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[Seite der Druckausg.:129]

Samstag, 28. Oktober 2000

A. Braun: Zum nächsten Thema: „Haben die Niederlande den Vorsprung in der Generationenpolitik halten können?„

Henk Schippers: Zuerst etwas über uns selbst. Ich bin Henk Schippers; und ich habe hier in Freudenstadt seit 1988 an Seminaren und Foren mitgewirkt. Ich arbeite beim Ministerium für Volksgesundheit, Wohlfahrt und Sport in der Direktion für die Altenpolitik. Seit zwei Jahren habe ich noch einen anderen Job im Ministerium als Organisationsberater. In all den Jahren im Ministerium habe ich mich auch mit dem beschäftigt, was wir Unternehmensrat nennen, das ist die Vertretung der Menschen, die dort arbeiten. Ich bin schon lange Vorsitzender dieses Personalrats und habe dadurch auch einen ganz guten Überblick, was alles passiert im Ministerium und wie das alles organisiert ist. Ich habe auch noch einen ehrenamtlichen Job: ich bin Sekretär einer Föderation von Blinden und Sehbehinderten; ich bin ebenfalls Sekretär von einem Eltern-Verein für blinde und sehbehinderte Kinder. Und dann bin ich auch Vize-Vorsitzender einer Patienten-Konsumenten-Plattform in der Provinz Rheinmund, das ist das Gebiet Rotterdam und Umgebung. Und das alles hat zu tun mit blinden oder sehschwachen Kindern; wir haben nämlich eine sehbehinderte Tochter.

Greet Pels: Und ich schließe mich an: Ich bin Greet Pels und ich bin Lebenspartnerin von Henk. Wir haben aber unsere eigenen Namen behalten; das ist viel einfacher, weil man direkt weiß, wen man am Telefon hat. Ich arbeite bei dem Verband von 50 plussers, ANBO. Das ist ein landesweiter Verband und ich arbeite in der Provinz Südholland; ich bin Organisationsberaterin für den Vorstand meines Verbandes und berate die örtliche Abteilung. Dann sitze ich in meinem Wohnort Ridderkerk im Gemeinderat für die Partei von der Arbeit. Ich bin Landesvorsitzende des Elternvereins, wo er Sekretär ist, für Eltern mit sehbehinderten Kindern und beschäftige mich mit der Organisation des Vereins und kümmere mich um Unterricht für sehbehinderte Kinder. Schließlich muß ich dann noch sagen, daß wir beide auch einen Beitrag leisten als pflegende Angehörige bei meinen Eltern.

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H. Schippers: Die Frage war: Haben die Niederlande den Vorsprung in der Generationspolitik halten können trotz Polder-Modell? Dazu müssen wir zuerst wissen, was das „Polder-Modell„ ist. Vielleicht kennen Sie Holland ein bißchen: wenn Sie durch Holland fahren, dann können Sie im westlichen Teil von Holland die Polder sehen, das sind die grünen Wiesen mit den Kanälen dazwischen und den Mühlen und ringsum Deiche. Das ist sehr spezifisch Holland und deshalb hat auch die Politik, die wir in Holland machen, diesen Namen bekommen. Sie kennen das Polder-Modell: es bedeutet Lohnzurückhaltung; darüber haben die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber sich einigen können in den letzten Jahren und dafür haben die Arbeitnehmer mehr Einfluß bekommen als anderswo. Bei allen wichtigen Sachen in Holland spricht jeder mit: die Regierung und das Parlament, das ist normal, aber auch die Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Über alle wichtigen Dinge ist man im Gespräch miteinander und was dabei rauskommt, wird Politik für die Niederlande.

Im Bereich der Versorgungen gibt es dasselbe: Da sind Finanzgeber und Versicherer, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, aber auch Patienten-, Konsumenten- und Alten - Verbände miteinander im Gespräch über das, was die Pflegepolitik sein soll. Es geht in diesen Gesprächen mehr um Konsens und Arbeitsfrieden; und man sucht weniger Streit um Dinge, auch wenn man die wichtig findet. Ich gebe Ihnen einige Beispiele zum Polder-Modell:

  • In Holland arbeiten wir 36 Stunden pro Woche, damit haben wir Stunden übrig für andere Menschen, die keinen Job haben, um auch eingesetzt zu werden im Arbeitsprozeß.

  • Wir haben auch geringere Lohnerhöhungen jedes Jahr, aber dafür bekommt die Gesellschaft mehr Geld für berufliche Bildung und Weiterbildung der Menschen.

  • Das Polder-Modell schließt Höhe- und Tiefpunkte aus, neigt aber auch zu Vernünftigkeit und Mittelmäßigkeit.

  • Und es bleibt die Frage, ob man ohne Streit einige Fortschritte machen kann; und es ist auch die Frage, ob man ohne Streit bestimmte Ziele erreichen kann.Wir werden das sehen im Laufe dieses Vormittags.

Wir wollen zunächst zurückgehen zu Freudenstadt 1999: letztes Jahr hatten wir gesprochen über den Stand der Generationenpolitik und unter

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anderem darüber, wie das vor 10 Jahren in den Niederlanden war und was die Probleme waren, die 1996 mit dem „Allgemeinen Gesetz für Außergewöhnliche Krankheitskosten„ gelöst werden sollten. Und wir hatten auch gesprochen über heutige Probleme des Funktionierens des AWBZ und über die Notwendigkeit und die Ziele der Modernisierung. Das alles hat stattgefunden in den Jahren 1995 bis heute und das waren all die Jahre des Polder-Modells. Was da herausgekommen ist, ist auch ein Resultat der Politik, die wir gemacht haben. (Wir haben Ihnen eine Übersicht über die soziale Sicherheit in den Niederlanden auf die Stühle gelegt, mit dem neuen Sozialversicherungsbeitrag seit 01.07.2000. Und wir haben auch die Folien ausgelegt zum Mitlesen)

G. Pels: Wie war das vor 10 Jahren in den Niederlanden? Ein Durchgang durch die verschiedenen Versorgungsangebote:

  • Wir hatten zunächst das selbständige Wohnen; da konnte man einfach im eigenen Haus und der gewohnten Umgebung bleiben. Da war die mögliche Hilfe nur eine Mietsubvention - abhängig vom Einkommen und der Höhe der Miete. In Holland kann man eine Mietsubvention beantragen, damit die Leute mit niedrigem Einkommen nicht nur in alten, billigen Häusern wohnen müssen. Sie können auch bis zu einer bestimmten Höhe der Miete umziehen in Häuser, die moderner, neuer und teurer sind. Ich muß aber sagen, in den letzten Jahren ist an der Mietsubvention schon geknabbert worden, es wurde weniger; aber für ältere Leute gibt es immer noch gute Mietsubventionen. Also kann man eine ziemlich gute Wohnung haben, auch wenn das eigene Einkommen nur die Rente, die Basisrente, ist.

  • Altenhilfe, Krankenschwester, Pflegehilfe zu hause war möglich. Man konnte das beantragen, und dann kam einer und guckte die Familiensituation an und sagte, ja hier braucht man schon Hilfe zu hause und da konnte man zum Putzen oder für die Pflege Leute bekommen, die ins Haus kamen, aber das war beschränkt auf dreimal pro Woche, wenn man mehr brauchte, dann mußte man umziehen in ein Heim; und wir hatten damals ziemlich viele, ziemlich große Heime.

  • Wir hatten auch Altenwohnungen, wo schon beim Bau damit gerechnet wurde, daß die Häuser von älteren Leuten bewohnt werden, die hatten z.B. keine Schwellen, waren aber noch nicht „barrierefrei„.

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  • Auch da konnte man bis zu einer bestimmten Höhe eine Mietsubvention beantragen.

  • Danach folgte in dieser Reihe dann das Altenheim; wenn man nicht zu viel Pflege brauchte, konnte man dort ruhiger wohnen, wenn es zu hause nicht mehr ging.

  • Wir hatten auch „Anlehnwohnungen„, wo man noch selbständig wohnen konnte in einer Wohnung, denn in einem Altenheim hat man nur ein Zimmer mit Bett und Kochnische, aber sonst nichts. Anlehnwohnungen waren noch Wohnungen, aber schon ziemlich klein in unseren Augen, nur zwei Zimmer und eine kleine Küche. Aber wenn man sie brauchte, dann konnte man für die Pflege beim Altenheim anfragen und konnte von dort auch Hilfe bekommen.

  • Bei den Experimenten, die es dann gegeben hat, hat man auch „Inlehnwohnungen„ gebaut: wenn es ein ganz großes Altenheim war, hat man Zimmer zusammengelegt und kleine Wohnungen daraus gemacht. Man konnte in diesem Teil dann doch wieder so selbständig wie möglich wohnen, aber wenn etwas passiert, ist man sehr nahe dran und Hilfe kommt gleich.

  • Wir haben Wohn-Sorgekomplexe gebaut, wo man selbständig wohnt, aber wo in dem Komplex, dem eigenen Gebäude oder mehreren Gebäuden nebeneinander doch Hilfe verfügbar ist.

  • Und dann hatten wir Pflegeheime, die damals noch sehr abgeschottet waren mit somatischen und psychogeriatrischen Abteilungen. Pflegeheime waren damals noch Einrichtungen, wo man nicht reinging; besonders, wenn die eigene Familie da war, gab es noch immer hohe Barrieren, da hinein zu gehen. Es hatte immer etwas Schreckliches an sich, etwas, von dem man eigentlich nichts wissen wollte. Das ist in den letzten 10 Jahren ziemlich verbessert worden, das ist viel offener geworden; aber damals war es bestimmt noch nicht gut.

Wir hatten 1996 außerdem gemerkt, daß es doch sehr viele Probleme gab mit den Unterschieden zwischen all diesen Wohn - Formen, mit der Abschottung in Fragen des Umfangs der Hilfe und, wo man die Pflege bekommt. Wenn man mehr Pflege oder Versorgung brauchte, mußte man ins Altenheim oder ins Pflegeheim umziehen.

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  • Und danach ist viel mehr mit Anpassung der eigenen Wohnung gearbeitet worden; egal, wo man wohnte, ob das jetzt eine Eigentumswohnung oder eine Mietwohnung war, Ziel wurde, daß man weniger rasch oder vielleicht gar nicht umzuziehen brauchte.

  • Wir haben ein Gesetz über Anpassungen im häuslichen Bereich und für alles, was mit dem Transport zu tun hat. Man kann einen Antrag stellen und dann wird geguckt, was ist bei diesem Menschen notwendig? Und dann kann man z.B. einen Rollstuhl bekommen oder zusammen mit dem Rollstuhl auch eine bauliche Anpassung in der Wohnung, damit man einfacher damit reinkommen kann.

  • Und es wurde viel gemacht mit angepaßten Taxis und anderen angepaßten Transportmitteln und auch mit Aufzügen, damit man mit so kleinen Geräten die Treppe hoch kann. Aber oft wird auch gesagt, Sie sollten doch besser umziehen in eine Wohnung, wo Sie den Rest des Lebens wahrscheinlich bleiben können.

  • Ab 1990 wurden auch immer mehr angepaßte Wohnungen gebaut. Aber auch wenn eine solche angepaßte Wohnung vorhanden war, dann wurde entschieden, umziehen nur, wenn sehr viele Faktoren da sind, die es nötig machen, umzusiedeln; da es für diese Menschen oft nicht mehr möglich ist, sich selbst an eine neue Umgebung anzupassen, wird dann doch besser die bisherige Wohnung angepaßt.

  • Aber viele Gemeinden - es ist eine Gemeindezuständigkeit - haben das Gefühl, wir haben jetzt doch so schöne Wohnungen gebaut, da muß man erst mal umziehen. Aber das ist nicht für jeden alten Menschen angenehm.

Es gab immer noch Zuständigkeiten verschiedener Behörden und Organisationen, obwohl wir versuchten, etwas dagegen zu tun: Also für die Hilfe zu hause mußte man zu einer Anbieter - Organisation, für die Wohnungs-Anpassung mußte man zur Gemeinde, für die Aufnahme in ein Altenheim mußte man zum Indikationsausschuß, für die Aufnahme in ein Pflegeheim brauchte man ein Attest vom Arzt. Das war sehr unübersichtlich, man mußte die Wege sehr gut kennen; aber es ist oft vorgekommen, daß man eigentlich am falschen Schalter war, um die richtige Hilfe zu bekommen.

Das war das Hauptproblem, aber daneben war auch ein wichtiges Problem, daß es in der Finanzierung Trennwände gab, daß man, wenn man

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etwas bewilligt bekam, nicht einfach sagen konnte, eigentlich sollte ich jetzt ein bißchen mehr von dieser Hilfe haben, und wenn ich das dort und dort nachfrage, dann können die das zusätzlich liefern. Nein, das ging nicht, denn die Finanzierung war unterschiedlich; und das konnte man nicht einfach selbst regeln, das mußte alles mit viel bürokratischem Aufwand geschehen. Und wir haben immer gesagt, es ist schon gut, was man alles bekommt aber es muß einer darauf achten, daß die Hilfe auch wirklich den richtigen Empfänger findet: Wir wollten für die Indikation eine Gruppe von Leuten, die das für alle Versorgungsangebote macht, aber das war damals noch nicht so. Heute haben wir in allen 26 Regionen, die es in Holland nach dem Gesetz über die Krankenhäuser gibt, einen oder mehrere regionale Indikationsausschüsse. Wenn man etwas will, sei es Hilfe zu hause, sei es ein Platz in einem Heim oder vielleicht eben diesen Rollstuhl, dann muß man nur zu dem einen Schalter und von da an wird die Sache dann auf der anderen Seite des Schalters bearbeitet, so daß man nicht hier und dort immer wieder seine Geschichte neu wiederholen muß.

Ein anderes Problem war auch, daß wir für all diese Versorgungen jeweils ein eigenständiges Beitragssystem hatten, das immer wieder große Unterschiede aufwies.

A. Braun: Du meinst Zuzahlungen!

G. Pels: Ja, Zuzahlungen; wir sagen immer Beiträge, das ist vielleicht ein bißchen holländisch. Da hatte man auch das Gefühl, wenn man da und da und da Hilfe bekommt, daß da die Zuzahlungen, zusammen genommen, viel zu hoch wurden, so daß man das dann nicht bezahlen konnte und deshalb nicht beantragen sollte. Jetzt fällt fast alles unter das AWBZ und es wird ausgegangen von einem Gesamtbetrag der Zuzahlungen für alle Hilfen, die man braucht und der ist dann einkommensabhängig. Also wir haben daran gearbeitet und haben für etliche Probleme auch Lösungen gefunden.

H. Schippers: Greet hat eben das AWBZ genannt; ich glaube, daß es jetzt Zeit ist, zu erläutern, was das für ein Gesetz ist. Es geht um die finanziellen Risiken bei Krankheit, die nicht über die Krankenkassen oder die privaten Krankenversicherungen gedeckt sind. Das AWBZ wird finanziert aus

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AWBZ-Beiträgen der Arbeitnehmer; der Beitrag wird erhoben auf ein Einkommen von maximal 48.994 Gulden, das sind 22.234 Euro. Aber es gibt einen beitragsfrei bleibenden Betrag: wenn man nicht so viel verdient, braucht man auch keine Prämien zu bezahlen. Ein 65 plusser zahlt den Beitrag nur auf sein Einkommen soweit es die AOW-(Grund-)Rente übersteigt. Und neben dem Beitrag auf den Lohn muß man außerdem einen vom Lohn unabhängigen nominalen Beitrag bezahlen, aber das hängt ab von dem Versicherer, der etwa noch besondere zusätzliche Leistungen bietet.

Und was ist versichert? Die Pflege und Behandlung in allen anerkannten Einrichtungen wie z.B. Pflegeheimen, Krankenhäusern, Rehabilitationsleistungen, Zuhause-Versorgung, psychiatrische Versorgung und präventive Gesundheitsfürsorge. Jetzt kann man auch die Versorgung in Altenheimen anfügen; das ist im Übergang, aber ich denke im nächsten Jahr sind auch die Altenheime unter das AWBZ gebracht. Versichert sind auch Hilfsmittel, Medikamente und Verbandsmittel etc.

Für die Leistungen aus dem AWBZ muß man einen Eigenanteil zahlen, der einkommensabhängig ist: für verheiratet Zusammenlebende ist es 3300 Gulden, wenn man vor 1997 in eine AWBZ-Einrichtung aufgenommen worden ist, wenn man nach 2000 aufgenommen wird, ist der eigene maximale Beitrag 3670 Gulden. Einkommensabhängig bedeutet, daß nicht jeder gleich viel bezahlt, sondern es davon abhängt, wieviel man verdient.

D. Klettner: Muß man sein Haus verkaufen?

H. Schippers: Nein; nur wenn beide Partner aufgenommen werden, dann kann das so sein, aber wenn nur einer von beiden aufgenommen wird, dann ist auch der Beitrag viel weniger: 220 bis 1150 Gulden maximal für eine Aufenthalt in einem Pflegeheim. (Das steht da auf dem Sheet unten für „Verheiratet Zusammenlebende„.)

G. Pels: Meine Mutter ist gerade im Pflegeheim aufgenommen worden und mein Vater, der ein ziemlich gutes Renteneinkommen hat, muß jetzt 520 Gulden pro Monat dafür bezahlen. Für ihn bleibt auch noch die Miete

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für seine Wohnung zu tragen und so weiter; aber zusammen kann er das dann noch gut zahlen.

H. Schippers: 1999 hat man alle Probleme beim Funktionieren des AWBZ aufgelistet; und wir hatten damals viele Probleme:

  • Es gab einen stark zunehmenden Bedarf,

  • es gab zu wenig Betten in den Einrichtungen; wir hatten wieder Wartelisten,

  • es gab zu wenig Personal und dadurch entstand eine hohe Arbeitsbelastung,

  • wir hatten zu viele Innovationen und Erneuerungen, die man gleichzeitig durchführen wollte, so daß man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen konnte.

  • Wir hatten so viele unterschiedliche Versorgungsangebote, daß es schwierig wurde, herauszufinden, was man benötigt und was gut ist. Es ist auch so, daß die Anbieter von Pflege und Versorgung in der Regel nur ein Produkt zu bieten hatten und auch wenig flexibel waren: Man kommt zu einem Anbieter und dann muß man abnehmen, was er bietet, ob man das braucht oder nicht. Man kann auch nicht nur einen Teil davon abnehmen, das ging nicht, das paßte nicht in das Modell, was wir hatten. Und als man differenzieren wollte etwa zwischen den verschiedenen Versorgungsanbietern, dann bekam man auch Regelungsprobleme: die Gesetze und die Regeln haben das nicht zugelassen. Auch hat man Managementprobleme, wer für was verantwortlich sein soll. Wir werden in Zukunft nachfragegesteuerte Angebote haben, das heißt, der Patient, der alte Mensch, der in eine Einrichtung oder einen Dienst aufgenommen wird, wird als Subjekt behandelt: er sagt, was er will; und das wird geboten, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

  • Probleme hatten wir auch mit der Beherrschung der Kosten. Wir hatten immer zu schmale Budgets für die Versorgungen; wir hatten Probleme rund um Nachfrage und Angebot: was war die Nachfrage und wie würden wir das am besten befriedigen können. Es gab ebenfalls auch eine zunehmende Forderung nach Qualitätsmaßstäben in der Pflege und Versorgung ; auch die Information über die Versorgungsangebote war nicht gut genug und mußte dringend verbessert werden.

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G. Pels: Gerade auch als Patienten - und Konsumenten - Organisation, für die ich arbeite, haben wir da viele Fragen gestellt und immer darauf hingewiesen, daß bei dem ganzen Bereich von Pflege, Versorgung und Hilfe zu hause der Klient im Zentrum stehen sollte. Die Patienten- und Konsumentenföderation als Dachverband hat sehr viele Patienten - und Konsumentenvereine als Mitglieder. Sie hat sich vier Ziele gestellt:

  • Selbstbestimmungsrecht der Patienten;

  • Unterstützung des Patienten im eigenen Lebensumfeld; individuelle Diversität durch flexible Angebote;

  • gerechtfertigte Verteilung: Versorgung ohne Ansehen von Geld und Person; das heißt, daß diejenige, die kein Geld hat, um sich die Hilfe selber einzukaufen, doch auch teilhaben können muß an dem, was angeboten wird. Und die Versorgung soll nach Maß gegeben werden. Die Nachfrage der Patienten oder der Konsumenten steht im Zentrum. Man muß eine unabhängige Indizierung bekommen für das, was man

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    benötigt. Das muß von einer Instanz festgestellt werden, die kein Interesse daran hat, daß man dieses oder jenes Produkt abnimmt.

  • In Holland kennen wir eigentlich fast nur Sachleistungen, aber Geldleistungen sind jetzt im Kommen. Wir kennen dafür das sogenannte personengebundene Budget. Aber es wird noch wenig benutzt, weil man immer Angst hat, daß die Leute das nicht klug ausgeben werden, und daß die Hilfeanbieter darunter leiden, daß ihre Leistungen nicht mehr nachgefragt werden, so daß sie Angebote abbauen müssen. Wenn die Leute dann erst einmal durchgespielt haben, wofür sie ihr Geld alles benutzen können, und wenn sie dann wieder auf diese normalen Anbieter zurückgreifen wollen, dann sagen die, ja wir haben das jetzt gerade abgebaut. Man sieht allerhand Schrecknisse auf diesem Weg. Aber gerade die Patienten- und Konsumentenföderation propagiert das personengebundene Budget sehr.

Unterstützung durch Patienten - und Altenorganisationen heißt, daß die Organsiationen, die es da gibt und die anerkannt sind als Vertreter der Patienten oder Konsumenten, auch direkt diesen älteren Leuten bei der Klärung der notwendigen Hilfen beistehen. D.h. sie helfen ihnen, zu entscheiden, was sie wollen und zu wissen, was möglich ist, und dann noch mal zu überdenken, was sie denn letztendlich wollen. Ich habe z.B. in Südholland einen Kurs entwickeln lassen, wo die Leute in Gesprächsgruppen darüber reden, was sie machen können, wenn etwas passieren sollte. Und wir hoffen, damit zu erreichen, daß die Leute früher als wenn es dringend notwendig wird, darüber nachdenken, wie will ich alt werden, wie will ich und was will ich, daß dann mit mir geschieht. Was kann ich selber dazu beitragen, daß es dann so einfach wie möglich geht und daß ich nicht immer wieder über alle Probleme stolpere.

Andere Organisationen haben Berater; das sind unabhängige Leute - unabhängig von den Leistungsanbietern - die sich an die Seite der Älteren stellen und ihnen helfen, das personengebundene Budget auf richtige Weise auszugeben. Damit die Patienten sich mit ihnen beraten können: bezahle ich eine Hilfskraft, oder probiere ich, ob die ganz großen Firmen mit ihrem breiten Hilfsangebot für mich etwas passendes bieten können. Und das ist jemand, der gelernt hat, mit all diesen Organisationen und Einrichtungen Kontakte aufzubauen und zu vermitteln. Aber es ist immer

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noch nicht so, daß es diese Leute auch tatsächlich in allen Städten und Dörfern gibt. Bis jetzt gibt es sie nur in einer Anzahl von großen Städten, hier und da auch auf dem flachen Land, „im Polder„, aber ausreichend ist es noch nicht.

Zur Notwendigkeit der Modernisierung haben wir dann noch einmal einige Punkte zusammengestellt:

  • Es muß ein nachfragegesteuertes Angebot geben, das sich daran orientiert, was der Patient wünscht und was professionell verantwortlich angeboten werden kann.

  • Wir hoffen auch, daß es einigermaßen Konkurrenz zwischen all diesen Diensteanbietern geben wird. Es sind alles private Unternehmen, die nicht auf Gewinnerzielung aus sind; es sind alles gemeinnützige Unternehmen, aber bis jetzt sind ihre Angebote fast alle gleich. Und da muß mehr Differenzierung kommen; es muß ihnen eine Ehre sein, ihr Hilfsangebot so zu gestalten, daß es sich auch an jeden unterschiedlichen Mensch anpaßt.

  • Und dann erkennen wir auch, daß Verbindungen von Wohnen, Wohlfahrt und Arbeit sehr verbessert werden müssen. Was Arbeit betrifft, denke ich, daß mit den Beschäftigten mehr darüber gesprochen werden muß, wie man seine Arbeit ausführt. Es ist bis jetzt, meinem Gefühl nach, immer noch so, daß man etwas gelernt hat, dann bei den älteren Leuten zu hause arbeitet, oder im Altenheim, oder im Pflegeheim, und einfach tut, was man gelernt hat. Und nicht fragt, wie haben Sie das immer gemacht, und was erwarten Sie von mir, wie ich es hier bei Ihnen machen soll. Ich habe in den Ferien in einem Altenheim gearbeitet und da war ein Mann, der wollte immer zuerst mit dem Tuch alles abgestaubt haben und erst dann durfte ich mit dem Staubsauger umgehen. Andererseits gab es eine Dame, die gesagt hat, ich müsse erst mit dem Staubsauger arbeiten, und weil es dabei hinten so rausbläst, dann nochmals mit dem Tuch alles abstauben. Und ich weiß von damals, daß die Mädchen, die da arbeiteten, nur gesagt haben, die sind doch verrückt. Wir haben gelernt, daß wir erst das machen und dann das und mit all diesen Sachen sollen die uns nicht kommen. Ich war nur Ferienhilfe und zu mir haben die Leute gesagt, ich wünsche es so und so, und sie waren sehr froh darüber. Aber da haben die

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    Mädchen wieder auf mich geschimpft, daß ich das so gemacht habe, denn das wäre so schwierig. Ich hatte es für sie verpatzt, daß war nicht gut. Aber eigentlich denke ich, daß man das so machen sollte. Ein anderes Beispiel: Meine Mutter hat ein Hörgerät und ohne das Gerät hört sie nichts, überhaupt nichts. Wenn man sie ins Bett bringt, dann startet man mit „Ohren raus„. Und dann redet man mit ihr und sagt, was wünschen Sie jetzt? Aber sie hört überhaupt nichts und man denkt befremdet, die Frau reagiert überhaupt nicht, was ist das wohl? Da haben wir gesagt, laßt die „Ohren„ drin und macht das als Letztes. Wenn man ihr dann den Pullover auszieht, dann macht es vielleicht Lärm, aber das hat sie lieber, als daß sie nichts hört. Das haben wir verschiedene Male dem Personal gesagt, aber bis jetzt macht es keiner. Man ist das einfach so gewöhnt, erst das aus, dann das aus, Brille ab, Kontakt weg und dann reden und reden. Und dabei wird man dement, wenigstens in den Augen der Betreuer. Man muß auch mehr darauf achten, was für ein Mensch im einzelnen Fall versorgt werden muß; und ich denke, daß es an vielen Arbeitsplätzen eher darum gehen sollte, als ob tatsächlich alle Stäubchen weg sind. Die Versorgung sozialisieren, in der Gesellschaft verankern, das ist auch wichtig.

  • Damit Versorgung zu hause immer mehr möglich wird, erfordert auch, daß man angepaßte Wohnungen hat, wo die Versorgung oder die Pflege eben auch wirklich stattfinden kann. Wenn man ein zu kleines Badezimmer hat, dann kann man nicht fragen, ob man da noch täglich oder wenigstens ein Mal pro Woche unter die Dusche gestellt werden kann. Wenn man allerhand Möglichkeiten nicht hat, dann kann man auch nicht helfen.

  • Aber Versorgung zu hause verlangt auch von den Älteren, die zu hause bleiben wollen, daß sie ihr Netzwerk von Kontakten in Stand halten oder eben auch erneuern. Wenn man aber im eigenen Haus wohnen bleiben will und die Versorgung oder Pflege tagsüber ein paarmal stattfindet - da kommt einer ins Haus, tut etwas und dann ist man wieder allein - dann ist man gezwungen, sein Netzwerk von Kontakten gut zu unterhalten. Aber ich glaube, daß es bei uns doch noch sehr viele Ältere gibt, die das nicht so machen: die verlangen nur, die wünschen sich nur, aber die machen nicht selber auch noch etwas, damit die Leute Spaß dabei finden, zu ihnen zu kommen. Daß man es z.B. genießt, anzurufen oder, daß man es schön findet, mit diesem Mensch

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    Kontakt zu halten. Ich glaube, da ist auch für Ältere noch eine ganze Welt zu gewinnen.

  • Wenn die Versorgung zu hause nicht stattfinden kann, sind wir der Meinung, daß man dann so nah wie möglich zur bisherigen Wohnung irgendwo aufgenommen werden sollte. Und das heißt, daß es nicht nur diese großen Altenheime geben darf, die wir bei uns hatten, sondern daß es vielmehr verteilt über alle Viertel der Stadt oder im Dorf kleinere Wohnanlagen geben sollte, wo man auch gepflegt werden kann. Dazu muß auch die Wohnumgebung, die Straße und die Sicherheit in diesem Viertel gut sein. Denn wenn man irgendwo schön wohnt, aber Angst hat, auf die Straße zu gehen, ist es auch nicht gut. Aber auch da müssen Ältere selber das gute Vorbild abgeben und dabei bleiben, auf die Straße zu gehen. Glücklicherweise haben wir in Holland noch nicht in allen Straßen Rolladen vor den Fenstern und es gibt immer noch viel Licht auf der Straße, so daß die Leute das Gefühl haben können, daß man irgendwo klingeln kann, wenn man in Schwierigkeiten ist, und daß sie gesehen werden. Aber viele Ältere sagen ja, abends gehe ich nicht mehr aus dem Haus, obwohl fast nie wirklich etwas passiert, wenn sie es doch tun

H. Schippers: Und dann kommen wir zu der Frage, haben wir den Vorsprung gehalten? Ich denke, daß die Antwort nein ist, aber wir werden sehen, wenn wir mit den Folien weitergehen. Das Polder-Modell hat uns vieles gebracht. Wir haben erreicht, daß wir ein ganz differenziertes Paket von Versorgungsangeboten haben und daß für jeden, der irgend etwas braucht, das auch vorhanden ist. Aber wir haben gesehen, daß auch das Polder-Modell uns allen Probleme gemacht hat: zu viele Versorgungen und zu hohe Kosten und auch, daß man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen kann. Aber das ist eigentlich normal, denke ich, weil bei jedem Versuch, die Versorgungen aufeinander abzustimmen, jeder dann auch etwas bekommen muß, was er haben will und was er für wichtig hält. Da kann es sein, daß man zu viele Angebote hat, daß man keine objektive Planung gemacht hat und daß man nicht sorgfältig genug nachgeprüft hat, ob alles wirklich nötig war. Das Polder-Modell hat uns auch die Ziele und die Lösungen gesetzt, die wir eben dargestellt haben. Aber ich denke, wenn wir nach den Problemen und auch nach den Zielen fragen, daß wir noch vieles zu tun haben in Holland. Die meisten Niederländer

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sind aber der Meinung, daß wir ein ausgezeichnetes Paket von Versorgungen haben und daß wir noch immer Spitze sind in Europa; aber ich denke nicht, daß wir das noch behaupten können, wenn wir sehen, was alles in diesem Moment vorhanden ist. Wir haben in den letzten Jahren, denke ich, zu wenig mit der Vergreisung gerechnet und auch zu wenig auf die Wünsche der Patienten geachtet. Die letzten Jahre war die Beherrschung der Kosten, die Budgetierung und auch die Planung von Budgets wichtiger und es ist weniger um die Versorgung von Menschen gegangen in diesem Land und man hat auch nicht eine soziale Planung gemacht, wie wir sie wirklich nötig hätten.

Zum Beispiel die Vergreisung: Man hat schon vor 15 Jahren in Holland gesagt, daß alte Menschen länger zu hause bleiben werden; das wollen die Menschen, das müssen wir auch möglich machen. Man hat dann auch entschieden, daß dadurch die Altenheime nicht mehr so nötig sind und hat entschieden, da abzubauen. Man hat aber die Erfahrung gemacht, daß die Familie, die Versorgung, die nötig ist, nicht leisten kann. Das müssen die Familien auch nicht in Holland, aber Familien müßten mehr tun, aber sie können das nicht. Und man hat auch die Erfahrung gemacht, daß die Zuhause - Versorgung, die den Menschen zu hause helfen soll, zu wenig im Stand ist, das zu tun. Sie haben zu wenig Budgets, aber auch weil die Zuhause - Versorgung schlecht organisiert ist, konnte sie die neuen Probleme und die vielen Hilfeanfragen nicht gut anpacken. Und es hat auch Situationen gegeben, daß der Bau von Pflegeheimen nicht so schnell vor sich ging, wie man hoffte und wollte. Und das alles hat uns in die Situation gebracht, daß wir in Holland jetzt große Probleme haben mit Wartelisten für Pflegeheime und Altenheime und auch für die Zuhause - Versorgung.

Wenn man sich die Nachfrage der Patienten ansieht, kann man sehen, daß mehr Herzoperationen gemacht werden, nicht nur, wenn es unbedingt nötig ist, sondern auch, wenn es besser ist. Zum Beispiel eine Herzoperation, um den Mann oder die Frau besser in Kondition zu halten für die Versorgung des anderen Partners. Greets Vater hat auch schon eine Herzoperation gehabt, so daß er noch Jahre seine Frau unterstützen kann.

Wir haben auch in Holland viele Staroperationen; bisher war das so, daß man eine Operation bekommen konnte, wenn die Einschränkung der Seh-

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fähigkeit 60 Prozent beträgt. Heute kann man eine Staroperation bekommen, wenn das 40 Prozent sind. Das hat auch ein bißchen mit dem Slogan „Opa will auch Auto fahren„ und später „Opa und Oma wollen auch ins Internet„ zu tun, denn da müssen sie gut sehen können. Auch hier haben wir das Problem, daß wir mehr tun wollen, aber weniger tun können von der Krankenhaus- Kapazität her: Auch hier haben wir die Probleme von Wartelisten für Krankenhäuser.

Ich habe gelernt, daß die Niederlande und Großbritannien die einzigen Länder in Europa sind, die das Phänomen Wartelisten kennen, und es ist in Holland im Augenblick ein sehr großes Problem. Also wir haben einige Dilemmata. Im Fall mit den Krankenhäusern und den Operationen muß man wählen zwischen mehr Menschen helfen und Menschen früher helfen, das kostet viel mehr Geld, da muß man entscheiden, wofür man das Geld hat. Und in Holland muß man auch noch entscheiden, ob das Geld zu den Krankenhäusern, zu den Pflegeheimen oder zu den Behinderteneinrichtungen geht. Und überall hat man Probleme mit Wartelisten und so haben wir jetzt eine große Diskussion über das Geld, was wir für die Versorgung einsetzen.

Wir haben weniger investiert als andere Länder und sind dadurch in Rückstand gekommen. Das haben wir jetzt zur Kenntnis zu nehmen, aber nicht alle Menschen in Holland, die das wissen sollen und dafür etwas tun können, wissen das. Die Probleme nehmen zu, nicht ab; das ist sehr merkwürdig, weil wir in Holland ein reiches Land sind und viel Geld dafür aufwenden. Und ich merke, daß die politische Spannung über dieses Problem auch zunimmt und erfahre in dem Ministerium, wo ich arbeite, auch einen sehr starken Druck, etwas zu tun, damit Wartelisten nicht mehr vorkommen müssen in Holland. Ich bin sehr gespannt, wie die Diskussion abläuft, weil auch das Fernsehen in Holland für Mitte November eine große Diskussion darüber angekündigt hat und ich denke, daß das eine scharfe Attacke auf die Ministerin und das Ministerium geben wird. Also die Probleme sind bekannt aber wir haben große Mühe, die Probleme auch miteinander schnell aufzulösen.

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G. Pels: Aber bei uns gibt es auch eine Koalitions-Regierung, die eher sagt - das heißt der liberale Teil -, wir wollen eine Senkung der Lasten für alle Leute statt dieses Geld einzusetzen für die Versorgungsangebote.

H. Schippers: Das ist das Polder-Modell, Liberale und Sozialisten sind zusammen, jeder muß etwas bekommen, irgendwo dazwischen vielleicht. Jetzt zeige ich die Wartelisten, von denen wir gesprochen haben. Man kann sehen, daß die Wartelisten in den Krankenhäusern in den letzten 4 Jahren um 13.000 zugenommen haben von 78.000 auf 91.000. Die Altenheim - Plätze wurden abgebaut von 1986 bis jetzt um 35.000 Betten, das ist ungefähr ein Viertel. Und wenn man guckt nach der Warteliste für Pflegeheime, dann haben diese in den letzten vier Jahren auch zugenommen um 3.200 von 5.800 auf 9.000. Und das in einer Situation, wo in Holland wie in anderen Ländern auch die Altersbevölkerung zunimmt.

U. Francke: Wie lange muß man in etwa warten z.B. bei den Krankenhäusern, wie lange muß man warten bei den Heimen?

H. Schippers: Bei den Krankenhäusern sind es 2, 3, 4 Monate und in den Pflegeheimen kann es auf von 3 bis 4 Monaten bis zu 6 bis 8 Monate dauern.

U. Francke: Der Anteil der alten Menschen an der Bevölkerung ist wie groß?

A. Braun: 16 Prozent, also Holland ist eines der „jüngeren„ Länder.

G. Pels: Wir vergreisen schon, aber nicht zu schnell. Es gibt sehr große Unterschiede pro Stadt, pro Region, es gibt immerhin noch Städte, wo die Vergreisung kaum 10 Prozent beträgt, aber es sind meistens neu gebaute oder sehr weit ausgedehnte Städte. In Amsterdam und Rotterdam sind es 20 Prozent; da ist es also ein großes Problem; und es gibt andere Plätze, wo es 15 Prozent sind, da ist es ziemlich normal.

A. Braun: Also wenn es jetzt nicht das letzte Mal wäre, würde ich eine Prämie aussetzen, wenn Ihr nächstes Mal Alterung sagt statt Vergreisung.

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G. Pels: Alterung. Ja, wir sagen einfach Vergreisung in Holland.

A. Braun: Ich finde den Lernprozeß ja auch immer ganz spannend, wenn man merkt, daß andere Formulierungen benutzen, die man eigentlich in der eigenen Sprache nicht benützt.

G. Pels: Aber wir haben das Problem, daß auch die Wörterbücher diese Wörter nicht vorsehen, da können wir nicht einfach nachschlagen. Alterung, ja.

Wir haben noch einige Zahlen im EUROSTAT gefunden und da ist auch Holland wieder weniger außergewöhnlich und weniger Spitze, als wir selber gerne meinen. Um auf den Durchschnitt Europas zu kommen, bräuchte man in Holland 65 Prozent mehr medizinische Spezialisten, das ist ziemlich viel, und 50 Prozent mehr Hausärzte und 14 Prozent mehr Geld. Das heißt also, daß die Hausärzte z.B. in Holland sehr viel zu tun haben; und daß man sich eigentlich nicht wundern muß, wenn es mal vorkommt, daß er nicht immer gleich auf jeden Telefonanruf hin ins Auto steigt am Wochenende und nachsehen geht. Man sollte das schon tun, aber wenn man liest, wieviel Patienten der Hausarzt bei uns verhältnismäßig hat, kann man sich denken, daß er ab und zu schon sehr müde ist und denkt, ich bleibe zu hause. Er sollte es aber nicht! Wir sehen, daß es in Belgien und Frankreich 1,5 Hausärzte pro tausend Einwohner gibt, in Deutschland einen und in Holland einen halben. Und da wir nicht das Gefühl haben, daß Holländer extrem gesund sind, muß das also sehr viel Arbeit sein für einen Menschen. Die Qualität ist schlechter als in Belgien, Deutschland, Frankreich, Japan, United States of America.

Zwischenfrage: Wie wird das verglichen?

G. Pels: Keine Ahnung, es sind Ziffern von unserem statistischen Büro.

H. Schippers: Das sozialkulturelle Planbüro hat die Ziffern verglichen, aber man muß auch sehen, daß die Vergleiche davon abhängen, was für Ziffern man aus anderen Ländern bekommt. Wartelisten kennt man nicht in Deutschland, hat man gesagt, aber hier höre ich, daß man die auch dort

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kennt. Aber es ist vielleicht möglich, daß es in Deutschland darüber keine statistischen Berichte gibt, das ist ein Problem.

A. Braun: Dieselben Zahlen werden bei uns in der sogenannten Bench-Marking-Gruppe - das ist ja die Eurem Dreiecksgespräch Arbeitgeber, Regierung, Gewerkschaften nachempfundene Formation beim deutschen „Bündnis für Arbeit„ - folgendermaßen interpretiert. Die Holländer haben ein Versorgungsniveau, das nicht schlechter ist als unseres, und das schaffen die mit sehr viel weniger Ärzten, da müssen wir auch hin. Das ist unsererseits die Interpretation.

H. Schippers: Ja, da sieht man wie man aus welcher Interessenlage die Ziffern und die Vergleiche anguckt.

G. Pels: Aber immerhin steht fest: wir wenden weniger Geld für Gesundheitsleistungen auf als die anderen Länder. Die Lebenserwartung ist jetzt höher in Belgien, Frankreich und Japan; 1960 war Holland noch an der Spitze und wir wissen leider nicht, warum das jetzt nicht mehr so ist. Es sei denn, die anderen haben viel mehr investiert in die Gesundheitsvorsorge, aber in Frankreich kann ich mir das auch nicht ganz denken. Nur die Ziffern weisen das im Ergebnis so aus.

Zwischenruf: In Frankreich wird auch mehr Prävention gemacht von Kindergarten und Schule an!

H. Schippers: Wir haben noch einige Vergleiche gezogen. Wenn wir nach den Spezialisten fragen, dann scheint Holland irgendwo in der Mitte zu sein, bei den Kardiologen auf dem 8. Platz von 15 Euroländern, bei den Herztransplantationen auf dem12. Und das geht so ähnlich bei allen Spezialisten, die man untersucht hat. Und man war ein bißchen erschrocken, daß die Niederlande so in der Mitte stehen. Das sozialkulturelle Planbüro hat diese Vergleiche in diesem Jahr gemacht, um auch die Diskussion um die Versorgung in Holland etwas voranzubringen.

Wir haben viel Ferien in Holland, aber wir geben weniger Geld dafür aus. Wenn es ums Wohnen geht, dann haben wir in Holland wenig Elendsviertel, aber auch keinen Luxus im Wohnungsbau, die Unterschiede sind nicht

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so groß. Wir haben es eben ein bißchen zu tun mit dem, was wir „den bremsenden Vorsprung„ nennen; wir waren an der Spitze und dann hatten wir ein bißchen Pause gemacht. Es ging uns gut, wir brauchten nicht so viel zu tun; andere Länder haben versucht, den Abstand zu verkleinern, haben gut investiert, tüchtig gearbeitet und haben uns dann eingeholt. Jetzt sind wir nicht mehr an der Spitze, aber irgendwo in der Mitte gelandet. Wir haben eine hohe Frauenbeschäftigung, aber wir haben einen schlechten „Kinderauffang„, das zeigen die Ziffern.

Und was auch so ein bißchen schrecklich war für viele Holländer, wir betrachten uns als sehr gastfreundlich, aber über Minderheiten in Holland urteilen wir negativer als wir zugeben, und das ist ungefähr wie in Österreich, hat man herausgefunden; in der heutigen Zeit hören das viele Holländer nicht gerne.

Aber, wie gesagt, hat das Planbüro die Vergleiche gemacht und die haben ausgewiesen, daß wir nicht so besonders sind, wie wir denken, und auch, daß die Leistungen, die wir gewähren, deutlich zurückbleiben hinter dem, was wir selber meinen. Wir denken, daß wir besser sind als wir es tatsächlich sind, aber ich habe eben schon gesagt, daß Vergleiche schwierig sind: z.B. hat Dänemark die höchsten pro-Kopf-Einkommen, aber mit 67 Jahren auch die höchste Altersgrenze für die Rente, die höchste Erwerbsbeteiligung von Frauen und Männern, aber auch für alle Kinder Plätze in Betreuungseinrichtungen.

Man kann da etwas bei den Problemen mit den Wartelisten tun: wenn man sie auch hier in Deutschland hat, dann sieht es für uns ein bißchen besser aus, aber damit haben wir nicht das Problem der langen Wartelisten in Holland gelöst.

Dann haben wir noch einige Folien, die wir vielleicht etwas schneller passieren lassen können, weil es auch möglich ist, das nachzulesen. Wir haben hier einen Vergleich über die Arbeit abends und nachts, samstags und sonntags; unter dem Durchschnitt liegen Österreich, Italien, Belgien, Deutschland und die Niederlande, alle anderen Länder liegen darüber. Ich weiß nicht, wie wir das interpretieren sollen, aber in Holland und vielleicht auch in Deutschland arbeitet man weniger am Wochenende; wir kennen

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in Holland auch keine Doppeljobs, daß manche Leute einen Job haben in der Woche und dann am Wochenende noch etwas dazu verdienen. Wir haben viel Freizeit und es gibt auch eine bedeutende Freizeitindustrie und auch viele Arbeitsplätze dort; und das sind dann die Menschen, die am Wochenende arbeiten. Interessant ist auch die Arbeitszeit pro Jahr bei den Männern, da sehen wir, daß sie in den Niederlanden, Belgien und Deutschland viel weniger pro Jahr arbeiten, als die Männer in Portugal, Schweden und Großbritannien. Gestern haben wir gehört, daß in Großbritannien eine Arbeitswoche von 42 Stunden gilt, Holland hat normal 36 Stunden pro Woche.

G. Pels: Und es ist damit verglichen sehr schön, daß wir dann doch so reich sind, obwohl wir so wenig arbeiten.

H. Schippers: Und dann haben wir noch etwas über die Emanzipation: Männer und Frauen in Holland arbeiten und versorgen die Kindern ungefähr gleichmäßig. Und Männer haben dann auch ebensoviel Freizeit wie die Frauen in Holland. Aber wenn man das vergleicht in Europa, dann kann man sehen, daß in Deutschland die Männer 8 Prozent mehr Freizeit haben als die Frauen und in Italien, da sind es 36 Prozent, vielleicht hat das ja was zu tun mit der Macho-Kultur, man kann ja nie wissen.

A. Braun: Für den Gleichstand bei Freizeit und Arbeit zwischen Männern und Frauen spricht auch, daß die Niederlande den höchsten Anteil von Männern in Teilzeit haben; der ist ein mehrfaches höher als in anderen Ländern. Und das spricht schon dafür, daß eine andere Arbeitsteilung da ist.

H. Schippers: Und dann etwas darüber, was das sozialkulturelle Planbüro die Mittelmäßigkeit bei Bildung und Ausbildung nennt. Wir haben in Holland wenig investiert in Unterricht; wir investieren ein Prozent unter dem Durchschnitt in Europa, aber die Leistungen in unserem Unterricht sind prima, hat man gefunden. Wir investieren in Hochschulen viel, 25 Prozent über dem Durchschnitt Europas, aber das heißt, daß wir in den anderen Unterrichtsformen weniger investieren. Und wir haben die meisten universitär gebildeten Menschen in Europa. Bei uns sind Kenntnisse weit verbreitet, hat man gefunden, aber der Kenntnisstand hat selten Topniveau.

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Die Dozenten haben die größte Anzahl Studenten in den Vorlesungen, am meisten Stunden pro Woche, sie arbeiten auch viel.

G. Pels: Es gibt weniger Dozenten als anderswo..

A. Braun: Die Relation Studenten/ Dozenten ist sehr hoch.

H. Schippers: Ich habe mich ein bißchen gewundert, warum wir so wenig investieren in Bildung und Ausbildung, denn das ist in der Diskussion über Versorgung und Pflege doch auch ein Problem. Daß man für Bildung mehr Geld braucht und mehr investieren will, ginge dann ab von der Versorgung. So läuft im Augenblick die Diskussion über mehr Versorgung in Holland; das werden heftige Monate für das Kabinett im Polder-Modell.

G. Pels: Man streitet sich eigentlich immer nur über die Verteilung des vorhandenen Geldes, statt daß man neues Geld reinholt oder das, was man übrig behalten hat, hinzufügt. Man will das Geld immer wieder zurück an die Bürger geben; die klagen jetzt alle über die hohen Benzinpreise; damit das wieder etwas abnimmt und die das besser bezahlen können, hat unsere Tanksteuer wieder eine Reform erlebt; und nächstes Jahr wird für die Leute mit kleinem Einkommen ein besseres Jahr werden, weil sie weniger Steuer bezahlen müssen.

Aber wir haben als Sozialisten immer das Gefühl, man sollte besser das Geld nicht an die Leute zurückgeben, sondern das Geld in den Unterricht und die Versorgungen stecken. Und ein Problem mit Wartelisten z.B. für die Zuhause - Hilfe ist, daß man einfach keine Leute findet, die diesen Beruf machen wollen. Es ist jetzt genügend Geld da und nun gibt es die Leute nicht. Und das heißt auch, daß das Bild von diesem Beruf, daß es ein schöner Beruf sei, nicht ausgeprägt ist und daß er auch nicht so bezahlt wird, daß er eine Anziehungskraft hat.

H. Schippers: Und dann die vorletzte Folie über die Arbeitsunfähigkeit bzw. Invalidität. Es gab in den letzten Jahren eine Diskussion, daß zu viele Menschen in Holland arbeitsunfähig sind. Und ich habe gelegentlich gehört, daß man bei uns sehr schnell für arbeitsunfähig erklärt werden kann und dann in einer eleganten Position ist, weil man so viel Geld bekommt,

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daß es geradezu Luxus ist. Aber das ist nicht so; sondern wir haben hier gefunden, daß die Niederlande doch eine der gesündesten und am tüchtigsten arbeitenden Nationen ist. Man kann auch das sehen, was das sozialkulturelle Planbüro die Inaktivitätsrate nennt, das heißt wie viele Leute in Prozent der arbeitenden Menschen bekommen eine Sozialleistung. Und wenn man das nachsieht, dann sieht man, daß in den Niederlanden auf 100 Menschen, die erwerbstätig sind, 33 Menschen entfallen, die Sozialleistungen erhalten. Und das sind in Belgien, auch in Deutschland und Großbritannien viel mehr. Das heißt, daß die Niederlande nicht so viele Menschen haben, die nicht arbeiten im Vergleich mit anderen Ländern. Das hängt auch ein bißchen damit zusammen, daß wir eine Arbeitsunfähigkeits-Gesetzgebung haben, in die wir z.B. auch junge Behinderte aufgenommen haben; das sind 12.000 junge Behinderte, die doch in der WAO eine bessere Position haben als in anderen Ländern; dort sind es Menschen, die in der Sozialhilfe sitzen. Und dieser Vergleich ist meiner Meinung nach besser als der Vergleich, wie viele Menschen arbeiten und wie viele Menschen nicht arbeiten können.

Und dann haben wir zuletzt etwas aufgeschrieben über das Urteil, das wir über die Eingangsfrage abgeben wollen. Ich denke nicht, daß wir noch Spitze sind; aber es bleibt dabei, daß viele Menschen in den Niederlanden es nicht glauben: Man denkt noch immer, daß wir Spitze sind. Politisch ist man überzeugt, daß viel getan werden muß, und ich denke, daß wir den „bremsenden Vorsprung„ schon ein bißchen hinter uns gelassen haben; wir sind jetzt zur Mitte gerutscht und wollen wieder nach vorne kommen, und dafür muß man streiten in Holland. Aber das geht ein bißchen gegen das Polder-Modell. „Man spricht miteinander und der Konsensus ist das richtigste und wichtigste„. Ich denke, daß Streit wieder ein bißchen mehr im Vordergrund stehen soll, damit wir auch ein bißchen besser werden als wir es in diesem Moment sind. Aber es kann noch besser werden, als wir bisher gedacht haben, daß es in Holland sei. Danke.

A. Braun: Herzlichen Dank an Euch beide. Mich hat es ja gefreut, daß meine dumme Frage dazu geführt hat, daß Ihr mal genauer nachgeguckt habt, wie das denn mit Eurem im Konsens erreichten Vorsprung in einzelnen Punkten aussieht. Und Ihr seid dabei ja offenbar zu Ergebnissen gekommen, die wir bei Euch letztes Jahr so nicht hätten abfragen können.

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Es ging ja nun nahe an einer Selbstkasteiung vorbei; aber ich finde schon, wenn man so etwas macht, wie wir es hier seit 10 Jahren machen, nämlich gucken, wie machen es andere und wo sind die geballten Probleme und wo sind die eleganten Lösungen, daß es einem da ganz gut ansteht, wenn man sein eigenes System nicht immer nur propagandistisch betrachtet und sagt: Wir müssen einfach Spitze sein, weil wir das schon seit 100 Jahren so machen und weil wir das erfunden haben, wozu die Deutschen ja offenbar von Natur aus etwas neigen.

Gibt es Nachfragen?

Judith Berger: Sie haben einen Punkt ausgelassen, der uns hier im Moment große Probleme macht. Wie hoch ist der Anteil der dementen Patienten, also Alzheimer und ähnliches, in Ihren Pflegeheimen, und wie wird damit umgegangen? Wieweit trägt die Versicherung das und wie werden diese Personen gesehen und behandelt?

G. Pels: Ich habe keine präzise Zahl. Bei uns wohnen 7 Prozent der älteren Bevölkerung in einem Pflegeheim; das ist nicht sehr viel, aber von diesen 7 Prozent sind der größere Teil Demente, Ältere, die in eine psychogeriatrische Abteilung aufgenommen sind. Daneben gibt es viele Leute mit beginnender Demenz; die werden oft in Tagesstätten aufgefangen und sind nachts zu hause. Aber dies alles wird aus dem AWBZ finanziert.

J. Berger: Also wir haben das Problem mit inzwischen so im Durchschnitt 60, ich höre manchmal auch schon 65 Prozent Anteil von Dementen in Pflegeheimen. Und unsere Pflegekasse übernimmt das bis jetzt nur in unzureichendem Maße, so daß die Pflege die Pflegekräfte weit überfordert und sie eigentlich nicht mehr zurecht kommen mit ihrem Deputat. Das war eben meine Frage; aber wie ich gehört habe, wird das bei Ihnen übernommen.

G. Pels: Das ist auch ein Problem, denn wir haben da ganz lange Wartelisten. Wir haben einfach nicht genügend Plätze in diesem Moment, aber man weiß auch nicht, wie groß diese Anzahl von Plätzen sein muß, ob man nicht doch noch etwas tun kann, damit die Leute doch solange wie möglich zu hause bleiben können. Dies ist einfach ein Problem, was wir noch nicht gelöst haben. Aber wenn anerkannt ist, daß jemand dement

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ist, wird das Geld dafür zur Verfügung gestellt in Form von Sachleistungen.

J. Berger: Aber Sie haben auch das Problem der Pflegekräfte, wie auch wir hier, wobei wir ja jetzt eine bundeseinheitliche Ausbildung haben, seit 4 Wochen.

A. Braun: Seit gestern klagt die bayerische Sozialministerin dagegen. Aber unsere Probleme sind nicht ganz vergleichbar: Wir haben seit dem Pflegeversicherungsgesetz diese Aufdröselung der Leistungen in einzelne Tätigkeiten, einzelne Verrichtungen, und die Summe dieser Verrichtungen ergibt dann das Entgelt, das der, der pflegt, oder die Einrichtung, die pflegt, dafür kriegen kann. Das ist in Holland noch nicht so, die haben noch unser altes Tagessatzmodell, bei dem der Betroffene dann so und soviel zu bezahlen hat bei dem und dem Einkommen; also die Problemlage ist dort noch eine andere.

D. Klettner: Sie haben davon gesprochen, daß bei rechtzeitiger Operation z.B. beim Star die Kosten oder die Unkosten wahrscheinlich geringer sind für den Menschen im Ganzen, als wenn er das erst viel später macht , sich viel später operieren läßt. So habe ich das verstanden. Zweitens möchte ich noch sagen oder fragen, Sie haben von vieler Freizeit gesprochen, aber von wenig Geld, das für die Freizeit ausgegeben wird von den Einzelnen. Aber wenn man in der Ferienzeit über die Autobahnen in Deutschland fährt, dann merkt man das eigentlich nicht.

A. Braun: Niederländische Wohnwagen sind billiger als deutsche Fernflüge.

G. Pels: Das letzte ist sehr einfach. Wir machen das immer schon so: sehr weit und sehr lang, aber auf die billigste Weise. Man spricht darüber, daß die Holländer so geizig sind, die geben nicht viel Trinkgeld, die geben überhaupt nicht zuviel Geld aus und die bringen alles von Holland mit, wo es doch billiger ist. Wir beide nicht, aber wir gehen auch mit dem Wohnwagen in Urlaub.

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H. Schippers: Zu den Staroperationen: Man konnte früher, vor einigen Jahren, eine Staroperation bekommen, wenn ein Augenarzt festgestellt hatte, daß man noch 60 Prozent sehen kann; und jetzt ist das zurückgenommen worden auf 40 Prozent. Also mehr Menschen wird geholfen. Man kann jetzt mehr Menschen helfen und dies wird auch bezahlt; es braucht eine Indikation für die Operation; es gibt auch lange Wartelisten, aber das wird sich schnell einspielen, weil die Operation eine Tagesoperation ist. Und das hat man getan für die vielen Menschen, die doch im Alltag darunter leiden: deren Leben kann dann doch ein bißchen besser werden auch im Hinblick auf die Versorgung.

G. Pels: Es ist schon so, daß wir denken, daß damit das Leben für diese Leute auch billiger wird, weil man nicht auf Hilfe angewiesen ist, weil man länger selber etwas machen kann. Es bleibt aber eine Wahlentscheidung, ob man schon so früh einen Eingriff vornimmt. Es kostet die Krankenhäuser Geld, deren Budget ist erhöht worden. Aber man kann auch wählen, sich entscheiden, daß das Budget einer anderen Stelle, z.B. einem Pflegeheim gegeben wird. Es muß immer entschieden werden, wo stellen wir das Geld zur Verfügung. Wir nehmen immer dasselbe Geld, was wir dann irgendwo einem anderen Platz zuteilen; das geht erst seit dem letzten Jahr. Und wir sind froh, daß wir es jetzt so benutzen können, aber es ist auch deutlich, daß wir schon neues Geld für den Abbau der Wartelisten benutzen müssen und daß das im Vergleich mit dem Reichtum von Holland eigentlich nur sehr wenig wäre.

K. Weller: Sie schreiben hier von dem Selbstbestimmungsrecht der Patienten. Wie wird es in Holland gehandhabt, wenn ein Patient dazu nicht mehr durch Krankheit oder Unfall in der Lage ist? Haben Sie Patientenverfügungen bzw. auch wie wird die Sterbehilfe in Holland behandelt?

G. Pels: Das sind aber sehr viele Fragen in einer. Und ich kann diese nicht alle beantworten. Wir haben jedenfalls noch ein Gesetz, daß es verboten ist, aktiv den Tod herbeizuführen, und damit besteht für die, die nicht mehr selbst eine Entscheidung dazu treffen können, auch keine Gefahr, daß es von Ärzten oder von Familie leichtfertig beschlossen werden könnte. Es gibt aber sehr viele Probleme damit im Reden von Menschen, im

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Nachdenken darüber; und wir sind uns als Land darüber nicht einig. Es gibt sehr viele verschiedene Meinungen dazu.

H. Schippers: Wir hatten in Rheinmund im Patienten- und Konsumentenverband auch eine Diskussion darüber, daß man für viele Menschen am Ende des Lebens die palliative Versorgung verbessern sollte, mit Ehrenamtlichen und mit Ärzten. Es ist eine große Diskussion heute, weil das noch nicht so lange als ein Problem erkannt ist. Wir kümmern uns darum und hoffen, daß wir da etwas tun können, was die Lage dieser Menschen erleichtert und auch die anderen Menschen, die damit zu tun haben, die Familien, unterstützen kann.

U. Kruse: Ich habe noch eine kurze Frage: Sie haben bei den Defiziten erwähnt, daß auch Sie Kräfte für die Pflegeheime suchen und zu wenig finden. Dies ist auch bei uns so. Die Frage ist, haben Sie Möglichkeiten, um die Motivation der tatsächlich vorhandenen Kräfte zu erhalten, weil ja die Fluktuation sehr groß ist, weil die Arbeit sehr schwer ist, und ein Erfolg im Sinne einer Genesung ja nicht vorhanden ist. Das ist bei uns immer bei den Fachkräften das Problem.

G. Pels: Soweit es möglich ist, sind wir dabei, Beschäftigten z.B. in Pflegeheimen die persönliche Verantwortlichkeit bei der Arbeit in einer Gruppe, die zusammen verantwortlich sind für eine Abteilung, so zu gestalten, daß die Arbeit mehr Abwechslung bringt: nicht so, daß die einen nur Patienten waschen und die anderen nur die medizinischen Eingriffe machen, sondern daß man eher ein Gesamtkonzept von Arbeiten im Pflegeheim voraussetzt. Wir haben jetzt eine große Kampagne gehabt, wo jeder Mensch in Holland im Briefkasten eine schöne Zeitung gefunden hat, in der man den Beruf einmal vorstellt, mit allen schönen und allen weniger schönen Seiten. Damit versucht man wenigstens, mehr jüngere Leute dafür zu gewinnen, aber auch wissen zu lassen, um was es geht, denn, wenn man keine alte Oma hat oder keinen alten Opa, der davon betroffen ist, dann weiß man überhaupt nicht, was in einem Pflegeheim passiert. Wenn man jung ist, weiß man vielleicht etwas über Krankenhäuser, aber die Arbeit in der Altenpflege kennt man eben überhaupt nicht. Was man kennt, ist alles, was mit Computern und mit Informationstechnologie zu tun hat, aber

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die Pflege kennt man kaum. Und da hat man jetzt wenigstens erreicht, dieses Arbeitsfeld bekannt zu machen. Aber beim Geld, den Arbeitsbedingungen und der Bezahlung, da denke ich, könnte man noch wesentlich etwas verbessern.

H. Schippers: Ich denke auch, Kinderbetreuung ist in Holland nicht so weit verbreitet wie in Dänemark z.B. Und es gibt Probleme für wieder in die Arbeit eintretende Frauen ,wenn sie keine Kinderbetreuung finden. Ich denke, daß auch das Management von Versorgung und von Pflegeheimen viel besser werden und sich auch viel besser darauf einstellen müßte, was Menschen, die dort arbeiten, brauchen an Unterstützung. Und wie es gehen kann, wenn man im Verbund etwas tut für die Versorgung. Da kann man noch viel erreichen, es ist noch keine gängige Diskussion in Holland, aber ich denke, daß man das tun sollte.

U. Francke: Ich möchte noch mal zum Thema Wartelisten kommen, das ist nämlich eines, was mich auch sehr beschäftigt hier in meiner Arbeit und ich denke auch ein ganz zentrales. Bei uns zeigt sich in dem Maße, in dem wir fordern, daß die Einrichtungen eine Auslastung von 100 oder besser 110 Prozent haben, haben die natürlich keinen Spielraum, irgendwann schnell jemanden aufzunehmen. Das heißt wir haben da einen Bereich, wo es darum geht, neue Einrichtungen, Zwischeneinrichtungen zu schaffen, um das irgendwie anders zu organisieren. Und meine Frage ist, gibt es da Ansätze, wenn Sie sagen, Sie sind dran an diesen Wartelisten, ich denke, es ist einfach ein ganz aktuelles Thema, was man vielleicht noch mal diskutieren könnte auf einem nächsten Forum.

J. Berger: Ja, meine Frage geht dahin, wie sieht die Arbeit der Fachkräfte z.B. in Pflegeheimen, Krankenhäusern aus in Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen, mit volunteers. Gibt es da eine gute Verbindung oder ist das noch nicht so weit gediehen?

H. Schippers: Ich denke, daß die Wartelisten in allen Versorgungsbereichen da sind und daß man Wartende nicht mehr weiterreichen kann zur Zuhause - Versorgung, die haben auch Wartelisten. Und ich denke, daß das erste Problem Geld für mehr Arbeitsplätze ist. Dann muß man auch in der Versorgung selbst anders arbeiten. Es ist noch immer so, daß in Hol-

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land viele Krankenhäuser eine Warteliste haben, weil das bedeutet, daß sie Argumente haben für mehr Geld für ihr Krankenhaus. Wir haben auch Wartelisten untersucht, und da sieht man, daß viele Personen auf diversen Wartelisten stehen. Das ganze Problem ist nicht geklärt, aber trotzdem will man in diesem und im nächsten Jahr ein Ende machen mit den Wartelisten in Holland. Wie das geschehen soll, das weiß ich nicht genau, aber es geht um diese Probleme, die jetzt genannt sind und auch um das Management der Behörden bei den Krankenhäusern. Man könnte viel besser und auch viel mehr zusammen arbeiten.

G. Pels: Ob man das kann, weiß man nicht, aber man hat vom Ministerium aus eine Gruppe Leute angestellt, die sich als Wartelisten - Spezialisten durch das ganze Land arbeiten und auch nach unkonventionellen Lösungen suchen. Wenn irgendwo einer eine Idee hat, wird er gebeten, das einzuschicken, damit man nicht nur auf diesen schon bekannten Wegen bleibt. Aber Ehrenamtliche in Pflegeheimen, Altenheimen kennen wir schon sehr lange und die werden auch ziemlich benötigt. Ohne Ehrenamtliche könnte man das überhaupt nicht mehr zustande bringen, was geschafft werden muß. Und man ist immer sehr froh, wenn man wieder eine mehr bekommt. Die werden noch nicht bezahlt, aber alle Unkosten werden vergütet und man bekommt eine schöne Anerkennung. Das läuft schon gut, aber mit der Zunahme von arbeitenden Frauen gibt es bei uns einfach weniger Ehrenamtliche. Und wir haben dann noch eine Sache, die ich doch noch vermelden will: wir kennen nicht diese jungen Leute, die Zivildienstleistenden, die kennen wir überhaupt nicht, und ich glaube, das gibt bei Euch noch ein großes Problem, aber bei uns haben wir die nie gehabt.

A. Braun: Vielen Dank für die Nachfragen und die ausführlichen Antworten und Ergänzungen. Jetzt haben wir uns unsere Pause bis auf 15 Minuten heruntergeredet; trotzdem die Bitte, daß wir um 11 Uhr pünktlich weitermachen. Da draußen müßte Kaffee stehen.


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