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1. Sozialpolitik - Zur Eingrenzung eines weitreichenden Begriffes

Gewerkschaften sind als Teil der 'sozialen Bewegung' des 19. Jahrhunderts entstanden, Sozialpolitik markiert folglich einen Kernbestandteil gewerkschaftlicher Politik. Noch bevor sich die Wissenschaft im 1872 gegründeten 'Verein für Socialpolitik' um eine systematische Definition des Gegenstandes bemühte, brachte die sich formierende Arbeiterbewegung die 'soziale bzw. Arbeiterfrage' auf die politische Tagesordnung.

Während die Sozialpolitik in der gewerkschaftlichen Praxis - eigentlich bis heute - im wesentlichen aus einem teleologischen Blickwinkel heraus betrachtet wurde - Beseitigung objektiver Mangellagen in bezug auf materielle Lebensgüter (z.B. Einkommensarmut, Wohnungsnot, Fürsorge im Alter oder bei Krankheit) oder Korrektur von Benachteiligungen (z.B. soziale Ungerechtigkeiten, soziale Benachteiligungen)-, versucht die Wissenschaft, Sozialpolitik aus der Funktionsweise kapitalistischer Systeme heraus zu definieren (vgl. Berthold 1991): Sozialpolitik als Schmiermittel des ökonomischen Motors der (kapitalistischen) Gesellschaft. [ Diese Beschreibung ist durchaus mehrdeutig: Einerseits geht es darum - wie der ökonomische Mainstream formuliert - , "bestehende allokative Unzulänglichkeiten" (Berthold 1993: 24) zu beheben, andererseits geht es darum, die Voraussetzungen der industriellen Konstitution erst zu schaffen (vgl. Gärtner 1976).] Dies wird besonders deutlich in Müller-Armacks 'sozialer Marktwirtschaft', die einerseits durch die 'Paretooptimalität' marktlich organisierter Volkswirtschaften ein gesamtwirtschaftliches Wohlfahrtsoptimum garantiert, andererseits die Nicht-Teilnehmer am Marktgeschehen (Alte, Kranke, [temporär] Arbeitslose) sozial absichert [ Dies hat einen weiteren Vorteil: "Die Ergebnisse von Marktprozessen werden als gegeben hingenommen, bestenfalls wird über Art und Umfang einer sozialen Absicherung diskutiert.... Nicht die Ursachen einer armutserzeugenden Einkommensverteilung stehen zur Diskussion, sondern allenfalls der Anspruch auf staatlich finanzierte Sozialhilfe." (Bäcker u.a. 1989: 32).].

Der teleologische Ansatz ermöglicht eine klare - wenn auch häufig arbiträre - Bestimmung sozialpolitischer Aufgabenfelder, während der funktionalistische Ansatz in erster Linie dadurch reizvoll wird, daß er den ökonomischen Primat der Sozialpolitik hervorhebt (vgl. Bäcker u.a. 1989: 29).

Da es in dieser Arbeit nicht um die Begründung der Sozialpolitik, sondern um die Einschätzung der Schaffung einer europäischen Dimension der Sozialpolitik gehen soll -zumal aus gewerkschaftlicher Sicht-, wird hier im wesentlichen die teleologische Perspektive gewählt. Sozialpolitik wird also im Hinblick auf ihre Ziele definiert.

Wer glaubt, daß Sozialpolitik damit eindeutig zu fassen wäre, sieht sich getäuscht. Sozialpolitik - insbesondere als teleologisches Gebilde - verändert sich mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung: War zunächst die Sicherung physischer Minimalstandards ihr Ziel, trat später die Verwirklichung größerer sozialer Gerechtigkeit in den Mittelpunkt (vgl. Lampert 1980: 5).

Unabhängig von dieser dynamischen Komponente in der Orientierung der Sozialpolitik bleibt aber eines konstituierend: die solidarische Absicherung von systematischen, dem spezifisch fordistisch-industriellen Wirtschaftssystem geschuldeten Lebensrisiken. Oder, wie es Bäcker u.a. (1989: 26) formulieren: "Sozialpolitik setzt an diesem Problem der mangelnden Fähigkeit und Möglichkeit zur individuellen Problemlösung an." Die fordistische Industrialisierung schuf jene massenhaften, einander ähnlichen tayloristisch organisierten Beschäftigungsverhältnisse, die durch objektivierbare, homogene Lebens- und Arbeitsrisiken gekennzeichnet waren, die in solidarischer Form (allgemeiner Versicherungszwang) abgesichert werden konnten. Gleichsam in einem inneren Abhängigkeitsverhältnis dazu ermöglichte diese solidarische Haftung erst den Übergang von bäuerlicher Selbständigkeit in industrielle Abhängigkeit (vgl. Koch 1996).

In diesem Sinne wollen wir in dieser Arbeit unter Sozialpolitik lediglich die Kernbereiche der von der klassischen Sozialversicherung abgedeckten Risiken verstehen: Krankenversicherung (inklusive Pflegeversicherung), Rentenversicherung, Unfallversicherung und Arbeitslosenversicherung sowie die Sicherung eines sozio-kulturellen Existenzminimums. Arbeitsmarkt- oder Wohnungspolitik, aber auch die Einkommenspolitik, die gleichfalls sozialpolitischen Zielen dienen können (und aus diesem Grund teilweise auch zur Sozialpolitik gerechnet werden; vgl. Lampert 1980: 187ff.), sollen deshalb nicht berücksichtigt werden.

Mit der Aufgabe des Individualversicherungsprinzips tritt schließlich die Finanzierung der Sozialpolitik nach dem Solidarprinzip in den Mittelpunkt. Idealtypisch werden zwei Finanzierungssysteme unterschieden:

1. Das nach dem britischen Ökonomen und Sozialpolitiker William Beveridge benannte System konzentriert sich im wesentlichen auf eine Grundabsicherung, die aus der allgemeinen Steuermasse (und entsprechend der Kriterien des jeweiligen Fiskalsystems) aufgebracht wird.

2. Das nach dem deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck benannte System koppelt die Versicherungsleistung, aber auch ihre Finanzierung im wesentlichen an das Einkommen der Versicherten (Faktor Arbeit).

In allen Staaten der Europäischen Union haben sich Mischsysteme dieser beiden Extremvarianten herausgebildet, wobei sie aber gleichwohl dem einen - überwiegend Steuerfinanzierung - oder dem anderen - überwiegend Abgabenfinanzierung - zugeordnet werden können - wir werden dazu später noch kommen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1998

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