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2. Zur Entwicklung des' Europäischen Sozialraumes' von Rom bis Maastricht

Seit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaften (EWG) im Jahre 1957 wird die soziale Dimension der europäischen Integration diskutiert - und gewöhnlich als nachgeordnet (subsidiär) betrachtet. Seit Unterzeichnung des EWG-Vertrages lassen sich vier Entwicklungsphasen der praktischen europäischen Sozialpolitik unterscheiden:

Erste Phase: Konstituierung (1957 bis 1980)

Im EWG-Vertrag (1957) finden sich folgende sozialpolitische Formulierungen und Handlungsfelder:

- Angleichung der Sozialversicherungssysteme (Artikel 51),

- Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen (Artikel 117),

- Förderung der Zusammenarbeit in sozialpolitischen Fragen (Artikel 118),

- soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (Artikel 51),

- Förderung der beruflichen und räumlichen Mobilität durch Hilfen des Europäischen Sozialfonds (ESF) (Artikel 123 bis 127).

Handelte es sich dabei weitgehend nur um unverbindliche Absichtserklärungen, so waren die wenigen konkreten Maßnahmen, z.B. die Errichtung des Europäischen Sozialfonds (ESF), aber auch der Wunsch nach einer Angleichung der Sozialversicherungssysteme (der damals sechs Gründungsmitglieder der EWG) motiviert durch das Bestreben, bestehende Mobilitätsbeschränkungen der Arbeitnehmer in der EWG aufzuheben, die sozialen Probleme der sich verändernden Arbeitsteilung abzufeuern und damit die Voraussetzung für einen europäischen Binnenmarkt - also die ökonomische Integration - zu schaffen.

Auch mit dem ersten sozialpolitischen Aktionsprogramm der EWG von 1974 änderte sich die grundsätzliche Unterordnung der Sozialpolitik unter den ökonomischen Primat der Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes nicht, wenn auch, nachdem sich erste Auswirkungen der Ölpreiskrise abzuzeichnen begannen, einige Ziele formuliert wurden, die ein stärkeres, gemeinsames Handeln zu erfordern schienen:

- Sicherung von Vollbeschäftigung in der Gemeinschaft,

- Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen mit dem Ziel ihrer Angleichung in der Gemeinschaft,

- Zunahme der Beteiligung der Sozialpartner an den wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen der Gemeinschaft und der Arbeitnehmer an den Geschicken der Unternehmen.

Wie schon bei einigen ähnlich lautenden Formulierungen im EWG-Vertrag handelte es sich hier um unverbindliche Erklärungen, denen insbesondere keine Instrumentarien zur Seite gestellt wurden.

Mit der weiteren Verschlechterung der wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Lage in den Ländern der 1973 erweiterten EWG, vor allem aber mit der politischen Wende zu Beginn der achtziger Jahre begann dann die nächste Phase der sozialpolitischen Entwicklung.

Zweite Phase: Stagnation (1980 bis 1986)

Mit der zweiten Ölpreiskrise Anfang der achtziger Jahre und der politischen Wende in einigen wichtigen EWG-Mitgliedsländern - insbesondere Großbritannien und Deutschland - begann eine Phase der Stagnation der sozialpolitischen Entwicklung. Vor allem die vollständige Blockadehaltung der neuen britischen Regierung unter Margaret Thatcher verhinderte bis zur Revision der Römischen Verträge durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA, 1986) - erzwungen durch das Einstimmigkeitsprinzip im politischen Entscheidungsprozeß der EWG - jeglichen Fortschritt. Keine nennenswerte Richtlinie konnte in diesem Zeitraum verabschiedet werden, einige Initiativen zur Verbesserung des Schutzes von Arbeitnehmern vor Mißbrauch und Diskriminierung bei Teilzeit- und Zeitarbeitsverträgen scheiterten an der erforderlichen Einstimmigkeit(vgl. Busch 1991: 261f.).

Lediglich Jacques Delors Initiative, die europäischen Sozialpartner in einen 'sozialen Dialog' treten zu lassen (1984), durchbrach in dieser Phase die politische Starre. Allerdings krankte der 'soziale Dialog', der immerhin die Möglichkeiten für tarifvertragliche Regelungen auf europäischer Ebene austarieren sollte, an der grundsätzlichen Weigerung der Arbeitgeberverbände, Konfliktpartei auf europäischer Ebene werden zu wollen: Die arbeitsmarktpolitische Lage und der politische Diskussionsprozeß orientierte sich spätestens seit Beginn der achtziger Jahre in zunehmendem Maße auf die betriebliche Ebene; für einen ernsthaften 'sozialen Dialog' als Vorstufe für ein europäisches Kollektivvertragssystem war da wenig Platz.

Dritte Phase: kleine Schritte (1986 bis 1991)

Die nächste Phase der sozialpolitischen Entwicklung in Europa begann mit der Revision der Römischen Verträge durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA) von 1986. Darin wurde nicht nur mit der Initiierung des Binnenmarktprojektes der Wiederbelebung der Idee einer Europäischen Währungsunion die wirtschaftliche Integration Europas auf eine neue Grundlage gestellt - diese als 'Europhorie' gekennzeichnete Periode langanhaltender Prosperität schien auch die soziale Integration ein Stück voranzubringen: Mit den Artikeln 130a bis 130e wurde der 'soziale Zusammenhalt' in der nunmehr 12 Mitgliedsländer umfassenden Europäischen Gemeinschaft (EG) beschworen, Artikel 118a beschränkte die Entscheidungsfindung in der EG bei 'Fragen der Arbeitsumwelt' (insbesondere bei Gefahren- und Arbeitsschutz der Arbeitnehmer) auf die Mehrheitsentscheidung - womit der britischen Blockadehaltung, zumindest in Teilbereichen der Sozialpolitik, ihre Wirksamkeit genommen war.

Vielleicht wichtiger aber ist die im Zusammenhang mit dem Binnenmarktprojekt angestoßene Diskussion um die 'soziale Dimension' der sich beschleunigenden europäischen Integration, die insbesondere auch von den Gewerkschaften intensiv geführt wurde (vgl. Adamy 1990, Breit 1988, EGI 1988, Steinkühler 1989, IG Metall 1988, Däubler 1989). Zwar versprach der sogenannte 'Ceccini-Bericht' einen nicht unbeträchtlichen Wachstums- und Beschäftigungseffekt des 1993 verwirklichten Binnenmarktes (vgl. Ceccini 1988, kritisch dazu: Padoa-Schioppa 1988), doch der weitgehend als 'negative Integration' gestaltete Prozeß - d.h. Integration durch Abbau bestehender tarifärer und nichttarifärer Handelshemmnisse, keine Schaffung gemeinsamer Regelungen oder Institutionen (positive Integration) - warf die Befürchtung einer abwärtsgerichteten Entwicklung der sozialen Standards, insbesondere in den entwickelten EG-Ländern auf, zumal ein Teil der positiven Effekte des gemeinsamen Binnenmarktes auf einem sich verstärkenden (Preis-)Wettbewerb beruhte und die Schaffung der 'vier Freizügigkeiten' (Kapital, Arbeit, Güter, Dienstleistungen) die Dispositionsmöglichkeiten der Unternehmen erhöhten. [ Deshalb forderte der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) eine "EG - Charta für soziale Grundrechte": "Ange sichts der Herausforderungen, der Gefahren und der Möglichkeiten des Binnenmarktes ist es offensichtlich, .. daß die Gemeinschaft ihrer Verantwortlichkeit dadurch gerecht werden muß, daß sie eine gemeinschaftliche Basisgesetzgebung verabschiedet, die es erlaubt, in allen europäischen Ländern eine konvergente, schrittweise Entwicklung hin zu einem bestmöglichen sozialen Niveau, zu einem Ausbau der Wirtschaftsdemokratie, zur Gewährung von Mitwirkungsrechten für Arbeitnehmer bei allen sie betreffenden Entscheidungen, zur Schaffung eines gesetzlichen Rahmens zum Sozialschutz zu erreichen und einen unlauteren Wettbewerb auf dem großen Binnenmarkt zu vermeiden, der sich auf Rückschritte bei den sozialen Rechten um die Errungenschaften begründen wurde" (EGI 1988: 5).] Die Europäische Kommission legte schließlich nach Vorabstimmungen im Wirtschafts- und Sozialausschuß (WSA), einem tripartistisch (Arbeitgeber, Arbeitnehmer, spezielle Interessenvertreter) besetzten Beratungsgremium der Kommission, den Entwurf einer 'Gemeinschaftscharta sozialer Grundrechte' vor, der nach einigen Entschärfungen 1989 vom Ministerrat von allen EG-Mitgliebsländern außer Großbritannien als 'feierliche Erklärung' angenommen wurde. Doch die darin deklarierten Arbeitsschutz-, Mitbestimmungs-, Gleichstellungs- und Freizügigkeitsrechte tragen keinen rechtsverbindlichen Charakter [ Die 'Sozialcharta' kann weder dem primären oder sekundären Gemeinschaftsrecht zugeordnet werden, noch konstituiert sie eine völkerrechtlich verbindliche Konvention; vgl. Balze 1994: 194.] . Gleichzeitig ist hierin das Subsidiaritätsprinzip festgeschrieben, wonach Sozialpolitik zu allererst Sache der nationalstaatlichen Ebene ist. [ Zur Problematik der Auslegung des Subsidiaritätsprinzips vgl. L'Hoest 1996: 195f.] .

Es zeigte sich schnell, "daß sich die Kommission mit ihrem publizistisch wirkungsvoll angekündigten Kurswechsel in Richtung auf ein soziales Europa zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte" (Bukold/Musiolik 1990: 27). Auch das gleichzeitig vorgeschlagene sozialpolitische Aktionsprogramm, mit dem diese 'Phase der kleinen Schritte' abschließt, enthält zwar einige schöne, aber eben völlig unverbindliche Forderungen:

- angemessene Entlohnung,

- angemessener sozialer Schutz,

- angemessene Sozialhilfe.

Für die europäischen Gewerkschaften war die "Europäische Sozialcharta" nicht weitreichend genug: Ihre Unverbindlichkeit, ihre Unbestimmtheit, ihre Lückenhaftigkeit (so blieben das Streik- und Tarifrecht unerwähnt) und die fehlende zeitliche Abstimmung mit der wirtschaftlichen Integration ließen sie weit hinter die Gewerkschaftsforderungen zurückfallen (Busch 1991: 272).

Vierte Phase: nach dem Maastrichter Vertrag

Mit der Ratifizierung des 'Vertrags über die Schaffung einer Europäischen Union'- nach dem Ort der Paraphierung auch 'Maastrichter Vertrag' genannt - tritt die europäische Integration auf eine neue Stufe: Mit der bis zum Jahr 1999 intendierten Schaffung eines gemeinsamen Währungsraumes mit - etwas später - einheitlicher Währung wird nicht nur die wirtschaftliche Integration 'gekrönt', sondern erstmals ein deutlicher Schritt in Richtung 'positive Integration' - d.h. also die Schaffung supranationaler Regelungen oder Institutionen - getan. Auf sozialpolitischem Gebiet aber ist der Maastrichter Vertrag eine weitere Enttäuschung: Er geht nur unwesentlich über die Formulierungen der Einheitlichen Europäischen Akte hinaus (vgl. Nienhaus 1994: 271). Diese Tatsache ist dem Umstand geschuldet, auch Großbritannien die Ratifizierung ermöglichen zu müssen. Erst im dem Maastrichter Vertrag angehängten und von Großbritannien nicht unterzeichneten 'Maastrichter Abkommen über die Sozialpolitik' [ Diese Konstruktion wird von Maydell (1992: 317) als 'juristisches Unikum' bezeichnet.] werden weitere sozialpolitische Themenfelder benannt, die in gemeinschaftliche Regelungskompetenz fallen (können):

- Mindeststandards für Arbeitsbedingungen können mit qualifizierter Mehrheit erlassen werden.

- Über die soziale Sicherheit, den Kündigungsschutz und die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer kann mit Einstimmigkeit entschieden werden.

- Den Sozialpartnern wird auf Gemeinschaftsebene die Möglichkeit eingeräumt, in einem Dialog "vertragliche Beziehungen einschließlich des Abschlusses von Vereinbarungen" (Art. 4) herzustellen.

Mit dem Erlaß der EU-Richtlinie zur Errichtung von Euro-Betriebsräten in 'gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen' ist bereits erstmals ernsthaft von den neuen Regelungskompetenzen Gebrauch gemacht worden (vgl. Däubler 1996: 150).

Obwohl, wie Volker Nienhaus (1994: 272) schreibt, "der Kompetenzbereich der EG deutlich über das zur Verwirklichung der Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit notwendige Minimum hinaus ausgedehnt" wurde, behält wohl Hans-Wolfgang Platzers (1992: 117) Diktum Gültigkeit, die Sozialpolitik sei das "Stiefkind der bisherigen Integration". Zu sehr sind die Formulierungen vage, unverbindlich und deklaratorisch geblieben. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn man die sozialpolitischen Bestimmungen mit den detaillierten Formulierungen zu den Konvergenzkriterien des Maastrichter Vertrages oder dem 'Stabilitäts- und Wachstumspakt' vergleicht.

Statt einer Sozialpolitik, die eine redistributive Funktion erfüllt und als solche über beträchtliche finanzielle Ressourcen verfügen muß (vgl. Begg/Nectoux 1995: 286), hat sich eine sozialregulative Politik in Europa herausgebildet, die auf Initiative der Europäischen Kommission Mindeststandards im Bereich des Arbeitsschutzes, der Gleichstellung der Geschlechter oder des Verbraucherschutzes festlegt (vgl. Majone 1996). Die Regulierungsaktivität in der EU im Zeitraum von 1957 bis 1995 wird in Abbildung 1 deutlich:

Abbildung 1:
Anzahl der Richtlinien und Verordnungen im Bereich Sozialpolitik


Bilddatei: Abbildung 1


Tabelle 1:
Ausgabenstruktur der EU


Bilddatei: Tabelle 1

Anmerkungen: EAGFL: Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft; EFRE: Europäischer Fonds für regionale Entwicklung; ESF: Europäischer Sozialfonds.

Mit dem Verzicht auf die Übertragung größerer finanzieller Ressourcen (vgl. Tabelle 1) auf eine supranationale, europäische Ebene (oder auch nur der Aufgabe der nationalen Souveränität über die Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme) konnte die Legitimationsfrage umgangen werden - indem aber die Europäische Kommission, allerdings erst nach Mehrheitsbeschluß durch den Ministerrat, soziale Regulierungen schaffte, schaffte sie sich ihre eigene Legitimation durch Vertretung diffuser Interessen, die über keine entsprechende Artikulationsmöglichkeit in den nationalen politischen Systemen verfügen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1998

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