FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.:90 (Fortsetzung)]

A. Braun: Wir können jetzt unser viertes Thema „die Mittelmeerländer„ mit Frau Jani in Angriff nehmen. Übliches Verfahren: Sie stellen sich den wenigen vor, die Sie noch nicht kennen, und dann gehen wir zum Thema über.

[Seite der Druckausg.:100]

H. Jani: Meine Damen und Herren, im Gegensatz zu den Foren der vorigen Jahre das für diejenigen, die mich kennen bin ich nicht mehr Forschungsleiter des französischen, sozialgerontologischen Zentrums in Paris, dem ich seit den 70er Jahren angehörte. Im Januar diesen Jahres habe ich mich selbständig gemacht, weil dieses Zentrum die meisten seiner Abteilungen darunter die Forschung und die Bibliothek aus finanziellen Gründen schließen musste. Dessen unangeachtet bin ich weiterhin als forschender und beratender Sozialgerontologe tätig, nur der Rahmen hat sich geändert. Das zur Person.

Page Top

Einleitung Definitionen

Unsere Gesellschaft altert; das ist eine recht banal gewordene Feststellung, die wir alle überall heute lesen können. Hinter dieser Feststellung stehen geschichtslose, gesellschaftliche Wandlungsprozesse, derer man sich bei der banalen Feststellung nicht immer bewusst ist. Aber was bedeutet genau demographisches Altern einer Gesellschaft oder „Überalterung„, wie es viele Demographen nennen? Es bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass der Prozentanteil an der Gesamtbevölkerung der als „alt„ definierten Gruppe stark anwächst bzw. im Vergleich zu herkömmlicher Erfahrung (sehr) hoch liegt. Bei diesen Berechnungen wird in der Demographie generell die untere Altersgrenze auf 65 Jahre festgesetzt.

Demographische Entwicklungen sind generell lethargisch, d.h. sie verlaufen langsam, über Generationen, und daraus entsteht für Statistiker und diejenigen, die mit demographischen Daten arbeiten, der Vorteil relativ zuverlässiger Prognosen. Plötzliche Veränderungen können eintreten, sind auf diesem Gebiet aber eher unwahrscheinlich, denn demographische Veränderungen basieren in den meisten Fällen auf vergangenen Tatsachen, die mehr oder weniger weit zurückliegen, und Entwicklungen sind demzufolge seit langem sozusagen vorprogrammiert. Nehmen wir als Beispiel die fallenden Geburtenziffern: sie haben sozusagen einen Zeitbombeneffekt. Da ist zunächst die Tatsache der niedrigen Geburtenanzahl mit dem Effekt fallenden Prozentanteils der nachwachsenden Generation; an der Bevölkerungspyramide bildlich gemacht, bedeutet es, dass sich ihre

[Seite der Druckausg.:101]

Basis allmählich verengt. Hinzukommt und daher Zeitbombeneffekt folgendes Phänomen: Wenn heute in Italien und Spanien nur noch 1,2 Kinder pro Frau geboren werden oder 1,3 in Deutschland, Griechenland und Österreich, so entsteht damit die langfristige Wirkung, dass eine Generation später, also etwa 20, 25 Jahre später, nicht genügen Frauen leben, um genügend Kinder und insbesondere Mädchen zu gebären, um dann wiederum die nächstkommende Generation zahlenmäßig abzusichern. Diese demographischen Entwicklungen der Alterung der Bevölkerung sind also langsam, sie waren seit langem voraussehbar und haben unumgänglich langfristige Auswirkungen. (Dasselbe gilt für den umgekehrten Fall steigender Geburtenanzahl: auch ihre Effekte werden in der Bevölkerung in 20, 25 Jahren zum Tragen kommen.)

Alterung der Bevölkerung hat vorrangig demographische Ursachen:

  • Das sind zunächst wie gesagt die fallenden Geburtenziffern

  • und die fallende Kindersterblichkeit.

    Diese beiden Phänomene bildeten über Jahrzehnte seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Hauptgründe, so dass man tatsächlich sagen konnte, „es gibt (...) nicht zu viele Alte, sondern zu wenige Junge„.

  • Seit Jahrzehnten kommen die fallenden Sterbeziffern auch in höherem Alter hinzu

  • und damit verbunden die steigende durchschnittliche Lebenserwartung, zunächst nur zur Zeit der Geburt, aber inzwischen auch in höherem Alter.

Auch wenn tendenziell die demographischen Entwicklungen aller europäischen Länder recht ähnlich verlaufen, unterliegen sie dennoch zahlreichen Unterschieden, nicht nur von Land zu Land, sondern auch von Region zu Region innerhalb ein und desselben Landes: Unterschiede nach Geschlecht das sieht man besonders deutlich an der durchschnittlichen Lebenserwartung , nach sozialem Milieu und Einkommensniveau, nach sozialen und gesellschaftlichen Gegebenheiten wie z.B. dem Gesundheitszustand, der Gesundheitsversorgung eines Landes, der vorherrschenden Religion, dem Lebensstandard, dem Bildungsniveau insbesondere der Frauen. Aufgrund dieser Unterschiede sind Verallgemeinerungen nur bedingt aussa-

[Seite der Druckausg.:102]

gekräftig. Aber sie sind in der Statistik unumgänglich, und auch ich werde in meinem Vortrag mit vielen Verallgemeinerungen arbeiten und wenig auf die Unterschiede eingehen.

Page Top

1. Mittelmeerländer waren Europas am schnellsten alternde Region

Auch hier zunächst eine Definition. Die betrachteten Länder des europäischen Mittelmeerbeckens sind Frankreich, Griechenland, Italien, Malta, Portugal und Spanien. Dabei weiß auch ich, dass Griechenland nicht am Mittelmeer liegt (zumindest weiß ich es seit gestern Abend, seit dem Henk Schippers in der Bierstube seine Leidenschaft fürs Kartenlesen auf uns übertrug); genau genommen handelt es sich also um die südlichen Länder Europas, denn es ist schon wichtig, Griechenland mit in die Betrachtung einzubeziehen. Andererseits werde ich wenig auf Frankreich eingehen; es liegt zwar am Mittelmeer (auch das weiß ich, und das nun nicht erst seit gestern Abend), jedoch durchlief Frankreich eine demographische Entwicklung, die den alten Industrieländern wie Belgien, Deutschland, England, Holland etc. gleicht und nicht derjenigen der Ländern des europäischen Südens. Diese unterscheiden sich grundsätzlich weit stärker von den nördlicheren als es die demographischen Daten erkennen lassen, denn diese berücksichtigen keine gesellschaftlichen Phänomene wie z.B. die Religionszugehörigkeit, und hier handelt es sich auch heute noch um katholische Länder, das heißt um Länder, wo weiterhin Bestimmungen von Papst und Kirche prägende Auswirkungen auf die Strukturen, Traditionen, kollektives und individuelles Verhalten, Einstellungen zu Leben und Tod, usw. haben. Aber, wie wir sehen werden, hilft auch die päpstliche Opposition gegenüber Verhütungsmittel, Abtreibung, außerehelichem Geschlechtsverkehr und außerehelichen Geburten nicht, um den Lauf der demographischen Dinge aufzuhalten bzw. letztlich zu verhindern.

Die südlichen Länder Europas Italien, Griechenland, Portugal, Spanien schienen lange Zeit abseits des demographischen Wandels zu bleiben, den die nördlichen Länder durchliefen. Es wurde zwar allgemein angenommen, auch sie würden dahin kommen aber erst später, langsamer und

[Seite der Druckausg.:103]


Undisplayed Graphic

schwächer. Tatsächlich war jedoch auch dort der demographische Wandel bereits eingetreten; so schrieb Munoz-Perez 1987: „Der Süden ist bezüglich der großen Entwicklungsprozesse, die die demographische Situation großer Teile Europas veränderten, weitaus anfälliger gewesen als angenommen. Tatsächlich ist der kürzliche, schnelle Sturz der Geburtenziffern das Ende einer jahrzehntelangen Entwicklung.„ Dennoch ist der Prozess rund 30 Jahre später als in den früh industrialisierten europäischen Ländern eingetreten, und entgegen der ursprünglichen Annahme vieler Demographen ist er, als er dann sichtbar eingetreten war, tatsächlich viel abrupter und schneller verlaufen als in den nördlichen Ländern.

Verschiedene Etappen lassen sich unterscheiden, insbesondere in Italien:

  • Nach dem 2. Weltkrieg waren die Geburtenziffern noch nennenswert höher als anderswo; steigende Heiratsquoten und fallende Anzahl kinderloser Frauen, sowie derjenigen mit nur einem Kind waren zu verzeichnen. Später hat sich erwiesen, dass die Fruchtbarkeitsraten insbe-

[Seite der Druckausg.:104]

    sondere in Italien gleich in der Nachkriegszeit rückläufig waren [Hier kurz eine Bemerkung zum Unterschied zwischen Geburten- und Fruchtbarkeitsquote: Erstere ist die Anzahl der Lebendgeborenen, letztere die endgültige Fruchtbarkeit pro Frau („endgültig„ in dem Sinne, dass sie die Summe aller Geburten im Leben einer Frau berücksichtigt; daher können sie auch erst nach der weiblichen Fruchtbarkeitsphase errechnet werden).].
    So schrieben bereits 1955 Henry und Pressat, Italien zähle nicht mehr zu den europäischen Ländern mit relativ hohen Geburten- und Fruchtbarkeitsziffern. Das bedeutet, dass auch in Italien der Prozess relativ früh eingesetzt hat.

  • In den 70er Jahren und danach sind die Fruchtbarkeitsraten weiter gefallen; ungleich von Land zu Land, gingen sie bis hinunter auf zwischen 2,3 und 2,9 Kindern pro Frau. Aus den Tabellen, die wir gleich sehen werden, werden wir im Vergleich mit anderen Länder sehen, was das bedeutet.

  • Mit dem Rückgang der Geburten- und Fruchtbarkeitsraten entstand das neue Familienmodell in den südlichen Ländern: die Durchschnittsfamilie mit zwei, höchstens drei Kindern; kinderreiche Familien wurden von dem Zeitpunkt an selten. Und damit war der Grundstein für die demographische Alterung der Gesellschaft gelegt.

Nun zu den Zahlen: Zum Vergleich habe ich selbstverständlich Deutschland und Frankreich einbezogen, aber zusätzlich auch die Elfenbeinküste und zwar aus zwei Gründen: einerseits für den Vergleich mit einem afrikanischen Land, denn Afrika ist der Kontinent mit der geringsten demographischen Alterung, und andererseits, weil die Elfenbeinküste relativ zuverlässiges Datenmaterial besitzt

[Seite der Druckausg.:105]

Tabelle 1:
Demographische Basisdaten ausgesuchter Länder 1982 und 1998

[Seite der Druckausg.:106]

Beginnen wir mit den Geburtenziffern (Geburten pro 1000 Einwohner im jeweiligen Jahr, hier 1982 und 1999). Es zeigt sich, dass sie in allen betrachteten Ländern im Beobachtungszeitraum gefallen sind, dass sie relativ wenig auseinander klaffen und dass die Unterschiede zwischen den nördlichen Ländern einerseits und den südlichen andererseits nicht homogen sind. So ist auffallend, dass 1982 keine Unterschiede zwischen Griechenland und Frankreich bestanden und nur recht geringe zwischen Deutschland und Italien. Weiterhin kann man aus diesen Zahlen ablesen, dass Griechenland, Portugal und Spanien zwischen 1982 und 1999 besonders stark rücklaufende Geburtenziffern zu verzeichnen hatten, also der Grundstein für den demographischen Alterungsprozess der Gesellschaft gelegt war.

Auf die Sterbeziffern möchte ich jetzt nicht weiter eingehen; ich habe sie hauptsächlich wegen der Vollständigkeit in die Tabelle aufgenommen.

Nun zur durchschnittlichen Lebenserwartung bei der Geburt. Da ich die Daten für 1982 nicht getrennt nach dem Geschlecht vorliegen hatte, ist ein Vergleich mit 1999 schwer möglich; somit ist auch der geschlechts-unterschiedliche Anstieg zugunsten der Frauen nicht erkennbar. Es ist bekannt, dass die Lebenserwartung seit Jahrzehnten nicht nur in Europa von Jahr zu Jahr steigt und dass die der Frauen immer und überall höher als die der Männer ist. (Daraus erklären sich die hohen Anteile der Frauen und insbesondere der Witwen in der Altenbevölkerung.) Auch hinsichtlich der Lebenswartung besteht keine Homogenität der nördlichen Länder einerseits, der südlichen andererseits: In den beobachteten Ländern haben die Französinnen und Spanierinnen mit 82 Jahren die höchste Lebenserwartung und die portugiesischen Männer mit 71 Jahren die niedrigste, gefolgt von den deutschen mit 73 Jahren. Auch die Differenzen der Jahre zwischen beiden Geschlechtern eines Landes sind unterschiedlich: In Griechenland und Italien sind es respektive 5 und 6 Jahre gegenüber 8 Jahre in Portugal und Spanien, womit letzt genannte Länder den Stand Frankreichs erreicht haben, welches seit Jahren auf diesem Gebiet den Europarekord hielt. Die Daten der Elfenbeinküste bezeugen, dass die Lebenserwartung in demographisch jungen Länder niedrig ist, hier 45 Jahre für Männer und 48 Jahre für Frauen. Geht man knapp ein Jahrhundert zurück, ist die Feststellung interessant, dass genau diese Daten für Deutschland zutrafen

[Seite der Druckausg.:107]

(1901-1910: respektive 45 und 48 Jahre für Männer und Frauen). Sechzig Jahre später war sie dann für die Männer auf 67 Jahre und für Frauen auf 72 Jahre angestiegen, was einem Zuwachs von 50% für beide Geschlechter entspricht.

Besonders wichtig in der demographischen Betrachtung ist die Kindersterblichkeit [ Anzahl gestorbener Kinder im Alter von unter einem Jahr auf 1000 Lebendgeborene] , denn ihr Rückgang ist lange Zeit die einzige Ursache der steigenden durchschnittlichen Lebenserwartung, auf die ich gleich kommen werde, gewesen. In den EU-Staaten liegt sie 1999 mit Werten zwischen 4 (Luxemburg) und 6 besonders niedrig, während sie im Vergleichsjahr 1982 in keinem beobachteten Land unter 10 lag und in Griechenland noch 18, in Portugal sogar noch 26 auf 1000 Lebendgeborene betrug. Sieht man sich nun vergleichsweise die Elfenbeinküste an, wo heute noch 98 von 1000 lebend geborenen Kindern in ihrem ersten Lebensjahr sterben, so verdeutlicht sich der Fortschritt, den Europa gemacht hat. Der entscheidende Umbruch hatte sich aber bereits früher vollzogen nämlich zwischen 1950/55 und 1975/80. Im Rahmen der Lebenserwartung komme ich darauf anhand der deutschen Entwicklung zurück.

Tabelle 2: Kindersterblichkeit in 10 entwickelten Länder, 1950 und 1981/82


1950-1955

1975-1980

1981 oder 1982

Vereinigtes Königreich

25

14

12

USA

28

14

12

Frankreich

45

11

10

BRD

48

15

12

Japan

51

9

7

DDR

58

13

12

Italien

60

18

14

Spanien

61

15

11

UDSSR

73

29

.

Polen

95

23

21

[Seite der Druckausg.:108]

Die Kindersterblichkeit ist auch deshalb im demographischen Zusammenhang so wichtig, weil der Alterungsprozess der Bevölkerung infolge fallender Geburtenziffern mittels fallender Kindersterblichkeit gegenbalanciert wird.

Die Prozentanteile der unter 15jährigen und der über 64jährigen (vorletzte Spalte, in Tabelle 1) belegen den demographischen Alterungsprozess: Die Anteile der Altenbevölkerung sind in der Beobachtungsperiode in allen beobachteten Ländern mehr oder weniger gestiegen, wobei unter den südlichen Ländern der Zuwachs in Portugal und Spanien am stärksten war. Und diese beiden Länder weisen gleichzeitig den stärksten Rückgang der Prozentanteile der unter 15jährigen auf, von 25% auf 17% und respektive 15%, aber in diesen Ländern lagen die Anteile der Jüngsten auch 1982 noch am höchsten.

Werfen wir auch hier einen Blick auf die Elfenbeinküste, deren Zahlen zeigen, wie demographisch jung dieses Land ist: Knapp die Hälfte der Bevölkerung ist keine 15 Jahre alt, und nur eine verschwindend geringe Minderheit ist betagt.

A. Braun: Also wenn Sie die Spalten zusammenziehen, dann heißt das natürlich auch, für die meisten Länder ist die Gruppe der 15- bis 64jährigen in diesem Zeitraum anteilmäßig gewachsen. Der Anteil der „Normalen„, Nicht-Jungen, Nicht-Alten ist in all diesen Ländern gewachsen, also die Bezugsgröße, die potentiell Erwerbstätigen, ist größer geworden. Die Jungen und die Alten machten 1982 in Frankreich 35% der Gesamtbevölkerung aus, und die Jungen und die Alten zusammengenommen, machten 1999 in Frankreich ebenfalls 35% aus.

H. Jani: Worauf ich eigentlich hinaus möchte ist, dass die Anteile der Jugendlichen und Kinder überall gefallen sind nämlich von 22 auf 19% in Frankreich, von 22 auf 16% in Griechenland, von 21 auf 15% in Italien usw., und dass die Gruppe der Älteren überall angewachsen ist von 13 auf 16% in Frankreich, von 14 auf 17% in Italien usw. (Tabelle 1), und dieser Zuwachs bedeutet die demographische Alterung. Wenn man jetzt im Vergleich dazu wieder die Elfenbeinküste ansieht, ein wie gesagt ausgesprochen junges Land mit einer sehr breit angelegten Pyramide, so entfällt

[Seite der Druckausg.:109]

dort auf die unter 15jährigen immer noch fast die Hälfte der Bevölkerung, und die Gruppe der Alten bleibt, wie gesagt, trotz geringfügigem Zuwachs eine verschwindend kleine Minderheit (2 bzw. 3%). Eine solche Verteilung haben wir auch einmal in Europa gekannt.

Nun zu den Fruchtbarkeitsraten (Tabelle 3). Der Beobachtungszeitraum ist hier größer als in den vorangehenden Tabellen 1956 bis 1999 für die Länder des europäischen Südens , und die Abstände betragen etwa zehn Jahre ; dadurch ist die langfristige, degressive Grundtendenz leicht ablesbar. Heute liegen die Fruchtbarkeitsraten in Italien und Spanien am niedrigsten, gefolgt von Deutschland und Griechenland. Tendenziell bestätigt sich also auch hier die Ausgangshypothese, die Mittelmeerländer seien die am schnellsten gealterte Region Europas. Da sich die Fruchtbarkeitsraten auf die gesamte Epoche, in der die Frau gebärfähig ist, beziehen, liegt ihr Rückgang zum Teil im späteren Heiratsalter und, mehr noch, im höheren Alter der Frauen zum Zeitpunkt ihrer ersten Mutterschaft begründet.

Tabelle 3 : Fruchtbarkeitsrate 7 ausgesuchter Länder, 1956 – 1999

Deutschland
(alte
- neue L)

Frank-
reich

Griechen-
land

Italien

Portugal

Spanien

Elfenbein-küste

1956

(Fn 8)

.

2.3

2.3

3.0

2.6

.

1966

.

.

2.3

2.5

3.0

2.9

.

1976

.

.

2.4

2.1

2.6

2.8

.

1983

1.4 1.9

2.0

2.3

1.6

2.1.

2.0

6.7

1987

1.3 1.8

1.8

1.8

1.4

1.9

1.8

6.7

1999

1.3

1.7

1.3

1.2

1.5

1.2

6.1


(7) = Durchschnittliche Geburtenanzahl pro Frau im Laufe ihres Lebens
(8) = Der Punkt bedeutet, dass mir keine Daten vorliegen.

[Seite der Druckausg.:110]

A. Braun: Würden Sie die erste Tabelle noch einmal auflegen?

H. Jani: Ja.

A. Braun: Rechne ich richtig, dass die Summe der Anteile der unter 15- und der über 64-Jährigen die Abhängigkeitsquote wiedergibt, also diejenigen, die von den Erwerbstätigen abhängig sind, weil die einen noch kein Geld und die anderen kein Geld mehr verdienen?

A. Jani: Ja, das kann man sagen.

A. Braun: Darf ich Ihre Tabelle jetzt nachrechnen? Da kommt folgendes raus: zwischen 1982 und 1999 ist die Abhängigenquote

    in Deutschland von 31% auf 32% gestiegen,
    in Frankreich blieb sie mit 35% unverändert,
    in den südlichen Ländern ging sie überall zurück, nämlich
    in Griechenland und Italien fiel sie von 35% auf 32,
    in Malta von 34 auf 33%,
    in Portugal von 36 auf 32%
    und in Spanien von 36 auf 31%.

Andersrum gesagt bedeutet es, der Anteil der Mitte, der Erwerbstätigen ist entsprechend gewachsen, wenn man beide Enden zusammenzählt und so die „Lastquote„ ermittelt.. Wenn man allerdings ein Ende abdeckt, erst dann wird es dramatisch. Also: die Belastung für die mittlere Generation ist in Deutschland und Frankreich überhaupt nicht gewachsen, aber in den südlichen Ländern leicht zurückgegangen.

H. Jani: Ja, denn in der mittleren Gruppe, die ja riesig im Vergleich zu den anderen beiden ist 15 bis 64 Jahre sind die geburtenstarken Jahrgänge enthalten.

A. Braun: Ja, und sie ist insgesamt in den südlichen Ländern stärker geworden.

H. Jani: Lassen Sie mich den ersten Teil zusammenfassen: Der demographische Wandel besteht in allen europäischen Ländern, er ist unterschiedlich weit fortgeschritten, aber nirgends abgeschlossen; wie man in man-

[Seite der Druckausg.:111]

chen Pressetiteln lesen kann: „Alter hat Zukunft in Europa„. Dass dieser demographische Wandlungsprozess in den hier besprochenen Ländern abrupter und schneller verlaufen ist, hat nicht nur die beschriebenen demographischen Ursachen. Diese Länder haben bestimmte Stadien tatsächlich übersprungen Spanien am ausgeprägtesten wodurch geringere Sterblichkeit und höhere Lebenserwartung auch im höherem Alter eher gleichzeitig mit den fallenden Geburtenziffern eintraten; während, wie ich eingangs sagte, diese Phänomene in den nördlichen Ländern zeitlich auseinander fielen. Dergleichen Überspringen wurde entscheidend von den „nicht-demographischen„ Ursachen herbeiführt: so dem medizinischen Fortschritt, von dem natürlich alle Länder dann etwa gleichzeitig profitierten, in welchem Stadium der demographischen Entwicklung sie auch standen, und der sich in der steigenden Lebenserwartung widerspiegelt. Weitere Ursachen sind die Reformen der Alters- und der Gesundheitsversorgung wie insbesondere in Portugal und Spanien, der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung, das höhere Bildungsniveau der Frauen, die Frauenerwerbstätigkeit, interne Wanderungen vom Land in die industriellen Zentren in Italien, Spanien, Portugal und Griechenland.

Bevor ich zum 2. Teil übergehe, einen kurzen Ausflug in das afrikanische Mittelmeerbecken, wo der Rückgang der Fruchtbarkeitsraten geradezu rasant verlaufen ist: Anfang der sechziger Jahre wurden in Algerien, Marokko und Tunesien im Durchschnitt noch sieben Kinder pro Frau geboren, in Algerien noch zu Beginn der siebziger Jahre sogar über acht. Dreißig Jahre später sind es nur noch zwei pro Frau.... So benötigten diese Länder nur 25 Jahre um denselben Weg zurückzulegen, für den Frankreich zwei Jahrhunderte brauchte!

Page Top

2. Die Frage nach erkennbaren, gemeinsamen Strategien

Auch wenn es sich nicht um politische, gesteuerte Maßnahmen handelt, möchte ich zunächst das sogenannte, unbewusste Kollektivverhalten der Frauen anführen, mit dem gewisse Demographen wie z.B. Alain Girard die geschichtlich belegte Tatsache erklärten, dass nach großen Bevölkerungsverlusten wie z.B. durch Kriege oder Völkerwanderung die Anzahl der Geburten eines Landes oder einer Region immer drastisch angewach-

[Seite der Druckausg.:112]

sen sind, weil infolge der hohen Verluste so die Hypothese der Erhalt der Gattung in Gefahr gerät. Die neuzeitliche demographische Entwicklung stellt diese Hypothese in Frage, denn in mehreren europäischen Ländern (Deutschland, Dänemark, Spanien...) reichen die Geburten nicht mehr aus, um das Schrumpfen der Bevölkerung und das langfristige Aussterben europäischer Länder aufzuhalten, sodass das unbewusste Kollektivverhalten längst hätte einsetzen müssen.

Eine analoge Hypothese wird herangezogen, um die Tatsache zu erklären, dass hohe Kindersterblichkeit und hohe Fruchtbarkeits- bzw. Geburtenziffern immer und überall parallel laufen, und dass somit letztere automatisch fallen, wenn erstere bedeutend zurückgeht. So stellte man fest, ich glaube, es war in Singapur dass nach der einschneidenden Sanierung der Abwässer und der Frischwasserversorgung vor rund 30 Jahren, anschließend die Kindersterblichkeit und in den Folgejahren die Geburtenziffern drastisch zurückgingen. Offensichtlich besteht ein sehr enger Zusammenhang zwischen beiden, denn diese Korrelation konnte ebenfalls in vielen anderen Gebieten beobachtet werden.

Natalistische Politik bietet sich als gemeinsame oder auch nur als nationale Reaktion an, zumindest theoretisch; da einer der Hauptgründe des Alterns der Bevölkerung die zahlenmäßig nicht ausreichenden Geburten sind, ist geburtenfördernde Politik a priori eine wirksame Strategie gegen den demographischen Alterungsprozess. Tatsächlich haben auch verschiedene Länder sozialpolitische Maßnahmen getroffen wie Kindergeld mindestens ab dem dritten Kind um die kinderreichen Familien zu vermehren und um die Frauen zu stimulieren, wieder mehr Kinder zu gebären. Laut französischen Demographen gilt zumindest für Frankreich, dass das demographische Problem nicht daher rührt, dass das erste Kind nicht geboren wird, sondern daher, dass das dritte Kind ausbleibt. Das ist insofern logisch, als zum Erhalt der Generation ein Paar ein Mann und eine Frau mindestens zwei Kinder haben müssen (genau: mindestens 2,1). Dieser Prozess hat, wie anfangs gesagt, unter den europäischen südlichen Ländern in Italien am frühesten eingesetzt. Der steigende Trend vieler Familien zu wenigen Kindern, wenn nicht gar zum Einzelkind, trägt entscheidend zur Alterung der Bevölkerung bei. Daraus ergibt sich das bereits genannte, grundlegende Problem des „Zeitbombeneffekts„, nämlich dass zu

[Seite der Druckausg.:113]

wenige Mädchen geboren werden, um in der kommenden Generation genügend Kinder zu gebären.

Geburtenstimulierende Politik ist aber ein sehr teures Unternehmen für die Staatsfinanzen, und sie hat vorrangig nur langfristige Effekte: Sie bedeutet hohe Staatsausgaben, nicht nur für die Zahlung eines interessanten Kindergeldes, sondern auch für das Schaffen entsprechender Infrastruktur (Kinderkrippen, Kindergärten etc.), damit Frauen trotz mehrerer Kinder berufstätig sein können. Und selbstverständlich kann kaum ein Politiker mit einem derartigem politischen Programm Wahlen gewinnen. Das heißt, es stellt sich die grundsätzliche Frage nach dem politischen Interesse für derart langfristige Politik. Darin liegt möglicherweise auch der Grund, warum Politiker jahre-, jahrzehntelang nicht die Warnungen der Demographen haben hören wollen, als die Geburtenziffern stark zurückgingen und demzufolge kaum zu intervenieren versuchten. Auch darf nicht vergessen werden, dass, wurde eine geburtenstimulierende Politik eingeführt, die erhofften Auswirkungen meist ausblieben. Tatsächlich führt eine komplexe Vielzahl von Faktoren und deren Zusammenspiel zum Geburtenrückgang, aber dieses Gebiet ist relativ unerforscht. So reicht z.B. weibliche Berufstätigkeit allein nicht als Erklärung aus, denn in Agrargesellschaften arbeiten Frauen immer viel und haben dennoch viele Kinder. So reichen auch Verteuerung des Lebensunterhaltes und unzureichendes Einkommen nicht aus, blieben kinderreiche Familien doch trotzdem die Regel. Beides lässt sich auch heute insbesondere in Indien, in südamerikanischen oder in afrikanischen Ländern beobachten.

Bei der Suche nach Strategien, die die Überalterung aufhalten oder sogar stoppen, kann eine Maßnahme, so unmenschlich sie ist, nicht unerwähnt bleiben, nämlich dem „späten Sterben„ Einhalt zu gebieten, z.B. indem ab einem bestimmten Alter bestimmte medizinische oder paramedizinische Eingriffe (kein Krankenwagentransport oder keine operativen Eingriffe oberhalb einer bestimmten Altersgrenze) nicht bewilligt werden. Dem liegt eine amerikanische Theorie zugrunde, die hier im Forum 1995 von Irene Hoskins vorgestellt worden ist. Sie schilderte damals sehr eindringlich, wie ernst zu nehmen die Theorie ist; nicht nur für Amerika. Man sieht auch schon in Europa Samtpfoten-Maßnahmen in dieser Richtung, und man kann im Namen der Kostendeckung der Ausgaben für Krankheit natürlich

[Seite der Druckausg.:114]

sehr viel drastischere Maßnahmen treffen als „nur„ die Finanzierung des Krankenwagentransports zu verweigern.

G. Braun: Wo gibt es das?

H. Jani: Ich möchte mich da nicht festlegen, denn ich bin mir der Antwort nicht sicher; darum möchte ich lieber das Land nicht nennen, das ich im Kopf habe.

Eine weitere Strategie könnte Einwanderungspolitik sein, insbesondere aus geburtenfreudigen Ländern; aber auch diese Politik ist langfristig wenig wirksam, abgesehen von der Tatsache, dass Gesellschaften größte Schwierigkeiten haben, sie zu akzeptieren (ich kann mir nicht vorstellen, dass man z.B. in Deutschland übermäßig begeistert wäre, wenn zum Erhalt des deutschen Volkes nun z.B. türkische Frauen beitragen sollen). Kürzlich ist ein Beispiel von Einwanderungspolitik, um das Aussterben der Bevölkerung aufzuhalten, durch die französischen Medien gegangen: Eine spanische Gemeinde bietet erfolgreich argentinischen, jungen und bevorzugt kinderreichen Familien an, dorthin zu kommen; ihnen werden die Auswanderungskosten gezahlt und Arbeit sowie gute Wohnbedingungen geboten. Diese Maßnahme ist jedoch einer bestimmten Schicht vorbehalten: intellektuelle Berufe sind ausgeschlossen, und der Familienvorstand muss die spanische Staatsangehörigkeit haben, d.h. sie ist den zweiten und dritten Generationen ehemaliger spanischer Auswanderer vorbehalten, die ihre ursprüngliche, spanische Staatsangehörigkeit behalten hatten. Einwanderungspolitik hat sich insofern als langfristig wenig wirksam erwiesen, als die Migranten spätestens in der folgenden Generation ihr Geburtenverhalten denen des Aufnahmelandes anpassen. Damit kommen wir auf das zurück, was ich anfangs und in einem anderen Zusammenhang über die Kindersterblichkeit gesagt habe: Solange es z.B. den Grund der hohen Kindersterblichkeit gibt in der Türkei und in anderen Ländern, in Nigeria, in asiatischen Ländern, in vielen afrikanischen Ländern müssen viele Kinder geboren werden, damit wenigstens einige von ihnen überleben. Das ist aber dann nicht mehr der Fall, wenn diese Frauen in einem Land mit niedriger Kindersterblichkeit leben. Also wenn z.B. aus der Elfenbeinküste Frauen nach Frankreich kommen, dann werden sie keine 6,1 Kinder gebären wie zu hause.

[Seite der Druckausg.:115]

Gibt es gemeinsame altenpolitische Strategien, Strategien in diesem Fall nicht mit dem Ziel, die Überalterung aufzuhalten oder rückgängig zu machen, sondern im Sinne politischer Maßnahmen, um der weiterhin wachsenden Altenbevölkerung gerecht zu werden? Meines Wissens gibt es auch sie kaum. Dahin gehört allerdings sicherlich die zunehmende Vernetzung auf europäischer Ebene der NGOs, aber das gilt nicht nur für die südlichen Länder. Dahin gehört die EU-Regelung der Freizügigkeit nicht nur der Arbeitskräfte sondern auch der Rentner bzw. Pensionäre, indem ihnen die Rentenbezüge folgen (auch wenn Pflegegeld und andere Ansprüche wie Sozialhilfe nur bedingt grenzüberschreitend sind).

Wenn es aber wie im europäischen Norden auch keine gemeinsamen Strategien unter den südlichen Ländern Europas gibt, so besteht dennoch die Tatsache, dass unterschiedliche Länder unabhängig voneinander gleiche altenpolitische Maßnahmen treffen (und auch das trifft selbstverständlich nicht nur für das südliche Europa zu). So steht seit Jahrzehnten „Leben zuhause vor Heimunterbringung„ auf den sozialpolitischen Bannern aller europäischer Länder; und realiter ist das Verbleiben zuhause überall die am meisten praktizierte Lebensform älterer und alter Menschen auch bei zunehmender Hilfe- und Pflegebedürftigkeit, und zwar insbesondere und weiterhin dank der pflegenden Familienangehörigen.

Bei der steigenden Nachfrage nach Haus- und -pflegediensten ist es allerdings nicht ausreichend, nur die Anzahl der Hilfs- und Pflegedienste zu erhöhen. Tendenzen der 90er Jahre zeigen das ist auch in verschiedenen Referaten im Laufe des heutigen Tages in anderem Zusammenhang mehrfach angeklungen , welche Änderungen und Maßnahmen erwartet werden:

  • Da ist zunächst der zunehmende Trend der Nachfrage und die Forderung seitens der Wissenschaftler nach Qualitätsverbesserung der ambulanten und stationären Altenhilfe. Diese Tendenz besteht in Frankreich seit über 10 Jahren, und in Deutschland spiegelt sie sich im Pflegegesetz wider; in den südlichen Ländern scheint sie hingegen noch weniger ausgeprägt zu sein. Sie läuft parallel mit der allgemeinen Erwartung von besserer Lebensqualität gleich für welche Altersgruppe.

[Seite der Druckausg.:116]

  • Ein anderes Phänomen in allen Ländern auch wenn es nicht auf bewusst gemeinsamem Handeln beruht ist die wachsende Tendenz, Hilfen für pflegende Angehörige anzubieten. Sicherlich als Folge eines allgemeinen Bewusstwerdens der Arbeit und häufig sehr schweren Arbeit , die diese leisten; aber auch aufgrund der Befürchtungen, immer weniger würden in Zukunft diese Aufgabe tragen wollen, insbesondere ohne Entlastungsmaßnahmen. Noch Anfang der 90er Jahre war „Hilfe für Helfer„ selten; heute gibt es sie zunehmend, wenn auch insbesondere in den südlichen Ländern nicht so ausgeprägt und systematisch wie dank der Pflegeversicherung in Deutschland oder des Pflegegeldes in Österreich. Man kann verallgemeinernd sagen, familiäre Altenbetreuung und -pflege haben inzwischen die Ebene politischer Besorgnis erlangt, und die Frage, wer die rund 80 Prozent Abhängigen betreuen und pflegen solle, wenn ihre heutige Stütze, die Familie, morgen „Nein, danke„ sagt, ist politisch aktuell geworden.

  • Ein dritter Trend ist bessere Koordination unter den mobilen Diensten und zwischen diesen Diensten und den Heimen; wiederum ist auch dieser Trend in den südlichen Ländern weniger als in den nördlichen zu beobachten.

  • Und schließlich der Trend, aufgrund notwendiger Kostendämpfung, den sozialen Bereich incl. der gemeinnützigen Dienste und Vereine, Gesichtspunkten finanzieller Rentabilität zu unterwerfen.

Was eindeutig sowohl in den südlichen als auch in den nördlichen Länder, außer im Vereinigten Königreich , weiterhin fehlt, sind Lobbybewegungen von und für ältere Menschen: sie haben keine Lobby, und sie bilden keine. Ich bleibe dabei, seit nunmehr 20 Jahren: wenn die Alten nicht endlich selbst massiv für sich selbst eintreten, dann kommt die Altenbevölkerung in die große Gefahr, dass ihre Situation viel schlechter als je zuvor sein wird. Und das ist auch unsere Zukunft.

Eine, sich auf die Altenbevölkerung positiv auswirkende Politik sind die europäischen Programme gegen die Armut gewesen; unter den südlichen Ländern haben insbesondere Portugal und Griechenland davon profitieren können. Es waren keine altenpolitischen Programme, aber sie haben sich auch auf die Altenpolitik und die Situation der Altenbevölkerung ausgewirkt, weil sie den allgemeinen Lebensstandard angehoben haben. Auch

[Seite der Druckausg.:117]

die Wohnungssituation in Irland war das auch sehr eindeutig konnte u.a. dank der Armutsprogramme entscheidend verbessert werden. So wurden u.a. in Lissabon mittels sozialpolitischer Maßnahmen Wohnungssanierungen durchgeführt und dabei Kleinwohnungen geschaffen, die alten Menschen vorbehalten waren, deren Kinder im selben Gebäude wohnen, um das „Zusammenleben auf Distanz„ zu fördern.

Ebenfalls keine allgemeine Strategie, aber Elemente, die in allen Ländern zur Verbesserung der Situation der Altenbevölkerung beitragen, sind, das sagte ich bereits, die medizinischen Fortschritte.

Ein letzter Punkt: Im Rahmen des Wandels der Familienstruktur Wandel von der traditionellen Familie zur sogenannten modernen Familie einerseits und dank des Wohlfahrtsstaats andererseits ist die individuelle Verantwortung der Familiengruppe für die Hilfe- und Pflegebedürftigen allen Alters mehr oder weniger zur kollektiven Verantwortung geworden, das heißt, sie wird mehr über die nationale Solidarität geregelt (wobei außer Dänemark kein europäisches Land so weit geht, zu sagen, der Staat, nicht die Familie, trage für sie die alleinige Verantwortung).

Page Top

Zusammenfassende Schlussbetrachtung

Zum Ende eine Kurzfassung meiner Ausführungen:

  • Beschleunigter, demographischer Alterungsprozeß der südlichen Länder, Frankreich ausgeschlossen: ja, wenngleich nicht so schnell und abrupt wie auf der anderen Seite des Mittelmeers, in den nordafrikanischen Ländern Tunesien, Marokko, Algerien.

  • Erkennbare gemeinsame Strategie, meines Wissens: nein.

Ich danke Ihnen!

A. Braun: Wir danken Ihnen Frau Jani. Jetzt Nachfragen, Meinungen, Kommentare?

[Seite der Druckausg.:118]

Gisela Trümper: Wenn Politiker den starken Wunsch haben, den demographischen Wandel zu stoppen, wenn nicht umzukehren, dann frage ich mich, warum Gelder in eine Forschung gesteckt werden, damit die Alten jetzt neuerdings über 100, 110 oder noch älter werden sollen. Es wäre ja in diesem Falle sehr viel humaner in meinen Augen, wenn man die Alten friedlich in Würde sterben lassen würde, und nicht an Apparate anschließt und mit sonstigen künstlichen Mitteln noch länger am Leben hält.

H. Jani: Ich würde gerne sofort auf diese Frage antworten, weil ich sonst ihre Komplexität möglicherweise vergesse. Dasselbe hat man vor 20 Jahren auch gesagt; damals war die Krebsforschung sehr viel weniger fortgeschritten, und heute besteht die Wahrscheinlichkeit, dass die Alzheimer-Forschung große Fortschritte macht. Wenn man dann damit anfängt, die Kranken nicht am Leben zu erhalten, dann geht das nicht, dann gibt es keinen medizinischen Fortschritt. Auch ist das letztlich genau das, was die angedeutete amerikanische Theorie sagt. Damit verbauen wir uns die Möglichkeit, dass wir länger leben, dass wir gesund länger leben. Ob wir das wollen, das möchte ich doch dahingestellt lassen.

Hinzu kommt die Tatsache, dass die menschliche Gattung die einzige ist, deren biologische Lebensdauer wir nicht kennen. Wir wissen, dass es Eintagsfliegen gibt, wie lange Elefanten leben, Giraffen, Kaninchen, Enten... nur des Menschen biologische Lebensdauer ist uns unbekannt. Man nimmt an, dass es 125, 130 Jahre sind. Und wenn wir durchschnittlich 130 Jahre leben könnten, in relativ guter Gesundheit, dann fände ich es menschlich nicht vertretbar, wenn man heute sagt, das Geld für die medizinische Forschung wird nicht mehr ausgegeben, sondern man solle die Leute würdig sterben lassen.

Selbstverständlich muss man sie würdig sterben lassen, aber dieses acharnement thérapeutique, diese therapeutische Verbissenheit ist ja heute viel seltener; dass man sie mit Macht und Kraft und Maschinen am Leben erhält und vegetieren lässt. Das ist unwürdig, aber das tut man ja heute weitaus weniger als noch vor 20 Jahren. Ich glaube, in Ihrer Frage sind sehr viel unterschiedliche Dinge verborgen, die man nicht so einfach besprechen kann, dafür müsste man eigentlich mindestens einen weiteren Konferenztag einlegen, um es zu besprechen und zu erörtern.

[Seite der Druckausg.:119]

Ute Francke: Ich denke, gerade bei dieser Frage gilt: medizinische Forschung hat nicht das Ziel das Lebensalter zu erhöhen, sondern Krankheiten zu bekämpfen, wie Sie es auch schon angedeutet haben. Es geht also nicht darum, die Menschen auf 200 Jahre zu bringen, sondern die Alzheimer-Krankheit, den Diabetes und all diese Krankheiten zu erforschen, und ich denke, das ist einfach eine andere Fragestellung.

A. Braun: Ich meine, man muß ja sehen, daß diese Diskussionen mit schöner Regelmäßigkeit immer alle paar Jahre geführt werden. Wenn die, die sich vor drei Jahren gerade mal einen Forschungsetat dafür gesichert hatten, neue Mittel brauchen, dann gehen sie wieder mit sensationellen Behauptungen, was alles möglich und denkbar sei, an die Öffentlichkeit, um Aufmerksamkeit für ihre Art von Forschung zu gewinnen. Und da diese Forschungen eben hauptsächlich im Bereich der nicht öffentlich finanzierten, sondern aus irgendwelchen Zuwendungen der Industrie oder Zuwendungen von Gönnern finanzierten amerikanischen Forschung laufen, ist das ein unaufhaltbarer Trend: Immer wenn das Geld alle ist, muß man etwas Sensationelles bieten, damit man in dem Bereich weitermachen kann. Man sieht es auch daran, daß viele von denen, wenn sie dann das zweite Mal kein Geld kriegen, sich einer andere Sache zuwenden, wo wir ja eigentlich vermuten würden, auch wenn sie kein Geld kriegen, machen sie weiter, weil die Sache so wichtig ist, machen es halt in bescheidenerem Umfang. Das tun sie nicht, sondern sie wechseln dann den Gegenstand. Da ist also schon ein ganz bestimmter Mechanismus zwischen Fondsrekrutierung und publizistischem Interesse an den eigenen Ergebnisse drin. Das hat nichts zu tun mit unserer Debatte, wie längeres Leben denn qualitativ beschaffen sein muß, damit es sich lohnt, den Leuten so etwas zuzumuten.

Elvira Kamann: Zu den schwachen Geburten möchte ich noch etwas sagen. In der DDR haben die Frauen studiert, sie haben Frauensonderstudien gehabt, haben leitende Funktionen gehabt, verantwortungsvolle Tätigkeiten und hatten drei, vier und mehr Kinder. Es waren Kindergärten da, es waren Krippen da, es waren Einrichtungen für die nachschulische Betreuung da; und es gab Sportvereine, wo die Kinder und Jugendlichen bis zur Lehre hin ihre Freizeit gestalten konnten. Die Frauen konnten ihrem Beruf und ihren Leistungen nachgehen. Und es gab viele Generaldirektorinnen,

[Seite der Druckausg.:120]

viele Leiterinnen. Es muß nicht sein, daß eine Frau nur zu hause ist und Kinder kriegt; aber das Umfeld muß funktionieren.

Bemerkung: Mich stört bei der allgemeinen Debatte dieses Wort Überalterung, daß man dies negativ betrachtet. Wenn man dies positiv sehen würde, ich glaube schon Berhard Shaw sagte damals, mit 105 Jahren werden wir normal - Wir betreiben ja einen Raubbau mit unserer Gesundheit. Wir können von der Anlage her durchaus positiv älter werden. Wenn wir dadurch weniger werden, so schadet das gar nichts, denn wir müssen z.B. in Deutschland keine 80 Millionen sein, sondern es genügen durchaus 60. Und auch in Bezug auf die Ernährung: mal ein ganz krasses Beispiel genommen, ein früherer Herrscher, der brauchte Tausende von Leuten, die für sein Wohl sorgten, ihn bedienten. Das ist heute nicht mehr erforderlich, wir können also im Zusammenhang mit unserer gesamten wirtschaftlichen Entwicklung und Lebensweise durchaus mit weniger Menschen länger und positiv leben.

A. Braun: Der Begriff „Überalterung„ muß nicht sein, Alterung genügt doch auch.

H. Jani: Ja sicher. Aber das Wort habe ich nicht geprägt, und es geht um statistische Definitionen.

G. Braun: In Deutschland ist „Alterung„ durchaus gebräuchlich, auch in der Literatur.

H. Jani: Und man spricht nicht von „Überalterung„?

A. Braun: Nein

G. Braun: Also da wollte ich auch doch noch was dazu sagen zu diesem Wort: da bin ich auch beim ersten Mal, wie Sie es gesagt haben, innerlich zusammengezuckt, weil wir da seit 10 Jahren eigentlich von Anfang an einen Kampf geführt haben, daß wir diesen Begriff nicht haben wollten. Wir haben immer gesagt: man muß das doch nicht negativ oder positiv benennen, sondern ohne Über- oder Unter- oder was auch immer, also „Alterung der Gesellschaft„. Und dann komme ich noch zu einem zweiten

[Seite der Druckausg.:121]

Begriff, den Sie benutzt haben, Sie haben, glaube ich, „sterbendes Volk„ oder war es „sterbendes Land„ gesagt

H. Jani: Aussterbendes Volk.

G. Braun: Auch da habe ich meine Bedenken: Ich habe gestern ein Interview gehört, in dem am Schluß der Herr Hengsbach gesagt hat, es ist noch nicht irgendwo definiert, was eigentlich „korrekt„ oder „richtig„ ist bei einer Bevölkerungsentwicklung. Es ist doch auch nicht, so wie der Vorredner gerade gesagt hat, notwendigerweise so, daß Deutschland 80 Millionen Einwohner haben muß. Vielleicht tun es auch weniger. Ich sehe ein, daß es wünschenswert ist, aus ganz anderen Gründen als der Erhaltung der Wirtschaftskraft oder so, viele Kinder zu haben, weil es einfach auch ganz schön ist. Aber ich habe aus Ihrem Beitrag auch entnommen, daß man eigentlich mit keinem Mittel, mit keinem Instrument die Leute dazu veranlassen kann, Kinder zu haben, wenn sie sich entschieden haben, keine zu wollen. Vielleicht muß man es dann ganz einfach sich selber überlassen; also möglichst gute Bedingungen für Kinder schaffen, möglichst gute Rahmenbedingungen für die Mütter, daß sie wirklich Beruf und Familie vereinbaren können und dann kommt vielleicht irgendwann der Punkt, wo das wieder umspringt. Aber ich habe in Erinnerung eine Schilderung eines Arztes vor 200 Jahren oder waren es 250: Hufelandt hat damals noch gesagt, es ist von Gott gegeben, daß eine Mutter zehn Kinder haben muß, damit drei oder vier überleben, und daran soll man bitte nichts ändern durch menschliches Eingreifen. Das ging damals gegen die Impfungen und solche Dinge, weil er meinte, man würde damit das Gleichgewicht zerstören. Also wenn es keine Möglichkeiten gibt, das Verhalten der Leute durch Maßnahmen der Politik drastisch zu verändern, dann kann es doch eigentlich nur darum gehen, das was ist, möglichst gut zu gestalten. Das ist jetzt vielleicht völlig unpolitisch und auch unwissenschaftlich, aber, wie gesagt, das tut mir immer ein bißchen weh diese „Überalterung„ und auch das „sterbende Volk„, weil ich denke, es wird wahrscheinlich nicht so kommen.

H. Jani: Ich danke Ihnen für die Kritik. Aber wenn ich von „Überalterung„ oder von einem „aussterbenden Volk„ oder Völkern es waren ja auch noch andere als Deutschland dabei gesprochen habe, dann sind es ein-

[Seite der Druckausg.:122]

fach sachliche Feststellungen, die für mich wertfrei sind. Das bedeutet nicht, dass ich nicht vielleicht persönlich der Meinung bin, dass es dann eben ein aussterbendes Volk ist. Es bedeutet auch nicht, dass die Menschen, die in einem aussterbenden Volk leben, nicht vielleicht viel glücklicher leben, weil möglicherweise andere Rahmenbedingungen geschaffen werden können. Das steht für mich auf einem anderen Blatt. Und auch wenn ich von Überalterung spreche, dann bedeutet das für mich überhaupt nicht, dass diese Tatsache nicht sehr viel positive Aspekte haben kann.

A. Braun: Also, nein, das ist kein terminologisches Problem. Das Problem besteht darin, daß ich mit der Wortwahl Überalterung einen Maßstab setze. Nämlich daß hier ein Vorgang vorliegt, der abweicht von der Norm. Es ist Über-Alterung und das ist das Problem. Aus dem Umkreis des Demographen Birk, der in Bielefeld lehrt, sind neulich zwei also wirklich bis ans Ende gedachte absurde Ergebnisse dieser Art gekommen, sich einen künstlichen Normalitätsmaßstab zu schaffen und dann zu sagen, wenn es anders ist, dann ist es unnormal. Er hat vor dem Bundesverfassungsgericht in der Auseinandersetzung um die Zulässigkeit der Belastung der Familien durch den Beitrag zur Pflegeversicherung ein Gutachten abgegeben und hat dann dort behauptet, wenn man die Relation zwischen den Alten und den Jungen, den Zahlern und den Profiteuren der Pflegeversicherung auf dem Niveau des Jahre 1995 stabil halten wollte, dann bräuchten wir bis im Jahre 2030 120 Millionen Einwanderer. Also ich habe gedacht, ich höre nicht richtig, aber ich habe das in drei verschiedenen Zeitungen genau so zitiert gefunden. Da habe ich den Redakteur der Süddeutschen angerufen, der in Karlsruhe sitzt und Verfassungsgerichts - Berichterstattung macht. Dann habe ich gesagt, ist Ihnen denn das plausibel vorgekommen, daß wir bei 80 Millionen Bevölkerung 120 Millionen Zuwanderung brauchen? Ja, aber wenn der Birk das sagt. Das Zweite war diese Woche im Spiegel: wenn man die Relation zwischen den Rentenbeziehern und den Beitragszahlern stabil halten wollte, braucht man eine jährliche Zuwanderung von 4 Millionen und das steht da auch so drin. Und das ergibt dann auf dreißig Jahre addiert diese Wahnsinnszahl. Und das andere aus dem Birk’schen Umfeld, das ist noch viel schlimmer. In einer Festschrift für ihn, die zum Teil auch in verschiedenen Blättern veröffentlicht wurde, hat einer seiner männlichen Schüler eine ganz neue Natalismusdiskussion angefangen und

[Seite der Druckausg.:123]

seine These lautet: „Wir verletzen das Grundrecht der Frauen auf ausreichende Geburten dadurch, daß wir ihnen die Bedingungen dafür nicht gewähren, und dies ist ein fortlaufender Verfassungsverstoß.„ Also so weit sind die an der anderen Ecke der Diskussion schon, und da wird es mir doch leicht unbehaglich, obwohl ich beide Argumente doch für relativ blödsinnig halte. Aber wenn so eine Diskussion geführt wird, die sagt, ein ganz bestimmtes Verhältnis der Pflegebedürftigen zu den Beitragszahlern - im Jahr 1995 - ist der Idealzustand und den müssen wir jetzt durch Maßnahmen der Zuwanderung stabilisieren, was ist das für eine Art der Diskussion? Die hat keinen Maßstab, sie erklärt bloß eine ganz bestimmte Momentaufnahme für normal und alles andere für abweichend. Und das ist dann eben auch, wo ich dann bei Ihrem „Über-„ immer höre, jetzt definiert sie den Normalmaßstab und alles andere ist abweichend.

H. Jani: Ja, aber: Das Altern der europäischen Gesellschaften ist ohne geschichtliches Beispiel. Wenn wir Vergleiche ziehen, und das tue ich natürlich, wenn ich von Überalterung spreche - selbst dann, wenn man nur von Alterung der Gesellschaft spricht - der Vergleich wird angestellt zu dem, was man bislang als normal angesehen hat. Und normal war eben, dass die Bevölkerungspyramide eine Pyramide war und nicht ein Champignon oder eine Pappel.

A. Braun: Entschuldigung, dann war Frankreich zwischen 1790 und 1930 nicht normal, denn Frankreichs Generationen-Graphik sah anders aus.

H. Jani: Ja, aber das ist das, was ich sagte, nämlich dass nach großen Bevölkerungsverlusten bislang immer der Ausgleich anschließend kam, indem die Geburten sehr stark hochgingen, und somit die normale Entwicklung gleichbleibend steigend blieb und die Kurve also nur einmal in die Tiefe gegangen war.

U. Kruse: Ich habe nur noch eine ganz kurze Wortmeldung zum Kinderkriegen. Es ist sicher klar und auch nichts dagegen einzuwenden, daß viele Leute keine Kinder haben wollen; es ist vielleicht auch besser für die Kinder, die da nicht kommen. Aber ich habe verschiedene Berichte gelesen, daß die Zahl der Leute enorm zugenommen hat, die Kinder haben möch-

[Seite der Druckausg.:124]

ten, aber keine kriegen können, was sowohl medizinische wie auch gesellschaftliche Gründe hat.

H. Jani: Da habe ich eigentlich eher Gegenteiliges gelesen, was Frankreich anbetrifft, nämlich dass die medizinische Forschung auf dem Gebiet der Sterilität große Fortschritte zu verzeichnen hat, und dass dadurch ich glaube es sind in Frankreich um 20 Prozent der Frauen gewesen, die keine Kinder bekommen konnten dieser Prozentsatz zurückgeht. Und gerade Frauen, die von der Sterilität geheilt werden, sind bekanntlich geburtenfreudiger als die anderen, weil ihre Sehnsucht viel größer ist.

R. Buhlmann: Wenn ich Ihre Diskussion jetzt weiter verlängere, dann kann das letzten Endes dazu führen, daß wieder ein neuer Krieg kommen muß, damit dann wieder mehr Kinder geboren werden. Ich warne vor solchen Überziehungen.

H. Jani: Eine Hungersnot tut es auch; aber ich habe vorhin gesagt, daß diese Strategien heute nicht mehr stimmen für die europäischen Länder.

R. Buhlmann: Gleich nochmal eine Frage zu dem Problem, das Herr Braun angesprochen hat. Gibt es denn eigentlich heute gesicherte Erkenntnisse darüber, wieviel Menschen notwendig sind, um den Produktionsprozeß in der wissenschaftlich-technischen Revolution überhaupt aufrecht zu erhalten und voran zu treiben? Gibt es Erkenntnisse darüber, wieviele Menschen in der Zukunft notwendig sind im arbeitsfähigen Alter?

E. Olbrich: Ja, ich kann jetzt ganz sicherlich keine bestimmten Zahlen dazu nennen. Aber von der klassischen Nationalökonomie über die Neoklassik der Ökonomie von Malthus angefangen, hat es immer gelautet, wir brauchen wachsende Bevölkerung, nur wachsende Bevölkerung schafft Wohlstand, Wachstum usw. Dann hat es also eine jahrzehntelange Diskussion gegeben pro und contra. In der neueren Ökonomie hat man gesagt, mit Unschärfen jetzt ganz einfach, die Kinder sind gar nicht so wichtig, die Reproduktion ist gar nicht so wichtig, die Produktivität einer Volkswirtschaft hat die Bedeutung der Reproduktion der Bevölkerung längst überholt. Und da steht man heute. Und ob das jetzt zehn Prozent mehr oder weniger Erwerbstätige sind, es geht darum, wie die Verteilung

[Seite der Druckausg.:125]

dann stattfindet. Wenn ich dasselbe Volkseinkommen erzielen kann und es ist auf weniger Leute aufgeteilt, dann, ich sage es jetzt sehr salopp, dann können die Wenigeren in Saus und Braus leben.

Das ist die ökonomische Seite, was gesellschaftspolitisch erwünscht ist, das ist eine ganz andere Geschichte. Auf jeden Fall steht eines weltweit fest: Daß ich mit oder ohne, mit hohen, niedrigen oder keinen Familienzuwendungen aus den öffentlichen Händen das Geburtenverhalten einer Bevölkerung nicht steuern kann. Wir haben in Österreich eine wahnsinnig hohe Familienförderung. Wenn man den Begriff relativ weit abgrenzt, ist das ungefähr dasselbe Volumen, oder sogar mehr als für die gesetzliche Pensionsversicherung ausgegeben wird. Also diese Theorie, ich gebe den Familien viel Geld, dann habe ich eine sehr hohe Reproduktionsrate, die geht nicht auf. Wir haben eine Fertilitätsrate von 1,3 im Moment, und wenn wir das Kindergeld im nächsten oder übernächsten Jahr bekommen, wird das die Fertilitätsrate überhaupt nicht bewegen. Und die Elfenbeinküste hat eine sehr hohe Fertilitätsrate, das haben wir gesehen; ich gehe jedoch davon aus, daß es dort keine ausgebauten Familienleistungen gibt. Mit steigendem Wohlstand, was immer man darunter versteht, hat sich die Geburtenziffer gesenkt und die Fertilitätsrate ist zurück gegangen. Und ich glaube auch nicht mehr daß diese „genetische„ Theorie, heute in demselben Ausmaß greifen würde, wie sie früher nach Kriegen oder Katastrophen oder so gegriffen hat. Es sind noch viele andere Faktoren, nicht nur, daß man sich individueller bewegen will. Es ist ja auch der Faktor der Urbanisierung, der Faktor des zu geringen Raumes, der zur Verfügung steht. Also wenn ich mir vorstelle, so eine klassische Stadtwohnung mit 70 qm und eine Familie mit drei Kindern: Wir entwickeln heute eine wesentlich stärkere körperliche Distanz, die körperliche Nähe, die uns irgendwann einmal ganz normal innegewohnt hat, die ist weg. Wenn wir im Bus stehen und da ist jemand zwanzig Zentimeter daneben, dann wird das schon unbehaglich. Das gibt es auch innerhalb der Familie, vielleicht sogar auf größere Distanz als zwanzig Zentimeter.

E. Kamann: Es ist für mich als ehemalige Krankenschwester wirklich auch manches ganz furchtbar, wenn immer die älteren Menschen nur als Kostenfaktor gesehen werden, und das ängstigt einen doch ganz stark, mag es nun auch unterschiedlich in den Ländern sein. Aber wenn ich gelesen

[Seite der Druckausg.:126]

habe, daß England nicht mal mehr einer 70-jährigen eine künstliche Hüfte geben will, dann finde ich es eben ganz furchtbar, daß das wirklich alles nur berechnet wird. Wenn ich auch einsehe, daß auch ein gewisses Gleichgewicht sein muß; das streitet niemand ab. Aber ich denke doch, daß man sich als älterer Mensch eben auch durch so etwas ein bißchen beeinträchtigt fühlt; genau wie dieses Unwort des Jahres „sozialverträgliches Frühableben„, na das ist doch furchtbar!

H. Krappatsch: Ich möchte nochmal eine ganz unwissenschaftliche Bemerkung machen. Ich habe mitunter den Eindruck, als ob es der Politik ganz recht ist, wenn sich Junge und Alte als Gruppen gegeneinander stellen; damit lassen sich Fehler vertuschen, die insgesamt gemacht werden. Ich habe mal Anfang der 60er Jahre einen Vortrag im DGB gehört, da hat der Vortragende gesagt, von einer Aufteilung zwischen Dienstleistung und produzierender Arbeit am Anfang des Jahrhunderts 10:90 ergebe sich eine absolute Umkehrung auf 90:10, also 90 Prozent Dienstleistung am Ende des vorigen Jahrhunderts und 10 Prozent nur noch produzierende Arbeit. Das waren Entwicklungen, wie wir sie heute haben, die lange vorhergesehen worden sind. Darauf ist nicht eingegangen worden und es fügt sich ganz leicht ein, in der Politik mit solchen Verschleierungsspielen Jung gegen Alt zu hetzen. Und Journalisten gehören ja noch zu den Jüngeren, die haben ja auch ein Interesse daran, sich mit solchen Dingen in die Verkaufsquoten einzubringen. Also eine unwissenschaftliche Bemerkung, ich gebe es zu. Danke.

Manfred Schott: Ja, ich hätte auch einmal die Frage, wieviel Menschen erträgt der Erdball? Man kann ja nicht nur alles national sehen, wobei einem natürlich das Hemd näher ist wie der Rock. Ich möchte weiter daran erinnern: wir haben immer noch einige Millionen Arbeitslose; in den letzten Jahren haben die Kinder ja gar keine Lehrstellen mehr gekriegt: Es hat sich etwas geändert, seit wir die neue Regierung haben. Aber vorher war das ja katastrophal, man hat pro Kind jeweils 40, 50 Bewerbungen schreiben müssen, daß sie irgendwo untergekommen sind, und viele sind dann trotzdem nicht untergekommen. Dann gibt es einen weiteren Faktor, die Wohnungen und alles was dazugehört. Ich denke, daß das für Familien nicht gerade erfreulich ist, wenn sie sich mit solchen Dingen herumschla-

[Seite der Druckausg.:127]

gen müssen, wenn man sich das Leben auch etwas bequemer machen kann.

A. Braun: Liebe Frau Jani; Sie behalten doch die Chance, morgen einigermaßen ausgeschlafen nach Straßburg zu kommen. Ich bedanke mich nochmals für Ihren Beitrag am späten Abend, der wegen der Terminschwierigkeiten ganz ans Ende gerutscht ist. Trotzdem vielen Dank und gute Reise. Ansonsten wünsche ich uns allen einen schönen Abend.

[Seite der Druckausg.:128 = Leerseite]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 2001

Previous Page TOC Next Page