenntnissen in der Regel eine Zuweisung in die Hauptschule erfolgt, da vorrangig in dieser Schulform ein ausgebautes Fördersystem besteht. Gesamtschulen verfügen nur bedingt über ein entsprechendes Angebot, Realschulen und Gymnasien nehmen Aussiedlerschüler nur mit perfekten Deutschkenntnissen auf. Bei nicht ausreichenden schulischen Möglichkeiten vor Ort können Aussiedlerschüler theoretisch Förderschulinternaten zugewiesen werden, die eine empfehlenswerte ganzheitliche pädagogische Konzeption haben und durch Bundesmittel, dem sogenannten Garantiefonds, finanziert werden. Leider wird diese Zuweisung durch die extreme Mittelkürzung nur noch eingeschränkt vorgenommen. Für eine nicht geringe Anzahl von Jugendlichen führt dies zur „Ausgrenzung von Fördermöglichkeiten einer weiterbildenden Schule" und zur geistigen Unterforderung, die Störungen in ihrer persönlichen Entwicklung hervorrufen können. Auch Schüler mit Lern- und Leistungsschwächen machen demotivierende und frustrierende Erfahrungen, da diese aufgrund der Sprachproblematik erst verspätet erkannt werden.

Verteilung der Aussiedlerschüler auf die Schulformen in Nordrhein-Westfalen (Stand 10/1997)

Grundschulen

48.941

Hauptschulen

38.900

Volksschulen

685

Sonderschulen im Bereich Grundschule und Hauptschule

3.505

Sonderschulen im Bereich Realschule und Gymnasium

18

Realschule

22.163

Gesamtschule

13.612

Gymnasium

10.653

Abendrealschule

627

Abendgymnasium

102

Kolleg

573

Gesamtschülerzahl

193.784

Quelle: Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik

10.2. Das System der Förderklassen und Fördergruppen

Etwa 190.000 ausgesiedelte Kinder und Jugendliche besuchen zur Zeit in Nordrhein-Westfalen die allgemeinbildenden Schulen. Die Vermittlung der Aussiedlerkinder und -jugendlichen an bundesdeutsche Schulen ist entsprechend des föderalen Prinzips Angelegenheit der Bundesländer. Ziel aller Fördermaßnahmen ist die sprachliche und schulische Integration der Schüler und Schülerinnen in die Regelklassen. Die dazu notwendigen Maßnahmen sind in verschiedenen Erlassen geregelt. Die jugendlichen Aussiedler kommen als sogenannte „Seiteneinsteiger" in die Schule, d.h. wenn sie eingereist sind, werden sie im laufenden Schuljahr integriert.

Kinder und Jugendliche mit geringen Deutschkenntnissen besuchen in der Regel zunächst Auffang- oder (möglichst) internationale Förderklassen. Der Erwerb der deutschen Sprache ist vorrangig, und ein möglichst schneller Übergang in die Regelklasse soll vorbereitet werden. Werden sie gemeinsam mit anderen Schülern in Regelklassen unterrichtet, erhalten die Aussiedler bei Bedarf zusätzlichen Deutschunterricht in Fördergruppen.

Ob Förderklassen oder -gruppen gebildet werden, hängt in der Praxis von den konkreten Bedingungen an den einzelnen Schulen ab und von der Anzahl der Seiteneinsteiger. Auch hier gibt es einige Probleme in der Praxis:

1. Jahrgangsübergreifende Auffangklassen, in denen Schüler verschiedener Altersstufen zusammen unterrichtet werden, sind eher problematisch, weil sich das unterschiedliche Alter und Leistungsniveau negativ auf die Motivation und die sozialen Beziehungen der Schüler auswirkt.

2. Förderklassen sollten multikulturell zusammengesetzt sein: In Klassen wird das Erlernen der deutschen Sprache sehr verzögert, wenn hier ausschließlich ausgesiedelte Schüler unterrichtet werden. Ich zitiere eine Aussiedlerjugendliche: „Fast drei Jahre war ich in einer Klasse, in der alle Mitschüler russisch gesprochen haben. Gelernt habe ich ein bißchen Grammatik, aber nicht das Sprechen."

3. Der Nachteil von Förderklassen besteht häufig auch darin, daß kaum Fachunterricht erteilt wird. Wenn die Schüler nach 1 – 2 Jahren in die Regelklassen kommen, müssen sie zurückgestuft werden und sind vom Unterrichtsinhalt unterfordert. Die Mitschüler sind auch hier wesentlich jünger, so daß soziale Beziehungen nur eingeschränkt entstehen.

4. Probleme entstehen auch dort, wo in der Schule der organisatorische Rahmen für die Deutschförderung fehlt. Es besteht die Frage nach dem Stellenwert und der Effektivität der Maßnahmen, wenn zahlreiche Lehrer mit Reststunden in den Förderklassen arbeiten, sie häufig zu Vertretungsstunden herangezogen werden und der Unterricht ausfällt.

Vorliegende Erfahrungsberichte zu sprachlichen Fördermöglichkeiten in der Schule bezeichnen sie als nicht mehr ausreichend. In Familie und Freizeit wird in der Regel russisch gesprochen, so daß eine sprachliche Unterstützung durch den sozialen Kontext kaum noch gegeben ist. Eine Ergänzung der Deutschförderung durch bedarfsgerechten außerschulischen Nachmittagsunterricht erscheint mehr als notwendig zu sein.

10.3. Übergang Schule/Beruf

Mit dem Blick auf unzureichende Deutschkenntnisse und der bikulturellen Fremdheit haben Schüler vor allem ab Klasse 8 Probleme, in relativ kurzer Zeit den Schulabschluß zu erreichen. Ohne spezielle Förderangebote bleiben sie unter ihrem Leistungsniveau, erzielen schlechte Schulabschlüsse oder sind Schulabgänger. Die Berufsfindung ist für die Jugendlichen eine schwierige Aufgabe, vor allem, weil die Eltern sie nicht beraten können. Die Erfahrungen aus dem Herkunftsland sind wertlos, sie kennen das komplexe Ausbildungssystem hier nicht oder nur bedingt. Es besteht ein großer Handlungsbedarf an frühzeitigen schulischen Beratungs- und Hilfsangeboten in Kooperation mit außerschulischen Trägern. Den Übergang von der Schule in den Beruf schaffen die Aussiedlerjugendlichen nur mit Unterstützung berufsvorbereitender Maßnahmen. Sinnvoll sind ganzheitliche, zielgruppenspezifische Angebote mit sprachlicher, fachlicher Förderung, sozialpädagogischer und psychosozialer Begleitung. Andernfalls sind sie noch häufiger Verlierer im Konkurrenzkampf um das knappe Ausbildungsangebot.

10.4 Garantiefondsmittel

Die qualitativ verschlechterten Förderbestimmungen und reduzierten Bundesmittel (Garantiefonds) für die sprachliche, schulische und berufliche Eingliederung junger Aussiedler beeinträchtigen die Deutschförderung sehr. Eine erfolgreiche schulische und berufliche Bildung der jugendlichen Spätaussiedler ist durch diese Einschränkungen kaum zu gewährleisten. Die Maßnahmen müssen an dem tatsächlichen Bedarf und nicht an Zuzugszahlen gemessen werden. Die Garantiefondsmittel für den außerschulischen Nachmittagsunterricht und für die pädagogisch sinnvolle ganzheitliche Eingliederung der Aussiedlerjugendlichen in den Förderschulinternaten werden immer mehr eingeschränkt, obwohl inzwischen ein hohes Aggressionspotential und eine steigende Kriminalitätsrate bei einem kleinen Teil von Aussiedlerjugendlichen zu verzeichnen ist. Ihre Entwicklung zu einer sozialen Randgruppe mit langfristigen Folgekosten kann nur verhindert werden, wenn Integrationsmaßnahmen für ausgesiedelte Kinder und Jugendliche präventiv, frühzeitig und in ausreichendem Umfang für alle Schulformen durchgeführt werden. Die für die Eingliederungshilfen zuständigen Dienste berichten übereinstimmend, daß neben den reduzierten Mitteln zur Sprachhilfe notwendige schulbegleitende gruppenpädagogische Angebote nicht ausreichend finanziert werden.

10.5. Erhalt und Förderung der Herkunftssprache

Mehrsprachigkeit gewinnt durch das Zusammenwachsen in Europa immer mehr an Bedeutung und kann für zugewanderte Jugendliche die Erweiterung ihrer beruflichen Chancen bedeuten. Darum sollten noch mehr Anstrengungen als bisher unternommen werden, die Muttersprache aller zugewanderten Kinder und Jugendlichen einschließlich der Aussiedler zu erhalten und in der Schule zu fördern. Jugendliche Spätseiteneinsteiger können eine Sprachprüfung zur Anerkennung der Herkunftssprache ablegen, dadurch entfällt der Nachweis einer anderen Pflichtfremdsprache. Im Rahmen des muttersprachlichen Ergänzungsunterrichtes wird seit dem Schuljahr 1995/96 in einigen Schulen polnisch und russisch gelehrt. Der Erhalt und die Förderung der Mutter- oder Herkunftssprache für AussiedlerschülerInnen in der Schule sollte als wichtig betrachtet und verpflichtender Bestandteil des Unterrichts werden.

10.6. Handlungsbedarf

1. Der erhöhte Integrationsbedarf durch einen längerdauernden Eingliederungsprozeß muß durch ausreichende außerschulische Fördermaßnahmen für die Dauer von zwei Jahren gewährleistet werden (Garantiefonds).

2. Schulische Förderung von sogenannten Seiteneinsteigern und älteren Schülern muß bei Bedarf über Förderschulinternate wegen ihrer exemplarisch wirkenden Arbeit möglich sein.

3. Neben der Schaffung ausreichender Fördermöglichkeiten sollte Zeit zur intensiven Zusammenarbeit mit Aussiedlereltern und außerschulischen Fachkräften vorhanden sein. MitarbeiterInnen der Jugendsozialarbeit, der Jugendarbeit, von Beratungsstellen, Berufsberatung und AussiedlerInnen mit gleichem kulturellen Hintergrund und der Muttersprachenkompetenz sind wichtige Kooperationspartner für die Schule.

4. Die Öffnung der Schule zum Stadtteil oder zum Umfeld, um die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen einzubeziehen, kann ebenso eine große Hilfe sein wie die Vernetzungsarbeit mit Freizeit- und Beratungseinrichtungen.

5. Es besteht Fortbildungsbedarf zum Erfahrungshintergrund und zu Fördermöglichkeiten von Aussiedlerkindern und -jugendlichen in der Schule. Lehrerfortbildungen haben einen „Orchideenstatus" und sind keineswegs üblich.

6. Es fehlen Informationen zu praktikablen Förderkonzepten. Die mit den Förderaufgaben befaßten Lehrer müssen entlastet werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 1998

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