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TEILDOKUMENT:
3. Sozialsysteme in Europa: Spiegelbild kultureller Vielfalt Wie wir gesehen haben, ist die Entwicklung der Sozialpolitik in Europa im wesentlichen subsidiär, d.h. der Ausgestaltung der nationalen Politikebene überlassen geblieben. Die anfänglichen Überlegungen zur 'Harmonisierung' der Sozialsysteme (im 'Europa der 6') - im wesentlichen mit Blick auf die Wanderarbeitnehmerproblematik konzipiert - wurde schnell wegen der unüberwindlichen praktisch-politischen Probleme bei der Umgestaltung historisch gewachsener, heterogener Sozialsysteme (endgültig dann mit der Erweiterung der Gemeinschaft um Mitgliedsländer, deren wirtschaftliche Kraft weit hinter jener der Gründungsmitglieder zurückblieb) aufgegeben. Doch auch wenn es keine regulierte Harmonisierung gegeben hat, muß dies nicht auf eine Bewegungslosigkeit hindeuten.
3.1 Typen wohlfahrtsstaatlicher Regulierung in Europa
Die Mitgliedsländer der Europäischen Union können alle als Wohlfahrtsstaaten definiert werden, in denen die zentralen Bestandteile der Sozialpolitik (s.o.) ein ausgeprägtes Ausmaß an öffentlicher Unterstützung, breit angelegter Anforderung an moderne Staatlichkeit und - entsprechend - einen hohen Anteil an der gesamten Wirtschaftsleistung ausmachen. Dies wird insbesondere deutlich, wenn diese Kriterien mit Ländern wie den USA oder Japan verglichen werden, wo die Leistungsniveaus grundsätzlich niedriger, aber auch die Anforderungen an Wohlfahrtsstaatlichkeit geringer ausgeprägt sind (vgl. Europäische Kommission 1995: 25f.). Trotz dieser grundlegenden Gemeinsamkeiten zeichnen sich die wohlfahrtsstaatlichen Regulierungen in den Mitgliedsländern, die seit Mitte des letzten Jahrhunderts historisch gewachsen sind, durch deutliche Unterschiede in der Bandbreite der Leistungen, der Struktur der Leistungen und den Finanzierungsregelungen der Sozialsysteme aus. Tabelle 2 gibt zunächst einen - in seiner Detailliertheit - etwas verwirrenden Überblick über die Vielfalt der europäischen Wohlfahrtsstaatlichkeit. Bereits hier werden deutliche Unterschiede in den Leistungsniveaus, aber auch in der Finanzierungs- und Leistungsstruktur offenkundig, die wir idealtypisch als Beveridge- bzw. Bismarck-Systeme bezeichnet hatten. Es zeigt sich aber auch, daß wir in allen Ländern Mischsysteme vorfinden: Selbst im klassischen Land des Bismarck-Typs - der Bundesrepublik - werden Subsysteme der sozialen Sicherung aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert (z.B. die Sicherung des sozio-kulturellen Existenzminimums), wie auch in den klassischen Ländern des Beveridge-Typs - Großbritannien und Dänemark - Teilsysteme beitragsfinanziert sind (z.B. die Sicherung gegen Arbeitslosigkeit). Tabelle 3 zeigt die unterschiedliche Ausgabenstruktur in den Mitgliedsländern, wobei insbesondere der hohe Anteil der Altersfürsorge in Italien und Griechenland auffällt, anscheinend zu Lasten der Leistungsbereitschaft der Arbeitslosigkeit, deren geringer Anteil nicht mit der überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit in diesen Ländern korrespondiert. Tabelle 2:
Legende: 1. Länderabkürzungen in den Spalten: A = Österreich, B = Belgien, DK = Dänemark, D = Deutschland, E = Spanien, F = Frankreich, GR = Griechenland, I = Italien, IRL = Irland, NL = Niederlande, P = Portugal, S = Schweden, SF = Finnland, UK = Vereinigtes Königreich. 2. Symbole zur Kennzeichnung von Hauptmerkmalen: Allgemeine Symbole: x = trifft zu, /= nicht anwendbar, . = keine Angaben, - = existiert nicht. Symbole für Organisationsformen: S = Sozialversicherung mit Kostenübernahme oder Gewährung monetärer Transfers, V = staatliches Versorgungssystem mit kostenloser Leistungsabgabe, L = staatliches Leistungssystem für monetäre Transfers, F = Umlagefonds, PS = Versicherungspflicht bei privaten Versicherungsträgern. Symbole für überwiegende Finanzierung: B = Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer und/oder Arbeitgeber, S = allgemeine Steuermittel, Z = zweckgebundene Steuer. Symbole für Deckungsgrad: U = universell, die gesamte Wohnbevölkerung umfassend, K = kategorial, nur bestimmte Bevölkerungsgruppen umfassend. Symbole für Leistungsniveau: 1. Nettorentenniveau bei durchschnittlichem Einkommen und 40 Jahre Anrechnungszeit in %, 2. Arbeitslosigkeit: Prozentsatz für Standardfall, 3. Familienleistungen: n = niedriges Niveau, m = mittleres Niveau, h = hohes Niveau, 4. Gesundheitsleistungen: T1 = volle Absicherung des Bedarfs nach Stand des Wissens ohne Rationierung und ohne Eigenzuzahlung, T2 = Absicherung des Bedarfs nach Stand des Wissens, aber mit eigener Zuzahlung oder Rationierung oder anderen Beschränkungen; das Ausmaß der Beschränkungen unterscheidet sich von Land zu Land; eine genaue Abstufung ist nicht möglich. Symbole für Anpassung während der Rentenlaufzeit: d = diskretionär, fp = formelmäßig gemäß Preisniveausteigerung, fl = formelmäßig gemäß Nettolohnsteigerung. Quellen: MISSOC 1994; Wyatt 1992; Hauser 1995 (Zahlen für Griechenland korrigiert). Tabelle 3: Anteile der Sozialleistungen nach Funktionen an den gesamten Sozialleistungen in den Mitgliedsländern der Europäischen Union sowie Arbeitslosigkeitsquoten 1992 in % k.a. = keine Angabe, 1) Werte von 1991, 2) Frühere Bundesrepublik Quellen: Eurostat 1994: Statistische Grundzahlen der Gemeinschaft, Luxemburg: Statistisches Amt der Europäischen Gemeinschaften, Tab. 3.36 sowie Tab. 3.22.
Tabelle 4 schließlich wirft einen Blick auf die Finanzierungsstruktur der sozialen Sicherungssysteme in Europa. Deutlich zu erkennen ist die Differenzierung zwischen den Bismarck-Typen (D, F, NL) und den Beveridge-Typen (UK, IRL, DK). Es zeigt sich aber auch eine deutliche Verschiebung der Finanzierungsstrukturen zu Lasten der Versicherten und ein Strukturwandel vom Bismarck- zum Beveridge-Typ in den Mittelmeerländern der EU. Die Europäische Kommission kategorisiert die EU-Mitgliedsländer in vier geo-sozialen Gruppen, die vergleichbare Sozialstrukturen aufweisen: 1. die skandinavischen Länder mit einem Beveridge-System allgemeiner Versorgung plus zusätzlicher, beitragsfinanzierter Versorgung der Erwerbstätigen, 2. die angelsächsischen Länder mit einem Beveridge-System allgemeiner, allerdings durch hohe Bedürftigkeitsgrenzen 'durchlöcherter' Versorgung plus zusätzlicher, beitrags- oder selbstfinanzierter Versorgung der Erwerbstätigen, 3. die 'rheinischen Länder' mit einem Bismarck-System der einkommensabhängigen Sicherung plus hochentwickelter Grundsicherung des sozio-kulturellen Minimums, 4. die Mittelmeerländer mit einer ausgeprägten Mischung aus Bismarck'scher Sicherung der Altersversorgung und Einkommenssicherung und zunehmender Gesundheitsvorsorge nach dem Beveridge-Typ.
Tabelle 4 Ausgewählte ökonomische und sozialpolitische Indikatoren für die 16 Mitgliedesländer der Europäischen Union
3.2 Entwicklung der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung in Europa
Die eben beschriebenen geo-sozialen Ländergruppen bilden keine festgefügten, kulturell untrennbar verbundenen Blöcke, sondern zeigen lediglich die strukturelle Vielfalt europäischer Sozialsicherung - von einem einheitlichen 'europäischen System' kann also keine Rede sein. Allerdings zeigt sich - bestes Beispiel sind die Niederlande, aber auch die Mittelmeerländer- eine Entwicklung in Richtung des grundversorgenden, steuerfinanzierten Beveridge-Typs. Ohne in die einzelnen Subsysteme der sozialen Sicherung einsteigen zu müssen, zeigt uns Tabelle 4 eine deutliche Differenzierung der sozialen Sicherung in Europa, die im wesentlichen die wirtschaftliche Entwicklung der EU-Mitgliebsländer widerspiegelt: Einer Sozialleistungsquote von 17,6% in Portugal (im Jahre 1992) steht ein Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 27,3% in der Bundesrepublik und etwa 40% in Schweden gegenüber. Noch wesentlich deutlicher sind die Unterschiede, wenn die Ausgaben für die soziale Sicherung pro Kopf (in Kaufkraftstandards) verglichen werden: dann geben die Niederlande und Dänemark etwa dreimal so viel aus wie Portugal. Allerdings zeigt die Tabelle 4 auch, daß die Differenzierung seit 1980 abgenommen hat - und dies insbesondere, weil die weniger entwickelten Mitgliedsländer "darum bemüht waren, ihre Sozialsysteme auf ein Niveau zu bringen, das dem in den Ländern des Nordens der Europäischen Union vergleichbar ist" (Europäische Kommission 1996: 62). Es zeigt sich ein - wenn auch statistisch schwacher - Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Leistungskraft (insbesondere in Irland, Portugal und Spanien) und der Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme (vgl. Rehfeld/Lankes/Grütz 1996: 814). Der naheliegende Schluß, das vielfach mit der Vollendung des Binnenmarktes befürchtete Sozialdumping in der EU ließe sich durch den festgestellten sozialen Konvergenzprozeß widerlegen, ist allerdings etwas kurzgegriffen. Zwar dürfte erkannt worden sein, daß die Gestaltung des Sozialsystems- bei unterstellter Preisgestaltungsfreiheit der Unternehmen und der Existenz des Wechselkursmechanismus - keineswegs die Kapitalrentabilität und mithin die 'Wettbewerbsfähigkeit eines Sozialraumes' schmälern muß - soziale Sicherung betrifft dann die personelle, nicht aber die funktionale Einkommensverteilung (vgl. Scharpf 1996: 134) [ " auch zu den Hochzeiten des sozialdemokratisch - gewerkschaftlichen Aktivismus wurden die Kosten des Sozial staates nicht von den Kapitalanlegern, sondern immer von den Beziehern von Arbeitseinkommen und von den Konsumenten bezahlt" (Scharpf 1996: 134).] -, und doch geht die weitgehende Konstanz der Sozialleistungsquote in den höher entwickelten Ländern der EU und der Anstieg der Sozialleistungsquote in den weniger entwickelten Ländern der EU mit einem deutlichen Abbau der Sicherungsniveaus, verschärften Bedürftigkeitsprüfungen, Zielgruppenorientierung etc. (vgl. Europäische Kommission 1996: 35ff.) - kurz: einem Abbau der sozialen Sicherung - einher. Insbesondere die angelsächsischen Länder könnten - bei Fortschreibung ihrer Entwicklung in Richtung einer zunehmend durchlöcherten Grundsicherung - zu Kandidaten werden, die einen Dumpingprozeß auszulösen vermögen. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1998 |