FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 54 (Fortsetzung)]

A. Braun: Ich begrüße jetzt Frau Schäfer-Walkmann. Sie stellen sich kurz vor und dann gehen wir unmittelbar in die Frage nach den Pflege-Standards.

Susanne Schäfer-Walkmann: Ja, meine sehr verehrten Damen und Herren, zunächst herzlichen Dank auch von meiner Seite für die Einladung hier zu dem Freudenstädter Forum in der Fritz Erler Akademie. Damit Sie wissen, wer Sie jetzt die kommende Stunde um Ihre Aufmerksamkeit bittet und wer auch wieder einen so etwas undankbaren Part theoretischer Ausführungen übernommen hat, möchte ich mich auch kurz vorstellen. Ich habe zuerst in München an der Katholischen Stiftungsfachhochschule Sozialpädagogik studiert und dann auch in der ambulanten Altenarbeit gearbeitet. Im Rahmen eines Zweitstudiums habe ich an der Universität Augsburg die Fächer Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre belegt. Ich arbeite momentan als freiberufliche Mitarbeiterin und wissenschaftliche Beraterin, schwerpunktmäßig an zwei Forschungsprojekten. Eines betrifft die ambulante Versorgung geronto-psychiatrisch erkrankter Patienten: das Modellprojekt des geronto-psychiatrischen Verbundes Schwaben; dort bin ich im Projektmanagement tätig. Zum anderen war ich beteiligt an einer Studie zur Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit der Pflegeleistungen in stationären Pflegeeinrichtungen in Baden.

Und aus dieser Studie - die ist dieser Tage weitgehend fertiggestellt worden - werde ich Ihnen auch einige Ergebnisse präsentieren, die also brandaktuell sind. Die ganze Studie oder genauere Daten kann ich noch nicht vorstellen, weil der Auftraggeber die noch nicht freigegeben hat, sie wird aber in den nächsten Wochen dann auch erscheinen. Ich habe meine Ausführungen in drei Teile untergliedert und ich werde zunächst versuchen, mich dem Gegenstand „geriatrische Pflege" zu nähern. Ich möchte Ihnen das eigentlich nicht ersparen und mich auch um begriffliche Klärung bemühen. Denn ich denke, wir reden hier über etwas sehr Schwieriges, sehr Komplexes. Ich werde anschließend eine Systematisierung zentraler Begriffe des Leistungsrechtes vornehmen, also versuchen, die Begriffe

[Seite der Druckausg.: 55]



Wirtschaftlichkeit, Notwendigkeit, Pflegestandards auch etwas mit Hintergrund zu füllen. Der zweite empirische Teil meiner Ausführungen stützt sich auf die angesprochene Studie, die Frau Prof. Dr. Anita Pfaff mit einem Augsburger Forschungsteam für den Landeswohlfahrtsverband Baden in den Monaten von Februar 1999 bis September 1999 durchgeführt hat. Abschließen werde ich mit einigen Bemerkungen und Ausführungen im Hinblick auf das Gesamtmotto dieses Forums.

Die Untersuchung von Pflegeleistungen in stationären Pflegeeinrichtungen stellt einen komplexen Gegenstand, die geriatrische Pflege, in den Mittelpunkt der Betrachtung. Vom Grundsatz her und idealerweise handelt es sich um eine fordernde, aktivierende und rehabilitative Pflege, die als fundamentale Zielsetzungen sowohl die Erhaltung der Gesundheit, das Verhüten von Krankheiten, das Gesundwerden, die Steigerung des Wohlbefindens sowie den Erhalt von Kompetenzen beispielsweise durch geeignete kurative und rehabilitative Maßnahmen, aber auch die Minderung von Leiden, beispielsweise durch Schmerztherapie bis hin zu einer humanen Begleitung Sterbender verfolgt. Die pflegerische Hilfeleistung setzt gezielt

[Seite der Druckausg.: 56]

an denjenigen Lebensaktivitäten an, zu denen die alten Menschen selbst nicht mehr in der Lage sind und ist darauf ausgerichtet, unter Einbeziehung der Umgebung im Interesse der Person zu handeln, sie zu beraten, zu unterstützen und anzuleiten. Wie gesagt, idealerweise.

Als wesentliche Elemente der pflegerischen Praxis lassen sich über alle Theorien hinweg der Grundsatz der Selbstpflege, der Grad der pflegerischen Selbstversorgung bzw. der Grundsatz des Selbstpflegedefizits und der Grundsatz des Pflegesystems als Erzeugnis, welches die Pflegekräfte herstellen, identifizieren. Diese sehr allgemeinen Grundzüge pflegerischen Handelns können durch die folgenden Punkte spezifiziert werden:

Eine Analyse, Bewertung und Gestaltung solcher personenbezogener Dienstleistungen muß der Besonderheit des Gegenstands Rechnung tragen, da sich die Aufmerksamkeit - jetzt aus volkswirtschaftlicher Sicht - neben Arbeit und Technik auch auf das Produkt richtet. Nach Badura gilt die Ko-Erstellungs-These: Leistungsgeschehen und Leistungsergebnis sind abhängig von zwei Leistungserstellern, die in der Situation zusammentreffen, in einer stationären Pflegeeinrichtung beispielsweise von Pflegekraft und Bewohner. Diese Interaktionsbeziehung, die Häufigkeit und Intensität der Kontakte sind maßgeblich für die Organisation der Dienstleistung, für

[Seite der Druckausg.: 57]

die Handlung und auch für die Qualität und für die Beurteilung der Dienstleistung. Im Idealfall besteht in der Pflegesituation mit einigen Einschränkungen so etwas wie eine Gleichwertigkeit.

(Legt eine Folie auf: Und bitte jetzt nicht erschrecken, ich erzähle Ihnen, was da drin steht in den Kreisen, es ging auf der Vorlage nur nicht größer.)

In der pflegerischen Situation drückt sich diese Mehrdimensionalität durch die gleichzeitige Wirkung der Dimension des Pflegeprinzipes auf Y-Achse und der Pflegeorganisationsform auf der X-Achse aus. Diese von Büssing übernommene Darstellung leistet eine Klassifikation unterschiedlicher Pflegesysteme. Er verortet die Funktionszentriertheit und Patientenorientiertheit im Pflegeprinzip und in den Kategorien Station, Pflegegruppe, Bereich, Zimmer, Patient. Als Größe hergestellt wird ein empirischer Zusammenhang zwischen dem Grad der Patientenorientierung und der Pflegeorganisationsform. Je kleiner der Zuständigkeitsbereich der Pflegekraft ist, desto günstiger sind die Voraussetzungen zur Umsetzung einer Patientenorientierung. Dieser Sachverhalt wird durch die Größe der Kreise veranschaulicht. Also wenn Sie eine Pflegekraft haben, die ganzheitliche Zimmerpflege betreibt - das wäre jetzt dieser Kreis hier oben - dann hat die Pflegeperson relativ wenige Pflegebedürftige, um die sie sich kümmern muß, und sie kann sich so dem Einzelnen mehr zuwenden. Bei der traditionellen Funktionspflege bezieht sich das mehr auf eine Station, auf den Stationsablauf, hier hat eine Pflegeperson eben sehr viel mehr Bewohner. Deutlich wird auch, daß sich die bekannten neuen Formen der Pflege, Stationspflege, Gruppenpflege, Bereichspflege, Zimmerpflege, Funktionspflege, Individualpflege, Progressivpflege, Bezugspflege und finally nursering in die Systematik einordnen lassen.

Bezogen auf die in stationären Einrichtungen der Altenhilfe geleisteten pflegerischer Handlungen ist mit dieser Konzeption davon auszugehen, daß sich Unterschiede in den beobachtbaren und auch in den beobachteten Leistungen sowohl in diesem dort zur Anwendung kommenden Pflegeprinzip als auch in der Pflegeorganisationsform begründen. Wird beispielsweise in einer Einrichtung ganzheitlich gepflegt, was immer das auch heißen mag, dann ist nach dieser Klassifikation anzunehmen, daß die ein-

[Seite der Druckausg.: 58]

zelnen Pflegekräfte lediglich für einen Teil der Bewohner auf einer Station und keinesfalls für die gesamte Station zuständig sind. Mit anderen Worten bleiben die pflegerischen Aufgaben dann zergliedert oder auch unvollständig, wenn wenige Pflegepersonen für viele Bewohner zuständig sind. Ist dies der Fall, sind im Hinblick auf die Pflegeorganisationsform - also hier auf dieser Achse - eingeschränkte Planbarkeit der Tätigkeiten, reduzierte Transparenz der Aufgaben und Kompetenzen, unzureichende Informations- und Kommunikationsströme und mangelnde Umsetzbarkeit des Pflegeprozesses festzuhalten. In der Konsequenz, und darum geht es mir auch heute, bleibt für die einzelne beobachtbare Tätigkeit, die man bei einer Pflegeperson am Bewohner in ihrem Arbeitsalltag beobachten kann, weniger Zeit für die Durchführung.

Nach diesen einführenden Bemerkungen zur geriatrischen Pflege möchte ich mich nun der zentralen Fragestellung meiner Ausführungen zuwenden: wie können Pflegeleistungen mit welchen Standards finanziert werden? Diese Fragestellung birgt, vielleicht nicht unbedingt auf den ersten Blick, einige ganz gemeine Fallstricke und müßte eigentlich lauten: welche Pflegeleistungen können mit den ausgehandelten Pflegesätzen von stationären Einrichtungen erbracht werden, oder was erhält der Pflegebedürftige an Leistungen für seine Bezahlung? Also Sie sehen hier die Doppeldeutigkeit oder die Mehrdeutigkeit der Fragestellung. Es geht also zunächst um den Begriff der Pflegeleistung. Was sind Pflegeleistungen? Von wem werden Sie erbracht? Werden sie nur von Pflegekräften erbracht? Gibt es andere Berufsgruppen? Wie hoch werden sie vergütet? Der Terminus „Standard" weist in eine andere Richtung und hängt eng zusammen mit Fragen der pflegerischen Versorgungsethik. Was sind notwendige Standards in der stationären Versorgung Pflegebedürftiger? Welche qualitativen Unterschiede sind in der Ausführung gleicher Tätigkeiten erkennbar? Wäscht beispielsweise Pflegekraft A genauso wie Pflegekraft B oder gibt es da Unterschiede? Nach welchem Paradigma wird in den Einrichtungen gepflegt? Gibt es eine ganzheitliche Pflege? Gibt es eine aktivierende Pflege? Schließlich geht es um die Finanzierbarkeit bzw. die monetäre Bewertung der Leistungen: worin begründen sich Unterschiede in den einzelnen Pflegesätzen? Sind die ausgehandelten Pflegesätze ausreichend, um eine dem Gesetz entsprechende Pflege zu erbringen? Wird das Maß des Notwendigen an humaner Pflege geleistet, unter- oder sogar über-

[Seite der Druckausg.: 59]

schritten? Ich werde Ihnen diese Frage nicht abschließend beantworten, aber ich hoffe, ich habe Sie ein bißchen neugierig gemacht auf das, worauf ich jetzt im Folgenden eingehen möchte.

Ich komme zunächst zu den Pflegeleistungen. Pflegeleistungen sind im Pflegeversicherungsgesetz nicht festgelegt, sondern es wird auf abzu-schließende Rahmenverträge der einzelnen Bundesländer hingewiesen. Und wir haben auch deshalb in Deutschland eine Situation, wo sehr unterschiedliche Pflegesätze in den Bundesländern gelten und wo auch die Versorgung in den Heimen sehr unterschiedlich ist. Die Regelungsverantwortung für die Inhalte der Pflegeleistung ist auf der Länderebene angesiedelt. Die Bundesregierung wird allerdings unter bestimmten Voraussetzungen ermächtigt, durch Rechtsverordnungen den Inhalt der Pflegeleistungen festzulegen. Der für das Land Baden-Württemberg gültige Rahmenvertrag regelt den Inhalt der Pflegeleistungen gemäß Paragraph 75 Abs.1 SGB XI. Danach beinhalten die Pflegeleistungen die im Einzelfall erforderliche Hilfe zur Unterstützung, zur teilweisen oder zur vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder zur Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen. Die Hilfe soll die Maßnahmen enthalten, die die Pflegebedürftigkeit mindern sowie eine Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit und der Entstehung von Sekundärerkrankungen vorbeugen. Zu den Pflegeleistungen gehören im Einzelnen Hilfen bei der Körperpflege, Hilfen bei der Ernährung, Hilfen bei der Mobilität, Hilfen bei der persönlichen Lebensführung, Leistungen der sozialen Betreuung sowie Leistungen der medizinischen Behandlungspflege.

Darüber hinausgehende Leistungen sind Zusatzleistungen, vom Pflegebe-dürftigen individuell wählbar und gesondert abzurechnen. Die vom Gesetzgeber vorgesehene inhaltliche Abgrenzung der Pflegeleistungen zu den Zusatzleistungen in den Rahmenverträgen regelt damit den Inhalt der notwendigen Pflegeleistung und hat somit normativen Charakter. Anders sieht es bei der Art der Durchführung der Pflege aus. Der Gesetzgeber fordert ausdrücklich, daß Pflege auch die Aktivierung des Pflegebedürftigen zum Ziel haben soll. Darüber hinaus sollen bei der Leistungserbringung die Bedürfnisse nach Kommunikation berücksichtigt werden. Beides kann so interpretiert werden, daß hier wesentliche pflegerische Ziele und

[Seite der Druckausg.: 60]

Handlungsbestimmungen formuliert werden, sodaß sich das Pflegeversicherungsgesetz und insbesondere das Leistungsrecht als Konkretisierung grundgesetzlicher Wertvorstellungen eines menschenwürdigen Daseins verstehen läßt. Im Gesetz wird die aktive Einbeziehung des Pflegebedürftigen in die Pflege als wesentliche Voraussetzung angesehen, die Pflegebedürftigkeit zu überwinden, den Pflegezustand zu verbessern oder einer Verschlimmerung vorzubeugen. Anzustreben durch aktivierende Pflege sind dabei die Erhaltung der vorhandenen Selbstversorgungsfähigkeiten - Sie erinnern sich an das Prinzip Selbstversorgungsdefizite oder Selbstversorgungsfähigkeiten, die übrig geblieben sind - und die Reaktivierung verloren gegangener Fähigkeiten, also der therapeutisch-rehabilitative Charakter der Tätigkeit und die Verbesserung der Kommunikation bei der Leistungserbringung, weil Pflege eine hochgradig kommunikative Tätigkeit ist. Die Pflege soll personen- und zuwendungsorientiert sein und erfordert individuelles Vorgehen sowie persönliche Anteilnahme und Ansprache. Der gesamte Aufwand für die Erhaltung oder die Wiederherstellung der Selbsthilfe oder Selbstbestimmungsfähigkeit soll als Bestandteil der aktivierenden Pflege Gegenstand der Pflegehilfen und somit der Pflegeleistungen sein. Sie sehen hier sehr viele Formulierungen „soll", „müßte", „könnte", das weist schon auf eine Problematik hin, auf die ich dann später eingehen werde.

Ich komme zu den Pflegesätzen. Das Pflegeversicherungsgesetz legt fest, daß die Pflegesätze leistungsgerecht sein müssen und daß sie einer Pflegeeinrichtung bei wirtschaftlicher Betriebsführung ermöglichen, ihren Versorgungsauftrag zu erfüllen. Also die Pflegesätze stehen ja in sehr engem Zusammenhang mit den eigentlich geforderten Pflegeleistungen. Damit zielte man darauf ab, die im Regierungsentwurf mit Nachdruck geforderte Abkehr vom Selbstkostendeckungsprinzip zu erreichen. Der Gesetzgeber sieht prospektive Pflegesätze vor, wobei der nachträgliche Ausgleich nicht gedeckter Kosten ausgeschlossen wurde. Damit sind die Pflegesätze eng an die tatsächlich erbrachten Leistungen eines Pflegeheimes gebunden.

Der Begriff Leistungsgerechtigkeit wird noch über eine zweite Regelung definiert, wonach es die Pflegesätze einem Pflegeheim bei wirtschaftlicher Betriebsführung ermöglichen müssen, seinen Versorgungsauftrag zu erfüllen. Den Pflegeheimen muß somit die Erbringung der in den Rahmenver-

[Seite der Druckausg.: 61]

trägen normativ festgehaltenen Leistungen möglich sein. Folglich müssen die Pflegesätze die Gestehungskosten für eine bedarfsgerechte Pflege bei wirtschaftlicher und sparsamer Betriebsführung abdecken. Durch die Bindung der Pflegesätze an die tatsächlich erbrachten Leistungen eines Pflegeheimes ist eine Einzelfallverhandlung notwendig und auch gesetzlich vorgeschrieben. Die Pflegeheime haben grundsätzlich Anspruch auf individuell verhandelte Pflegesätze, wobei sich die Leistungsgerechtigkeit der Pflegesätze nicht nur auf die Kostensituation des einzelnen Heimes, das jetzt da verhandelt, bezieht: sondern es dürfen zur Ermittlung der Pflegesätze auch Daten von vergleichbaren Pflegeheimen herangezogen werden. Allerdings werden die Pflegekassen verpflichtet, bei den Vergütungsvereinbarungen die Vielfalt, die Unabhängigkeit und Selbständigkeit sowie das Selbstverständnis der Träger von Einrichtungen in Zielsetzung und Durchführung ihrer Aufgaben zu achten.

Die Pflegesätze sind zur Konkretisierung des Pflegeaufwandes bei den einzelnen Pflegebedürftigen nach Vergütungsklassen einzuteilen. Dabei sind die Pflegestufen nach §15 SGB XI zugrunde zu legen, soweit nicht nach der gemeinsamen Beurteilung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen und der Pflegedienstleitung die Zuordnung zu einer anderen Pflegeklasse notwendig oder ausreichend ist. Diese Zuordnung kann nur als eine allgemeine Richtschnur interpretiert werden. Bei der Bemessung des Zeitaufwandes für die Pflege sollen auf der Grundlage von Erfahrungswerten für typische Gruppen von Pflegebedürftigen Durchschnittswerte gebildet werden, die auch in anderen Fällen als Maßstab herangezogen werden können. Und genau aufgrund dieser Bestimmung haben wir ein großes Durcheinander: denn diese Studien, die da zur Bildung der Durchschnittswerte herangezogen werden, die gehen in der Regel mit einer sehr unterschiedlichen Methodik vor, kommen zu vollständig verschiedenen Zeitwerten, so daß man gelegentlich sehr verwirrt ist, was jetzt eigentlich tatsächlich das Maß des Notwendigen an aktivierender, guter Pflege ist. Das ist die Problematik, die da entsteht; aber alle Beteiligten sind sich inzwischen einig, daß es sich um eine beruflich ausgeübte Tätigkeit handelt, die man mit bestimmten Methoden der Arbeitsbewertung und Messung durchaus erheben, bewerten und qualifizieren kann.

[Seite der Druckausg.: 62]

Alle Pflegesätze sind differenziert nach Pflegestufen und setzen sich folgendermaßen zusammen: Sie haben direkte Kosten, also zurechenbare Pflegezeiten, und Sie haben indirekte Kosten, die auf der Station entstehen und dem Bewohner nicht individuell zugerechnet werden können, sondern nur anteilig. Bei unserer Studie, auf die ich später zurück kommen werde, liegen also diese direkten und indirekten Kosten in den einzelnen Beispielen zwischen 31 und 58 Mark in der Pflegestufe Null, zwischen 50 und 80 Mark in der Pflegestufe 1, bei Pflegestufe 2 zwischen 60 und 100 Mark und in der Pflegestufe 3 zwischen 100 und 126 Mark. Pflegesachleistungen inklusive sozialer Betreuung werden ja zu 100 Prozent übernommen. Unterkunft und Verpflegung zahlt der Pflegebedürftige selbst, wenn sein Einkommen nicht ausreicht, springt die Sozialhilfe ein. Und Investitionskosten sind auch noch extra geregelt. Also Sie haben hier eine Mischfinanzierung.

In §11 Abs.1 SGB XI ist der grundsätzliche Qualitätsanspruch der Pflegeversicherung festgelegt. Dort steht, die Pflegeeinrichtungen pflegen, versorgen und betreuen die Pflegebedürftigen, die ihre Leistungen in Anspruch nehmen, entsprechend dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Kenntnisse. Inhalt und Organisation der Leistungen haben eine humane und aktivierende Pflege unter Achtung der Menschenwürde zu gewährleisten. Und diese Pflege ist nachmeßbar und ist beurteilbar.

Nach diesen vielen theoretischen Ausführungen möchte ich ihnen jetzt einige empirische Ergebnisse vorstellen. Zunächst zur Konzeption: wir haben in Augsburg einen Studienauftrag bekommen, uns über die Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit von Pflegeleistungen in stationären Pflegeeinrichtungen den Kopf zu zerbrechen. Wir haben dann gesagt, wir gehen von einem weitgefaßten Begriff der ganzheitlichen Pflege aus - weil dieses Wort ja in aller Munde ist - und wir wollen sowohl die Perspektive der Bewohner einer stationären Pflegeeinrichtung als auch die Perspektive der Pflegekräfte in die Untersuchungskonzeption einbetten. Die Spannbreite pflegerischer Tätigkeiten wird dabei ebenso berücksichtigt wie die vielfältigen organisatorischen Bezüge der Pflegetätigkeit. Für unsere Untersuchungskonzeption haben wir ein Konglomerat verschiedener Untersu-

[Seite der Druckausg.: 63]

chungsbausteine ausgewählt. Und zwar wollten wir die folgenden Aspekte vertiefend betrachten:

  • zum einen die pflegerischen Tätigkeiten der Mitarbeiter, und zwar aller Mitarbeiter, auf ausgewählten Stationen;

  • die pflegerischen Bedürfnisse der Bewohner, nicht nur nach ihrer Pflegeeinstufung, die vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen vorgenommen wird, sondern auch nach ihren pflegerischen und medizinischen Diagnosen, wie sie sich in der Pflegedokumentation wiederfinden;

  • wir wollten, ergänzend dazu, die subjektive Einschätzung der Arbeitssituation durch die Mitarbeiterinnen durch eine Mitarbeiterbefragung erheben;

  • und wir haben dann noch als Baustein hinzugenommen eine Angehörigen- bzw. Betreuerbefragung, um noch eine subjektive Sicht der Einschätzung dieser Versorgungsleistungen in Heimen von außen zu bekommen.

  • (Es war ursprünglich auch geplant, die Bewohner zu befragen, aber es stellte sich heraus, daß die Bewohnerstruktur zu problematisch war und auch nach Rücksprache mit den Heimen, daß es mehr Sinn macht, die betreuenden oder versorgenden Angehörigen zu befragen.)

  • Und schließlich die Kostenstruktur und Belegungssituation in den untersuchten Einrichtungen durch einen Erfassungsbogen zur Kostenstruktur und Belegungssituation, wo uns die Heime freundlicherweise sehr umfangreiche Daten aus dem Jahr 1998 als volles Bezugsjahr zur Verfügung gestellt haben.

Wir sind davon überzeugt, daß mit dieser Konzeption ein wesentlicher Vorteil verbunden ist, der anderen Studien teilweise abgeht: wir haben, denke ich, in diesen Stationen den Versorgungsablauf relativ vollständig erfaßt und wir haben auch arbeitsorganisatorische Restriktionen berücksichtigen können. Wir konnten sowohl direkte als auch indirekte pflegerelevante Leistungen erheben. Die vorgestellte Untersuchungskonzeption ermöglicht es, im Pflegesatz entgoltene und zusätzliche Leistungen für die Pflegebedürftigen in den einzelnen Pflegestufen darzustellen, die Kosten-

[Seite der Druckausg.: 64]

strukturen in den einzelnen Einrichtungen zu analysieren, Unwirtschaftlichkeiten zu identifizieren und auch die Organisations- und Arbeitsabläufe darzustellen. Darüber hinaus werden Aspekte von Struktur-, Prozeß- und Ergebnisqualität berücksichtigt.

Die Untersuchung setzte sich, wie gesagt, aus mehreren Bausteinen zusammen. Zentral war eine teilnehmende Beobachtung aller Beschäftigten, und zwar von Pflegefachkräften, Pflegehilfskräften, Schwesterschülerinnen, Zivildienstleistenden, Hauswirtschafterinnen usw. auf diesen ausgewählten Stationen - in einer Einrichtung sogar des ganzen Heimes - und zwar rund um die Uhr an drei Tagen und zwei Nächten. Es war also die lückenlose Erfassung aller geleisteten und vollbrachten Handlungen auf der jeweiligen Station. Man muß sich das so vorstellen, daß jede Mitarbeiterin, jeder Mitarbeiter einen „Schatten" von uns bekam, der während diesem ganzen Zeitraum mit einer Uhr in der Hand nebenher, hinterher lief und die ganzen Tätigkeiten protokolliert hat - also die haben dann natürlich gewechselt; mit dem Schichtwechsel kamen auch andere Beobachter. Die Schatten sind ihnen tatsächlich auch auf die Toilette gefolgt, nur sind sie dann natürlich vor der Tür stehen geblieben. Erfaßt wurden die Zeitwerte für erbrachte Tätigkeiten an drei Tagen rund um die Uhr mittels eines arbeitswissenschaftlich fundierten Erhebungsinstrumentes. Wir sind davon ausgegangen, daß sich die pflegerischen Tätigkeiten in den Tagschichten, vor- und nachmittags, von denen in der Nacht unterscheiden und an Wochentagen und Wochenenden auch anderer Personalbedarf oder eine andere Arbeitsorganisation, andere Aufgabenbereiche bestehen, so daß wir die Untersuchung sowohl an Wochenendtagen als auch an Wochentagen durchgeführt haben. Zentral für das vorliegende Gutachten ist der Ansatz dieser dualen Arbeitssituationsanalyse, der das Arbeitssystem stationärer Altenpflege durch eine Kombination geeigneter Arbeitsanalyseverfahren sowohl im Hinblick auf die technisch-organisa-torische Ausgestaltung des Arbeitssystems als auch hinsichtlich der von der Gesamtheit der beteiligten Individuen wahrgenommenen und erlebten Ar-beitsbedingungen und Lebensqualität untersucht wird.

Ergänzt wurde diese Dokumentation durch eine weitere Beobachtung: auf dieser Station haben wir also Mitarbeiter und Bewohner; sie bilden unsere erste innere Zelle, den inneren Kern der Untersuchung; und wir haben

[Seite der Druckausg.: 65]

aber auch protokolliert, wer geht in dem Pflegezeitraum von diesen drei Tagen und zwei Nächten sonst noch auf die Station, in die Station hinein und wer geht wieder raus. Das ist etwas, was viele Studien einfach vernachlässigen. Es kam auch heraus, daß diese stationsfremden Personen einen nicht unerheblichen Anteil pflegerischer Leistungen erbringen. Das heißt, wir haben da an den Türen einen sogenannten Gatekeeper hingesetzt, und der hatte nichts weiter zu tun als jeden, der kam, zu fragen, wer sind Sie, was machen Sie hier und für wieviele Menschen machen Sie etwas auf dieser Station. Also als das lief, das gab es dann zum Teil etwas lustige Begegnungen, manchmal war es auch etwas schwierig, aber an sich war die Stimmung während der Untersuchung überraschenderweise sehr, sehr gut.

Der Baustein zwei war dann die Dokumenten-Analyse und wir haben, wie gesagt, uns nicht nur auf die Pflegeeinstufungen der Bewohner bezogen in der Auswertung, sondern auch auf die medizinischen und pflegerischen Diagnosen und ich denke, wir haben es geschafft, durchaus Unterschiede in der Versorgung geronto-psychiatrisch Erkrankter festzustellen im Vergleich zu rein somatischen Fällen. Und es kommen auch in den Zeitwerten für die Betreuung deutliche Unterschiede raus, was die Anforderungen an das Pflegepersonal betrifft, je nachdem wie sich die Bewohnerstruktur auf der Station darstellt.

Der Baustein drei, die Mitarbeiterbefragung, betrifft jetzt ein mehr subjektives Element der Arbeitssituation und hier wurden berücksichtigt die Parameter Arbeitsbelastung, Arbeitsbeanspruchung, Streß, Zufriedenheit, Betriebsklima und diese Ergebnisse haben wir dann geschnitten mit dem eingesetzten Zeitaufwand für Pflege. Die Fragen stellten auch ganz stark darauf ab zu schauen, sind Pflegekräfte beispielsweise zufriedener, wenn sie mehr Zeit für pflegerische Handlungen haben oder ergeben sich Unterschiede zwischen Vollzeitkräften und Teilzeitbeschäftigten und die Ergebnisse sind teilweise sehr erstaunlich.

Die Angehörigen- und Betreuerbefragung ist als zusätzlicher Baustein aus der subjektiven Sicht der Bewohner hinzugekommen. Wir haben eben auf diese face-to-face-Interviews mit den Bewohnern verzichtet, es waren Stationen mit einem hohen Anteil - also von daher waren sie eigentlich schon

[Seite der Druckausg.: 66]

sehr typisch - an Schwerpflegebedürftigen oder an Pflegebedürftigen von Stufe zwei aufwärts und wir wollten da nicht noch mehr Unruhe in die Station hineinbringen. Diese Angehörigen- und Betreuerbefragung rundet dann doch das Bild ab, zumindest für den Eindruck, den wir dann aus der Mitarbeiterbefragung und aus der Tätigkeitsanalyse gewonnen haben.

Und der Erfassungsbogen Kostenstruktur und Belegungssituation, der hat uns also geholfen zu zeigen, zum einen Teil welche Leistungen mit welchen Standards erbracht werden, zum anderen Teil auch, welche Leistungen der Pflegebedürftige in der Einrichtung für sein Geld, für seinen Pflegesatz, erhält.

Dieses Vorgehen impliziert eine ganze Reihe von Vorweg-Annahmen. Deshalb hat uns jeder gesagt, das geht gar nicht. Also das war mal das Erste: ein Aufschrei ging durch die Republik, zumindest durch Bayern, denn Bayern ist ja der Nabel auch der Pflege-Republik! Bei den Schwierigkeiten und Belastungen durch die Pflegetätigkeit hat man uns gesagt, da wird sich niemand bereit erklären mitzumachen, das werdet ihr vorher abbrechen müssen usw.. Das war faktisch nicht der Fall: die Einrichtungen haben sich freiwillig an dieser Untersuchung beteiligt; sie sind uns zwar vom LWV benannt worden, also idealerweise im wissenschaftlichen Sinn wäre es gewesen, wir hätten aus allen badischen Einrichtungen sechs zufällig ausgewählt, das war nicht der Fall. Also wir haben das in sechs Einrichtungen durchgeführt, die sind uns vorgeschlagen worden, Einrichtungen unterschiedlicher Größe, unterschiedlicher Trägerschaft und es waren keine Einrichtungen, die in irgendeiner Form besonders herausgeragt hätten, was die Höhe der Pflegesätze anbelangt oder den Personalschlüssel. Es waren „normale" Pflegeeinrichtungen, damit auch die Ergebnisse vergleichbar sein konnten.

Wir sind also davon ausgegangen, daß man nicht nur die Tätigkeiten untersuchen muß, wenn man diesen komplexen Gegenstand Pflege sich anschaut, sondern daß diese Pflegeleistung ja eine weitere Dimension hat, nämlich die Kommunikationsform zwischen Bewohner und Pflegekraft und auch die Ausführungsform der Tätigkeit. Denn, gleichzeitig mit der Tätigkeit, die ich dort durchführe, kommuniziere ich. Und ich handle in irgendeiner Art und Weise dergestalt, daß ich ja nach diesem Leitbild der

[Seite der Druckausg.: 67]

aktivierenden Pflege im Hinterkopf handle. Und dies haben wir berücksichtigt, indem unsere Beobachterinnen nicht nur die Tätigkeit protokolliert haben, sondern gleichzeitig die Ausführungs- und Kommunikationsform. Wir sind davon ausgegangen, daß im Falle hocharbeitsteiliger Prozesse eine soziale Beziehungslosigkeit zwischen Bewohner und Pflegekraft verstärkt wird. Wenn Pflegekräfte sehr viele Tätigkeiten im Tagesablauf in schneller Abfolge machen müssen aus zeitlichen Gründen, weil einfach nicht mehr Personal da ist, dann heißt das auch, daß sich das in der Pflege am und für den Bewohner ausdrückt. Mit anderen Worten, es wird wahrscheinlich mehr Pflege am Bewohner statt mit ihm sein und es wird weniger Zeit bleiben, anzuleiten und anzuregen. Vielmehr werden Tätigkeiten aufgrund der Zeitökonomie übernommen, weil es schneller geht, weil es routinierter von den Profis allein gemacht wird. Die Beobachtung der pflegerischen Tätigkeit bezieht sich in unserer Studie auf die Parallelität von Handlung, Kommunikation und Ausführungsform. Die erfaßten Zeitwerte bilden diese erbrachten Leistungen auch unter anderen Perspektiven ab. Was wir nicht gemacht haben ist eine Beurteilung der Qualitätsunterschiede. Das heißt, wir kommen nicht zu Ergebnissen, in einem Heim wird besser und in dem anderen wird schlechter gepflegt. Das kann man nicht leisten, da hätten Sie Beobachter gebraucht, die in der Ausbildung von Pflegekräften tätig sind und das war natürlich so nicht zu bekommen.

Welches Ziel verfolgt nun eine Auswertung derartiger Tätigkeiten. Also ich beziehe mich jetzt hauptsächlich auf diese Tätigkeitsanalyse. Üblicherweise sind an der Versorgung und professionellen Pflege eben nicht nur die Pflegekräfte, sondern eine ganze Reihe von Personen unterschiedlicher Qualifikation beteiligt. Die Aufteilung ergibt sich zum einen aus den bei abhängig Beschäftigten durch Arbeitsvertrag oder auch durch Gesetz vorgeschriebenen Arbeitszeiten, zum anderen ermöglicht diese Art von Versorgung - und damit gehen auch Heime zunehmend um - eine Spezialisierung, die einerseits effizient und andererseits auch wirtschaftlich sein soll. So ist z.B. davon auszugehen, daß in den stationären Einrichtungen nicht alle Arbeiten von Fachkräften vorgenommen werden. Ganz klar, daß Fachkräfte jeweils einschlägig schwierigere Aufgaben übernehmen und daß Fachkräfte auch die ihrem Fach zugeordneten Tätigkeiten schneller durchführen als beispielsweise Hilfskräfte, Praktikantinnen oder Zivildienstleistende. Eine umfassende Betrachtung der Pflegetätigkeiten muß natür-

[Seite der Druckausg.: 68]

lich auch die vorgeschriebenen Regenerationsphasen, also Arbeitspausen, beinhalten, Arbeitsunterbrechungen, die menschlich ganz normal sind. Des weiteren erfordert auch die Nachhaltigkeit eine langfristige Reproduktion der Arbeitskräfte über eine dem Umfang und der Qualität nach das Maß des Notwendigen erreichende Ausbildung. Also wir haben durchaus diesen Aspekt mit berücksichtigt, daß es Pflegestationen gab, in der eine sehr große Zahl an Schülerinnen beispielsweise tätig war während der Erhebung, und daß manche anderen Heime auf die Ausbildung weniger Wert legen oder auch momentan Schwierigkeiten haben, Schülerinnen überhaupt ausbilden zu können.

Wir haben den ganzen Bereich geriatrischer Pflege untergliedert. Unsere Beobachter hatten dazu einen Protokollbogen, den habe ich Ihnen hier mal mitgebracht. Wir hatten dieses ganze Spektrum geriatrischer Pflege aufgeteilt nach diesen Begriffkategorien Grundpflege, Behandlungspflege, Hauswirtschaft, soziale Einzelbetreuung, Gruppenbetreuung, Management und Administration, stationsbezogene Tätigkeiten und Sonstiges. Dazu kam noch die Ausführungsform und die Kommunikationsform. Wir wollten das Ganze dann weiter operationalisieren. Sie müssen nun aber davon ausgehen, daß ein Beobachter nur eine bestimmte Zahl an Tätigkeiten unterscheiden und differenzieren kann. Auf der Ebene der Grundpflege beispielsweise die Tätigkeitsbereiche, die man dort eben sehen und beobachten konnte. Wir haben das dann so operationalisiert: die Grundpflege teilt sich auf in Körperpflege, Bett und Kleidung, Ausscheidung, Ernährung, Prophylaxe, Mobilisation und Sterben. Die Behandlungspflege hatte auch solche Tätigkeitsbereiche. Die Hauswirtschaft hatte solche Tätigkeitsbereiche. Und das war dann die Ebene, die die Erheber protokolliert hatten. Also die hat gesehen, eine Pflegekraft bezieht beispielsweise das Bett, und dann hat sie also von 8 Uhr 10 bis 8 Uhr 15 bei dem Tätigkeitsbereich Betten ein Kreuz gemacht und sie hat hier gewußt, aja, ich sehe, sie bezieht das Bett, da muß ich bei Betten ankreuzen und das kann man im Bereich „Grundpflege" finden. Dieses Item „Betten" wurde immer dann angekreuzt, wenn es darum ging, das Bett zu machen oder das Bett zu beziehen oder Lagerungshilfsmittel zu positionieren. Das wurde also dieser Tätigkeit „Betten", die beobachtbar ist, zugeordnet.

[Seite der Druckausg.: 69]

Die Erheber waren dann natürlich auch entsprechend geschult, sie haben immer gewußt, wann beginnt die Tätigkeit, wann wird sie durchgeführt und wann war sie wieder zu Ende; wann muß ich das Nächste ankreuzen. Also das Bereitstellen des Wäschewagens, da wußte er, ja, jetzt hat es irgend etwas mit Betten zu tun, dann hat sie gesehen, sie zieht das Bett ab und bezieht es und das Ende war dann, wenn sie die Bettwäsche im Zimmer entsorgt hat. Also so muß man sich das vorstellen, die Wegezeiten oder auch der Beginn der Tätigkeit wird immer der Tätigkeit zugeordnet, damit man auch einen lückenlosen Ablauf protokollieren konnte. Sie werden sich jetzt fragen, ja wenn jetzt da so viele Leute auf der Station waren und wie konnten die das alles wissen? Wir haben das natürlich ausgiebigst getestet in bayerischen Altenheimen, in zwei verschiedenen in Augsburg, und wir hatten Übereinstimmungsraten in den Zeiten. Bevor die Erheber geschult waren, war es ganz wichtig mal zu sehen, wie natürlich ist dieses Empfinden, was sie da wahrnehmen. Wir haben also in den Augsburger Altenheimen immer zwei Erheber mit einer Pflegekraft mitgeschickt und die haben protokolliert und wir haben dann geschaut, kommen die auf die gleichen Zeiten, auf die gleichen Zeiten für den Beginn und das Ende der jeweiligen Tätigkeit. Wir hatten also ohne Schulung Übereinstimmung in diesen Bereichen von 70 bis 90 Prozent und nach der Schulung nahezu 100 Prozent Übereinstimmung, daß es auf dieser Ebene erkennbar war. Sie können sich sicherlich vorstellen, daß wir die Ebene der Items nicht mehr auf dem Bogen ausdifferenziert hatten; wir können also Auswertungen nur bis zur Ebene der Tätigkeitsbereiche vorlegen. Aber das ist, denke ich, auch schon eine ganze Menge, was man dann darüber sagen kann.

Ich zeige Ihnen jetzt mal das Tätigkeitsprofil verschiedener Berufsgruppen in dieser stationären Pflegeeinrichtung; also das ist jetzt kein Optikertest, ich zeige Ihnen das, obwohl das auch wieder nicht größer ging. Also wir haben hier unsere Kategorien, die Grundpflege, und bei den Fachkräften ergibt sich hier ein Wert - diese ganzen Werte wurden dann auch noch normiert und bereinigt - die Fachkräfte haben 38 Prozent in ihrer Schicht mit Tätigkeiten der Grundpflege zu tun, bei den Hilfskräften ist der Wert ähnlich, bei Hauswirtschaftskräften sind das nur 7 Prozent des Arbeitstages. Die haben natürlich bei der Spezialisierung, die ich angesprochen habe, einen Riesenanteil an hauswirtschaftlichen Tätigkeiten. Schülerinnen

[Seite der Druckausg.: 70]

sind zu einem viel größeren Teil mit grundpflegerischen Tätigkeiten befaßt oder verwenden sehr viel Zeit, muß man sagen, für grundpflegerische Tätigkeiten, nämlich 53 Prozent, daneben gibt es noch Werte für Zivildienstleistende und Sonstige. Über alle Heime sind es 37 Prozent der Zeit während des Arbeitstages, die in grundpflegerische Tätigkeiten gehen, 14 Prozent in der Hauswirtschaft, im Management und in der Administration (unter diese Kategorie fiel auch der ganze Bereich der Pflegedokumentation).

Also sind es immerhin noch 37 Prozent bei den Fachkräften; diese Dinge können wir jetzt sagen, wir können diese Profile abbilden oder haben es gemacht nach unterschiedlichen Berufsgruppen. Wir haben es gemacht in der Differenziertheit dann noch auf der nächsten Ebene, so daß wir z.B. angeguckt haben, wofür geht denn die meiste Zeit der Grundpflege drauf. Also da ist es tatsächlich die Körperpflege und bei den Fachkräften auch der Bereich Ausscheidung. Wir können diese Profile erstellen nach unterschiedlichen Schichten - es wird tatsächlich nachts völlig anders gepflegt als am Tage, das ist ganz natürlich; nachts ist auch die Besetzung in den stationären Einrichtungen sehr viel anders. Und wir können jetzt auch noch sagen, daß gerade dieser Bereich Management und Administration, Verwaltung und auch Dokumentation doch sehr, sehr hohe Zeitwerte hat und das interessanterweise auch gerade bei Vollzeit- und Teilzeitkräften; bei Teilzeitkräften ist das dann natürlich auch überproportional viel.

Also das ist jetzt auf einem 24 Stunden-Tag umgerechnet; aber es sind die Angaben zu den Tätigkeitsprofilen für eine Durchschnittsschicht. Es sind also etwa 60 Prozent der Arbeiten direkte Tätigkeiten an der Bewohnerin, Grundpflege, Behandlungspflege, Hauswirtschaft, soziale Einzel- und Gruppenbetreuung. Und dieser Wert hier „soziale Einzel- und Gruppenbetreuung" ist bei Fachkräften mit 5 Prozent bei der sozialen Einzelbetreuung, ein Wert der sehr, sehr niedrig liegt; und die Zivis mit 8 Prozent haben noch den höchsten Wert an sozialer Einzelbetreuung, das heißt mal Zeit für ein Gespräch mit dem Bewohner oder mal sich um einen Bewohner gesondert zu kümmern.

Insbesondere die Frage nach dem Maß des Notwendigen kann ja eigentlich nur aus der Perspektive des Bewohners beantwortet werden. Bei die-

[Seite der Druckausg.: 71]

ser Fragestellung ging es uns um das sichtbare Ausmaß an pflegerischen Leistungen und ob das jetzt der Würde des Menschen entspricht und damit eben diese geforderten Inhalte des Gesetzes auch ausfüllt. Ich habe Ihnen das hier jetzt mal aus der Sicht des Bewohners umgerechnet; die Werte sind jetzt Nettowerte, die ein Bewohner während eines 24-Stunden-Tages an persönlicher Pflege erhält in Pflegestufe 1. Diese Pflege, die er bekommt, setzt sich zusammen aus Pflegezeiten, die ihm zugerechnet werden können. Unsere Beobachter sind ja mit den Pflegekräften mitgelaufen und hatten bei jeder Tätigkeit immer vermerkt, an welchem Bewohner das jetzt gemacht wurde. Und man kann also sagen, in 24 Stunden bekommt ein Bewohner der Pflegestufe eins in diesen stationären Pflegeeinrichtungen über alle Heime im Durchschnitt 49 Minuten Pflegezeit. Und er bekommt aber auch noch anteilig Leistungen, die für alle Bewohner erbracht wurden. Wir haben das dann umgerechnet, wenn eine Pflegekraft etwas gemacht hatte für die ganze Station, dann sind diese zu Teilen, also je nachdem wieviele Bewohner auf der Station waren, eingegangen und das macht über diesen 24-Stunden-Tag 31 Minuten aus. Diese Pflegezeit teilt sich dann weiter auf in Grundpflege zu 65,4 Prozent, Behandlungspflege 7,7 Prozent, Hauswirtschaft 9,6 Prozent, soziale Einzelbetreuung in Pflegestufe eins 6 Minuten und Management und Administration sind 2 Minuten, machen 3,8 Prozent aus.

Das sind jetzt also Nettowerte, da sind Arbeitsunterbrechungen nicht berechnet. Ich zeige Ihnen das jetzt mal für die Pflegestufe zwei. Wie gesagt, die Heime waren wirklich typisch, es waren mehr Bewohner in Pflegestufe zwei und drei. Ein Bewohner der Pflegestufe zwei erhält an persönlich zurechenbarer Pflegezeit 81 Minuten - in einem 24-Stunden-Tag, ich muß das immer wieder dazu sagen. Er bekommt natürlich auch wieder diesen Anteil an den Leistungen für alle Bewohner, seine 31 Minuten, und hier sind es jetzt 56 Minuten Grundpflege; also 71 Prozent dieser Tätigkeiten aller Beschäftigten sind dem Bereich Grundpflege zuzuordnen. 6 Minuten Behandlungspflege, Hauswirtschaft sind 11,4 Prozent, soziale Einzelbetreuung 7,6 Prozent.

Es wird Sie jetzt kaum verwundern, daß die Pflegestufe drei natürlich einen noch größeren Anteil an grundpflegerischen Leistungen hat. Die Pflegezeit sind 124 Minuten, Leistungen für alle Bewohner 31 Minuten, die

[Seite der Druckausg.: 72]

dazu kommen. Und hier sind 80 Prozent der Pflegezeit Handlungen der Grundpflege, Behandlungspflege 7 Minuten 5,6 Prozent. Mit 6,5 Prozent ist der Anteil hauswirtschaftlicher Leistungen wieder geringer, denn beispielsweise ist die Tätigkeit des Essengebens ja in der Grundpflegekategorie gewertet worden, während hauswirtschaftliche Tätigkeiten in Pflegestufe zwei beispielsweise bei manchen Bewohnern doch darin bestanden, daß sie noch in einen gesonderten Speisesaal zum Essen geführt worden sind und das wurde dann natürlich anders beobachtet und registriert.

Zwischenfrage: Wozu gehört denn das Lagern zum Betten oder zur Grundpflege?

S. Schäfer-Walkmann: Zum Betten in diesem großen Grundpflegebereich. Ja.

Zwischenfrage: Auch wenn es alle 2 Stunden gemacht werden soll?

S. Schäfer-Walkmann: Es sind 124 Minuten Pflegezeit in einem 24-Stunden-Tag. Plus Leistungen für alle, aber da können Sie die Leistungen der Grundpflege nicht dazu zählen, Leistungen für alle waren in der Regel Tätigkeiten wenn z.B. eine Kraft den Speisesaal gedeckt hatte für eine bestimmte Zahl von Bewohnern, dann ist das halt diesen Bewohnern dann anteilig zugerechnet worden.

Also wie gesagt, an dieser Untersuchung haben sechs Pflegeeinrichtungen teilgenommen; wenn ich jetzt ihre - wir haben das Pflegeprofile genannt - im Vergleich der Pflegestufe eins sehe, dann unterscheiden sie sich deutlich. Wir haben im Heim eins – diese Nummern sind also zufällig zugeordnet und sagen Ihnen auch nichts weiter über die Einrichtungen, die da mitgemacht haben – wir haben einen Durchschnitt von 81 Minuten Pflegezeit in einem 24-Stunden-Tag in Pflegestufe 1 und das variiert doch ganz beträchtlich von 43 Minuten hier und 121 Minuten in diesem Heim. Es ist alles umgerechnet und es ist so gemacht worden, daß man es tatsächlich vergleichen konnte. Die Grundpflege ist natürlich überall der größte Brocken, die größte Säule. Aber hier daneben, das sind dann die Leistungen für alle, die natürlich auch unter organisatorischen Aspekten sehr wichtig sind: was wird verlagert; was wird schnell für alle getan im

[Seite der Druckausg.: 73]

Tagesablauf; was kann man auch für alle tun, für viele tun? Das sind hier 49 Minuten und dort sind es 17 Minuten; also Sie sehen doch hier allein schon an diesem Profil deutliche Unterschiede in den stationären Einrichtungen. Und Sie können auch ermessen, wie schwierig es ist, jetzt daraus etwas abzuleiten, was als Maß des Notwendigen gelten soll. Pflegen die jetzt unbedingt schlechter als jene? Oder sind die vielleicht anders organisiert? Also Sie sehen hier die Schwierigkeiten.

Ich zeige Ihnen das jetzt noch für Pflegestufe zwei und drei: die Säulen werden natürlich höher, weil ja die Minutenzeiten größer werden. Aber Sie haben auch hier wieder deutliche Unterschiede bei einem Durchschnitt von 110 Minuten Pflegezeit für einen Bewohner auf diesen Stationen. Und in Pflegestufe drei haben Sie einen Durchschnittswert von 151 Minuten über alle Einrichtungen und deutliche Unterschiede auch bei den Heimen, was die Versorgung anbelangt. Es ist natürlich umgerechnet worden, auch die Anzahl der Pflegefälle in der entsprechenden Stufe ist durchaus in die Rechnung eingegangen: aber hier die Versorgung von 86 Minuten in diesem Heim und bis zu 252 Minuten in dem anderen Heim. Im Pflegeversicherungsgesetz finden sich ja durchaus Zeitwerte für diese Tätigkeiten, das Problem ist aber, daß sich das aber danach richtet, wieviel Zeit eine nicht-gelernte Pflegekraft braucht; also diese Zeiten sind ja nur bedingt als Bewertungsmaßstab herzunehmen.

A. Braun: Diese Anhaltswerte gibt es aber nur für den ambulanten Bereich.

S. Schäfer-Walkmann: Sie sind für den ambulanten Bereich gedacht, ja. Es werden auch hier dann noch sehr deutliche Unterschiede in den einzelnen Bereichen sichtbar, also daß z.B. in Pflegestufe drei im Heim drei 12 Minuten Management und Administration zugerechnet werden können, in Heim vier oder in Heim fünf dann nur 4 oder 3 Minuten. Also die Variationsbreite auf dieser Kategorienebene ist groß - und wenn man dann noch weiter runtergeht in den Bereich der Grundpflege, also auf diese nächste Tätigkeitenebene, dann kriegen Sie da noch ganz andere und sehr viel differenziertere Pflegeprofile. Und Sie sehen dann durchaus Schwerpunkte in der pflegerischen Versorgung und Betreuung.

[Seite der Druckausg.: 74]

Besonders interessant ist das auch, wenn Sie sich das Ganze mal anschauen beim Zeitaufwand für bestimmte Diagnosen: aus dem Datenmaterial läßt sich vorsichtig ableiten, daß man durchaus gerade altersverwirrte Menschen sehr gut mobilisieren und vor allen Dingen auch aktivieren kann. Wenn man sich dafür die Zeit nimmt. Ich darf Ihnen ja leider noch gar nicht so viel zeigen von diesen ganzen Ergebnissen, weil diese Studie noch nicht freigegeben ist. Wir können da noch sehr viel ableiten, das wird jetzt auch geschehen. Also ich möchte jetzt nur soviel sagen, daß sich tatsächlich auch herausgestellt hat, daß zwischen den Minutenwerten, wie lange gepflegt wird, wie lange die Pflegekraft oder auch die Hilfskraft für eine Tätigkeit braucht und der Art und Weise, wie sie diese Tätigkeit ausführt, ein starker Zusammenhang besteht. Es ist tatsächlich so, daß angeleitete Tätigkeiten tatsächlich länger dauern; sie sind aber auch nur in einem sehr geringen Prozentsatz vorhanden. Die Kommunikation ist in allen Heimen sehr, sehr hoch. Allerdings werden in Einrichtungen, wo sehr wenig Zeit da ist, viele Tätigkeiten der Grundpflege zu einem Drittel schweigend verrichtet, vollkommen schweigend verrichtet. Also den Zusammenhang kann man ableiten.

Ich hoffe, Sie sind noch nicht zu hungrig, denn ich möchte das doch noch ein bißchen zusammenfassen. Gibt es mit der Einführung der Pflegeversicherung einen „heim"lichen Abschied von der Pflege?

Erstens: die stationären Pflegeeinrichtungen stehen vor dem Problem, daß sich nicht nur aufgrund der demographischen Entwicklung, sondern auch gerade aufgrund der Einführung der Pflegeversicherung das Klientel wandelt und mit diesem der Pflege- und Betreuungsaufwand. Die Bewohnerinnen der Pflegeheime werden immer älter, sie treten erst in höherem Alter ins Heim ein und werden dank steigender Lebenserwartung auch dort zunehmend älter. Mit steigender Lebenserwartung erhöht sich das Risiko des gleichzeitigen Auftretens mehrer Krankheiten, das hat mein Vorredner auch schon angesprochen, und auch die Wahrscheinlichkeit geronto-psychiatrischer Erkrankungen.

Zweitens: Die veränderte und sich wohl künftig weiter verändernde Bewohnerstruktur erfordert im Vergleich zu noch vor wenigen Jahren eine völlig andere Fachlichkeit und Ausstattung der Einrichtungen. Dieser

[Seite der Druckausg.: 75]

Strukturwandel hat nicht nur direkte Auswirkungen für den Bedarf an pflegerischer, betreuerischer und medizinischer Versorgung, es stellen sich vielmehr grundsätzliche Fragen der Ethik. Eine Versorgung, die das Maß des Notwendigen erreicht, muß der Würde des Menschen genügen. Das wiederum hat Auswirkungen auf das in den Einrichtungen und von unserer Gesellschaft zugrunde gelegte Pflege-Paradigma. Im Hinblick auf eine zunehmende Pflegebedürftigkeit der Bewohner steigen auf der einen Seite Ausmaß und Anforderungen insbesondere an die Qualität und Professionalität pflegerischer Maßnahmen der Grund- und Behandlungspflege. Auf der anderen Seite gibt es aber auch berechtigte Ansprüche der wenigen gesunden oder nur leichter kranken Bewohner und denen gilt es ebenfalls gerecht zu werden.

Es kommt Drittens hinzu, daß die Durchführung qualifizierter Behandlungspflege bei der Ermittlung des Pflegebedarfs nur unzureichend berücksichtigt wird; hier wurschtelt man sich irgendwie so durch. Häufig findet hier als Übergangslösung im Heim eine Zuordnung zu den allgemeinen Pflegeleistungen der Grundpflege statt. Das hat aber zur Folge, daß auch Personalressourcen hier sehr stark gebunden werden und der Anteil an behandlungspflegerischen Leistungen, die eindeutig als solche auch von der Pflegekraft deklariert wurden, bleibt auch in unserer Untersuchung verschwindend gering. Es liegt hier auch an ungeklärten Finanzierungs- und Leistungszuständigkeiten zwischen Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsrecht.

Schließlich führt Viertens das veränderte Spektrum der Beeinträchtigungen, insbesondere der hohe Anteil schwer- und schwerstpflegebedürftiger Bewohnerinnen, zu einem immer größeren Bedarf an therapeutischen Kenntnissen der Pflegekräfte; einem Bedarf, der eine speziellere Ausbildung sowie eine fortlaufende Fort- und Weiterbildung der Pflegekräfte erforderlich macht. Es wird sogar in nicht allzu ferner Zukunft darauf hinauslaufen, daß man auch im Bereich der Pflege neue Berufsbilder für beispielsweise geronto-psychiatrische Fachpflegekräfte ausweisen muß. Wir brauchen das dringend.

Die Frage nach der möglichen Finanzierbarkeit pflegerischer Leistungen, nach gewissen Standards betrifft sowohl Aspekte der Notwendigkeit von

[Seite der Druckausg.: 76]

pflegerischen Leistungen wie auch deren wirtschaftliche Erbringung. Dies führt sehr schnell auf das weite Feld unbestimmter Rechtsbegriffe und terminologischer Grauzonen.

Erstens: ob das Maß des Notwendigen in den untersuchten Einrichtungen erreicht wird oder auch überschritten wird, muß von einer von außen vorgegebenen Norm her beurteilt werden. Idealiter würde eine solche Norm die Qualität des Pflegeprozesses und des Ergebnisses der Pflege beinhalten. Das ist allerdings nur sehr eingeschränkt objektiv zu messen. Zum einen sind viele Pflegebedürftige in einem Zustand, der eine große Verbesserung auch mit hohem Aufwand nicht maßgeblich möglich macht. Und da ist zum anderen das große Problem: Wie wollen Sie Qualität messen? Was ist dann die Qualität und wo beginnt der Standard und wie wird er vergleichbar? Das mögliche Ergebnis beeinflußt somit auch sehr stark das erzielte Ergebnis. Und die Auswertung dieser subjektiven Äußerungen der Pflegekräfte zeigen auch, daß diese häufige Ausweglosigkeit der Pflegesituation ein großes Problem ist. Also die Ansprüche sind zu groß: ich strenge mich an; ich möchte dem Bewohner das Leben erleichtern und scheitere dann sichtlich ständig: ich habe eine Beziehung aufgebaut und dann verstirbt mir der Bewohner. Manche Indikatoren der Ergebnisqualität können aber zugleich als Bedarfsindikatoren gesehen werden. Aber es ist auch hier das Problem: sagen Sie, in Heimen wird besonders gut gepflegt, wo es wenig Dekubitus-Fälle gibt oder gar keine Dekubitus-Fälle. Aber wir können teilweise Dekubitus in Pflegeheimen nicht verhindern trotz aller noch so guten Pflege. Also es ist ein sehr, sehr schwieriges Feld der Beurteilung.

Auch der Pflegeprozeß ist nicht einfach umfassend hinsichtlich der Qualität zu messen und zu beurteilen. Nur einzelne Aspekte können herausgegriffen werden und wir haben mit dieser Studie versucht, zumindest mal die Kommunikation und die Ausführungsform näher zu untersuchen. Das meiste bleibt also wirklich in diesen Arbeitsinput- und dieser -outputmessung stehen. Den subjektiven Bedarf an Leistungen kann man sowieso nicht objektiv festmachen. Dennoch geben die Einstufungen des Ausmaßes der Pflegebedürftigkeit durch den MDK sowie die Diagnosen einen, wenn auch groben Anhaltspunkt. Deshalb kann als Maß, als eine Meßgröße beispielsweise, die Zeit herangezogen werden, die eben im Gesetz

[Seite der Druckausg.: 77]

als Norm verankert ist, die sich aber auf eine nicht-gelernte Person für die Pflege der Pflegebedürftigen bezieht im ambulanten Bereich. Geht man von dieser Norm aus - und auch die ist keine letztlich stringend meßbare Größe - so zeigt sich, daß in den untersuchten Einrichtungen tatsächlich deutliche Unterschiede innerhalb der durchschnittlichen Betreuungszeit pro Bewohnerin innerhalb der einzelnen Pflegestufen auftreten. Dies gestattet aber keine direkten Schlußfolgerungen, etwa daß die Heime mit kürzeren Betreuungszeiten wirtschaftlicher sind oder daß die mit längeren das Maß des Notwendigen überschritten haben. Das wäre zu einfach, das wäre eine Milchmädchenrechnung. Generell kann gesagt werden, je höher die Pflegeeinstufung der Bewohner, desto weiter entfernt ist man von dem im Pflegeversicherungsgesetz formulierten Zeitwert für pflegerischer Leistungen einer nicht-ausgebildeten Pflegekraft. Pflegebedürftige der Pflegestufe drei sind in dem Heim mit dem meisten Pflegeaufwand immer noch eine Stunde unter dieser Norm des Gesetzes.

Die vertiefende Analyse der pflegerischen Tätigkeiten in Hinblick auf die Ausführung und Kommunikationsform bestätigt, daß die personenbezogene Dienstleistung Pflege eine Tätigkeit ist, bei der im hohen Maße zwischen Bewohnern und Mitarbeitern kommuniziert wird. Es bestätigt sich auch die Vermutung, daß zwischen der Kommunikation und der Ausführungsform ein Zusammenhang erkennbar ist. Vor allem im Bereich der Grundpflege, weil andere Bereiche interessieren weniger: daß die Pflegekraft bei der Pflegedokumentation schweigt, ist ganz klar. Aber wenn grundpflegerische Tätigkeit für den Bewohner vollständig übernommen wird, dann werden diese Tätigkeiten auch eher schweigend ausgeführt und zwar immerhin zu einem Drittel dieser grundpflegerischen Tätigkeiten. Also Anleitung und Anrede setzen üblicherweise auch einen kommunikativen Austausch zwischen Bewohner und Pflegekraft voraus. Eindeutige Mängel bestehen aber, und das ist ganz klar festzustellen, was den gesetzlich festgelegten Anspruch in der Frage der Ausführungsform anbelangt. In ganz überwiegendem Maße werden die Leistungen von Pflegekräften oder von anderen Beschäftigten übernommen, das heißt es werden weder Unterstützung noch Anregung oder Anleitung gemacht.

Wir haben uns in der Einteilung dieser Kategorie an den Qualitätsanforde-rungen einer Arbeitsgruppe orientiert, die im Bayerischen Ministerium für

[Seite der Druckausg.: 78]

Arbeit und Soziales gearbeitet hat. Nur in durchschnittlich 10 Prozent der beobachteten Tätigkeiten zeichnen sich bestimmte Muster ab, die vorsichtige Rückschlüsse dahingehend zulassen, daß sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bemühen, den Bewohner in seiner Selbständigkeit soweit als möglich zumindest zu unterstützen. 90 Prozent der pflegerischen Tätigkeiten werden für den Pflegebedürftigen übernommen und ein Indiz dafür sind auch gerade die relativ kurzen Zeitwerte, die für die einzelnen Tätigkeiten gebraucht werden. Wir wissen aus der Arbeitstheorie, wenn Sie etwas gelernt haben, wenn Sie eine Tätigkeit routiniert ausführen, sind Sie schneller. Das bedeutet in erster Linie, daß die Bewohner weder in nennenswertem Umfang zur Mithilfe bei der Ausführung aller Pflegeleistungen angeleitet noch mobilisiert werden; oder bettlägerige Bewohner zum Aufstehen und Umhergehen auch nicht ermuntert werden. Auch findet nur im geringen Maße eine Anleitung zum selbständigen Essen oder die Anleitung zur Selbsthilfe im Rahmen der Behandlungspflege beispielsweise im Umgang mit Inkontinenzartikeln statt. Für den einzelnen Pflegebedürftigen hat das zur Folge, daß er sich mit dem Pflegesatz pflegerische Leistung einkauft, durch die er zwar versorgt ist, die jedoch nicht auf die Wiedererlangung von selbstpflegerischer Kompetenz ausgerichtet sind. Die Folge ist ein fortschreitendes Nachlassen und der Verlust weiterer Kompetenzen; das ist Ihnen allen bekannt. In dieser Hinsicht ist man vom Maß des Notwendigen an aktivierender Pflege in stationären Pflegeeinrichtungen sehr weit entfernt.

Hinsichtlich der Ausbildung, das war ja auch ein wichtiger Aspekt, waren während der Erhebung bis auf eine alle Einrichtungen daran beteiligt. Die Ausbildung ist aber immer auch ein Problem, das haben uns auch die Stationen berichtet, es geht hier doch sehr viel Zeit drauf. Aber es ist generell so, daß in Stationen, in denen sehr viele verschiedene Berufsgruppen tätig sind und die auch viel ausbilden, durchaus die Zeitwerte gerade für grundpflegerische Tätigkeiten sehr viel höher sind. Das liegt zum einen daran, daß die Schülerinnen noch lernen müssen und die werden auch besonders gut angeleitet, dies richtig zu machen. Sie müssen die Tätigkeit ja noch lernen und das drückt sich sehr deutlich in den Zeitwerten aus. Die haben noch keine Routine und für den Bewohner drückt sich das darin aus, daß natürlich in diesen Heimen der Teil an Pflegezeit höher ist, weil er bekommt ja Pflegezeit zugerechnet von der Schwester wie auch von der

[Seite der Druckausg.: 79]

Auszubildenden, in den Daten schlägt sich das ja beides nieder, weil viele Dinge auch zu zweit getan werden.

Ich komme jetzt auch angesichts der knurrenden Mägen dann zum Schluß: Der Vergleich der Heime gestattet auch einige Hinweise auf die Wirtschaftlichkeit der Leistungen, zumindest was den Ressourceninput Arbeit betrifft. So werden Unterschiede deutlich, die durchaus auf Größenvorteile hinweisen. Kleine Einheiten, also Stationen und auch Heime, haben diesbezüglich Vorteile aber auch Nachteile. Der Vorteil liegt aus Sicht der Bewohnerinnen in einem Maß an Kontinuität der Betreuung und auch bei guten Beziehungen zwischen den Pflegekräften und Bewohnern in einer besseren Beziehungsmöglichkeit. Also das ist durchaus so, es bestätigt sich dieses Bild von Büssing, was ich Ihnen gezeigt hatte mit diesen Kreisen bei der unterschiedlichen Größe: wenn nach Prinzipien gepflegt wird, wo sehr wenige Bewohner hauptsächlich von einer Pflegekraft versorgt werden, dann kann sich so etwas wie eine tiefere Beziehung entwickeln und es drückt sich auch in den Zeitwerten aus. Dies sind Vorteile und das zeigt uns wiederum die Auswertung der subjektiven Mitarbeiterbefragungen: weil Belastungsfaktoren wie Monotonie weniger auftreten und das Ergebnis der eigenen Arbeit eher zu erfahren ist. Also die Mitarbeiterinnen schöpfen hier einen größeren Gewinn auch aus der Arbeit.

Andererseits ist es auch ein Problem für kleinere Heime, denn hier kann weniger eine Spezialisierung stattfinden, sondern die Pflegekräfte müssen dann doch mehrere Tätigkeiten übernehmen. Also sie sind dann nicht nur für das Grundpflegen da, sondern sie übernehmen dann auch mal in höherem Maße Tätigkeiten der Hauswirtschaft oder der stationsbezogenen Tätigkeiten. Und was auch ein Problem gerade kleinerer Einheiten ist, bei Krankheit oder Urlaub gibt es hier ganz wenig Manövriermasse, um diese Spitzenzeiten in der Versorgung auszugleichen. Also da ist dann die Belastung in diesen Zeiten sehr, sehr groß, weil da wenig von anderen Stationen kommen kann. Das soll nicht heißen, Größe hat unbedingt Vorteile; es geht vielmehr darum, darauf zu achten, daß eine kritische Mindestgröße nicht unterschritten wird. Aber es geht auch darum, nicht zu groß zu werden, denn Sie können von der Beziehung zwischen Pflegekräften und Bewohnern her das dann nicht mehr bewältigen. Und Sie haben auch sehr

[Seite der Druckausg.: 80]

große Verluste oder Kosten, die durch Koordination oder Absprachen verursacht werden.

Da Pflege eine arbeitsintensive Dienstleistung ist, ist die Personalqualifikation von wesentlich größerer Bedeutung als bei einer anderen wie etwa einer kapitalintensiven Produktionsweise. Hier können sich durchaus potentielle Widersprüche ergeben und zwar, wenn Sie von einer wirtschaftlichen Erstellung der Leistungen ausgehen und eben sehr stark auf geringfügige oder wenig qualifizierte Kräfte setzen. Das kann sich in Ihrer Bilanz durchaus positiv niederschlagen, dafür gibt es im Heimvergleich auch deutliche Auswertungen und Ansätze. Aber Sie müssen auch immer denken, was für eine Pflege dann dort geleistet wird, und im Hinblick vor allem auf die hohe Zahl der geronto-psychiatrisch erkrankten Bewohner ist es sehr problematisch mit einer sehr hohen Personalfluktuation in der Arbeitsorganisation zu arbeiten. Also der Wechel ist für die Bewohner äußerst unbefriedigend und noch zusätzlich verwirrend.

All diese empirischen Ergebnisse sowie die grundlegenden gesundheitspolitischen und normativen Überlegungen erlangen vor dem Hintergrund der Strukturveränderungen im Gesundheitssystem und den damit verbundenen finanziellen Restriktionen eine besondere Relevanz. Speziell Gesundheits- und Pflegedienstleistungen werden vermehrt unter den Aspekten Effektivität und Effizienz betrachtet. Die Verbindungen von humanen Versorgungsparadigmen, wirksamen Behandlungsformen und ökonomischen Kriterien erfordern dabei schon heute und künftig in noch höherem Maße integrative und multidisziplinäre Versorgungskonzepte. Und zwar auch in stationären Einrichtungen der Altenhilfe, die sich an jedem dieser drei Aspekte orientieren müssen, wenn die Heime sich nicht tatsächlich von der Pflege verabschieden wollen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

A. Braun: Ja, vielen Dank an Frau Schäfer-Walkmann. Ich mache für den weiteren Ablauf den Vorschlag, daß wir jetzt bis 14 Uhr 15 Mittagspause machen und dann eine verbundene Diskussion der beiden bisherigen Beiträge anstelle der ursprünglich vorgesehenen Videoangebote anschließen. Ich hoffe, daß wir dann so ungefähr um 15 Uhr hier mit dem Beitrag über Österreich weitermachen können.

[Seite der Druckausg.: 81]

A. Braun: Meine Damen und Herren, nach dem Motto „es wird sich rum-sprechen, daß wir angefangen haben" verlassen wir uns jetzt mal darauf, daß die restlichen Leute schon noch kommen werden. Zum Verfahren nur nochmals folgendes: der Kollege Kraft wird dieses tragbare Mikro herumreichen zu demjenigen, der gerade das Wort hat. Ich bitte darum, daß der- oder diejenige, die das Wort nehmen, kurz sagen, wer sie sind. Deutlich vernehmbar den Namen nennen; das ist für unsere Dokumentation dann ganz nützlich, wenn ich nicht raten muß, wessen Stimme war das wohl. Ich habe zwar ein gutes Gedächtnis für Stimmen, aber manchmal reicht es nicht, weil ich die Stimmen nicht gut genug kenne. Und sagen Sie bitte auch, woher Sie kommen; wenn Sie wollen, kann man auch noch sagen, aus welchem Arbeitszusammenhang unseres Themas man kommt. Also dann möchte ich die verbundene Diskussion der beiden Beiträge von heute morgen eröffnen.

Edith Eymann: Ich heiße Edith Eymann und bin Mitarbeiterin der grünen Landtagsfraktion, auch zuständig für den Bereich Pflegeversicherung und Pflege überhaupt. Also, meine erste Frage geht an Herrn Schilling; ich fände es gut, wenn es da eine Diskussion gäbe um das Leitbild. Sie als Wissenschaftler haben in Ihrem Vortrag so mehr die Perspektive des Beobachters gehabt; und das ist ja auch gut so. Ich bin in einem Arbeitsbereich, wo es mehr darum gehen muß, wie geht es konkret weiter. Da wo man sich mehr oder weniger auch festlegen muß, welches Leitbild - insbesondere auch für die Landespolitik - gibt es zukünftig. Und da ist der Hintergrund der, daß das Land im Moment vorrangig tätig ist mit Investitionen für Pflegeheime und fast ganz ausgestiegen ist aus dem ambulanten Bereich in seiner Förderpolitik. Dann fand ich ganz interessant so einige Sachen, die Sie genannt haben, etwa daß Professor Klie gesagt hat, das Leitbild der Pflegeversicherung wäre so eher auf ein vormodernes Familienbild programmiert, und Sie haben auch dreimal erwähnt, wie wichtig das ist, was die Menschen wollen bezüglich zu Hause wohnen oder nicht zu Hause wohnen. Das Leitbild von einer Landes-Pflege-Politik, wie wir sie hier in Baden-Württemberg in Bezug auf die Förderung haben, wie würden Sie das gestalten wollen. Ich meine, das können Sie natürlich jetzt nicht in einem Satz beantworten, aber kann man das unkritisiert lassen, daß alle Fördermittel, die es im Moment im Land gibt, in den stationären Bereich gehen? Sie auch haben gesagt, es gäbe wieder eine Renaissance

[Seite der Druckausg.: 82]

des medizinischen Leitbildes in der stationären Pflege und das merke ich auch sehr. Das verkürzt sich auf dieser politischen Ebene - ich karikiere bewußt ein bißchen - auf die Frage, brauchen wir noch mehr Pflegeheime oder nicht. Welche verläßlichen Bedarfsdeterminanten gibt es dazu? Das ist eine sehr verkürzte Diskussion, aber auf dem Hintergrund dessen, daß fast keine Mittel mehr in den ambulanten Bereich gehen, frage ich, wie kann man das differenzierter diskutieren ?

Und die zweite Frage richtet sich an Frau Schäfer-Walkmann: das Resultat ist doch schon erschütternd von dieser Untersuchung, obwohl man das alles bisher so immer vermutet hat in Bezug auf die aktivierende Pflege in den Pflegeheimen. Wenn da mehr Geld zur Verfügung stehen würde und mehr Zeit, was ja zusammenhängt, wäre da gewährleistet, daß es wirklich aktivierende Pflege in den Pflegeheimen gäbe ?

A. Braun: Bitte je ein kurze Antwort auf die lange Frage.

T. Schilling: Sie haben mir schwierige Fragen gestellt, wobei ich fürchte, daß man das in ein, zwei Sätzen nicht beantworten kann oder sogar generell nicht beantworten kann. Ich denke, die Suche nach einem übergeordneten Leitbild ist ja schon ein Teil des Problems. In dieser Debatte um ein modernes Leitbild wird eher darauf orientiert, sich den jeweiligen Kontext anzugucken. Wenn in einer bestimmten Stadt, in einem bestimmten Bundesland ein Bedarf an Pflegeheimplätzen besteht, ist es natürlich völlig legitim, aus dieser übergeordneten Präambel „ambulant vor stationär" auszusteigen und kontextbezogene Lösungen zu finden. Das Problem habe ich ja auch in meinem Beitrag angedeutet, daß es wenig Forschung gibt, daß die Evaluation von Defiziten unbefriedigend ist. Das spiegelt sich aus meiner Sicht auch in den Altenhilfeplänen wider, wenn man sich die aus sozialwissenschaftlicher, auch aus empirischer Sicht anguckt, ist das nicht ausreichend. Und ich denke, ein Leitbild steht und fällt mit fundierten Informationen, die ich aber - vielleicht im Kontrast zu meiner Mitreferentin - in einer gewissen Parallelität von sowohl quantitativen als auch qualitativen Daten sehen würde. Es geht nicht nur darum zu sagen, die Lösung muß so und so aussehen und wir bewegen uns auf der und der Datenbasis, sondern es muß verschiedene Blickwinkel geben. Und da komme ich schon in das nächste Dilemma. Wir haben heute relativ viele

[Seite der Druckausg.: 83]

Begrifflichkeiten - sowohl Sie als auch ich - eingeführt und darüber gibt es einen endlosen Streit. Was ist eine gute Pflege? Was ist eine professionelle Pflege? Was ist eine moderne Pflege? Da bin ich wieder bei dem Kontext bei der Situation vor Ort. Das ist eigentlich das moderne Leitbild, daß man versucht, von übergeordneten Leitbildern wegzukommen; also auch von diesen Entweder-Oder-Mechanismen: das ist besser, das ist schlechter. Sondern man versucht - und das wird ja eher als postmodernes Phänomen beschrieben - aus verschiedenen Orientierungen sich die gute Lösung zurecht zu basteln. Vielleicht ist das jetzt ein bißchen getrickst, meine Antwort, aber ich glaube, es ist wirklich relativ schwierig, da genauer drauf einzugehen.

Was den Familienbegriff betrifft, denke ich, daß das Pflegeversicherungsgesetz wirklich sehr traditionell orientiert ist; das habe ich ja versucht, an ein paar Beispielen zu erläutern. Also daß es Entwicklungen gibt, auf die die gesetzlichen Rahmenbedingungen sehr verhalten oder sehr inadäquat reagieren. In dieser Richtung gingen ja die Reformvorschläge von Thomas Klie, die gehen ja zum Teil noch weiter, also daß man sich von bestimmten Prinzipien verabschiedet, also daß man die Leistung des Pflegeversicherungsgesetzes an Einkommen koppelt. Warum kann man nicht eine einkommensbezogene Förderung realisieren, also eine Subjektförderung, auf den Einzelfall bezogen, wie das ja teilweise in anderen Gesetzlichkeiten auch deutlich sichtbar ist. Zum Beispiel im Jugendhilfegesetz; das ist aus meiner Sicht viel individualisierter als das Pflegeversicherungsgesetz. Also der Individualisierungsgrundsatz ist aus meiner Sicht im Pflegeversicherungsgesetz absolut defizitär. Aus pflegewissenschaftlicher und aus ethischer Perspektive finde ich den Pflegebegriff im Pflegeversicherungsgesetz sehr verengt.

S. Schäfer-Walkmann: Also ich habe jetzt, ehrlich gesagt, ganz vergessen, was Sie mich gefragt hatten. Entschuldigen Sie, könnten Sie das nochmal wiederholen, weil ich habe jetzt da auch zugehört.

E.Eymann: Stichwort: finanzielle Mittel!

S. Schäfer-Walkmann: Ach so ja, wenn es mehr Geld gibt, ob dann akti-vierender gepflegt wird. Also das kann ich Ihnen so auch nicht eindeutig

[Seite der Druckausg.: 84]

beantworten. Aber ich möchte noch etwas zu den Leitbildern sagen. Ich glaube man läuft in dieser aktuellen und auch sehr überhitzten Debatte häufig Gefahr zu übersehen, was in den Einrichtungen schon alles getan wird. Ich finde, die Auseinandersetzung und die Diskussion um die Pflegeleistungen war zum einen überfällig; aber es ist keineswegs so, daß die Einrichtungen einfach völlig unstrukturiert vor sich hin arbeiten. Also es gibt eine gewisse Kontrolle, es muß wahrscheinlich auch noch mehr Kontrolle geben; es gibt die Auseinandersetzung mit Qualität, also man tut, denke ich, Unrecht, wenn man sagt, diese Heimversorgung kann man schlichtweg vergessen.

Das ist das eine; das andere, was ich zu dem Bedarf sagen möchte, das könnte ich nun auch empirisch belegen mit Erfahrungen aus meinem anderen Projekt. Dort geht es um ambulante Versorgung geronto-psychiatrisch Erkrankter, das hatte ich bei meiner Vorstellung gesagt. Ich könnte jetzt mal ketzerisch sagen, Sie können es nicht vermeiden, daß Sie stationäre Einrichtungen benötigen. Sie können es auch durch eine noch so gute ambulante Versorgung nicht erreichen, daß Sie es für jeden und alle Pflegebedürftigen schaffen, daß er daheim versorgt werden kann. Es gibt immer einen bestimmten Punkt, wo stationäre Versorgung nötig wird, und damit auch einen bestimmten Bedarf an stationärer Versorgung. Und auch aus anderer, aus dieser regionalen Perspektive, da stimme ich zu, das ist natürlich sehr unterschiedlich. Für das Stadtgebiet Augsburg kann ich sagen, Augsburg hat eine sehr lange Tradition, auch eine Hummelsche Tradition, der Altenversorgung. Im Stadtgebiet Augsburg ist es heute schon so, wenn Sie einen Pflegeplatz bekommen möchten in einer stationären Pflegeeinrichtung, daß es keinen gibt; und in den nächsten Jahren wird sich diese Situation dramatisch verschlimmern. Es sind aber gleichwohl in den letzten Jahren sehr viel neue Plätze entstanden. Es ist ein Bedarf, der wird explodieren; wir dürfen uns da nichts vormachen. Aber bei den Versorgungskonzeptionen geht es ja immer um diesen Mix, es geht darum, daß ich möglichst so leben kann, so selbstbestimmt leben kann wie es noch geht. Aber Sie haben eben gerade in städtischen Gebieten die hohe Zahl Alleinlebender, Sie haben nachlassende, erodierende Versorgungsnetze und Sie können das Ganze, gerade wenn sich die Gesellschaft weiter wandelt, auch nicht mit familiären Strukturen ganz normal auffangen. Es wird zukünftig vielmehr so sein, daß Eltern und Kinder

[Seite der Druckausg.: 85]

weit getrennt voneinander leben. Es wird nicht so sein, daß im Haus Nachbarschaftshilfe selbstverständlich vorhanden ist. Also Sie brauchen, und man muß sich das reiflich überlegen, wirklich eine stationäre Versorgung und zwar in allen Bereichen. Und da, denke ich, muß auch Geld hinein fließen, aber man muß sich auch überlegen, wie steuert man das Ganze. Wie steuert man es, daß man zu einer qualitativ anderen Versorgung kommt, wie steuert man es, daß das Geld die richtigen Wege findet und dann auch in der pflegerischen Versorgung ankommt. Und ich denke hier gibt es auch keine Ja- und Nein-Antworten, keine Schwarz-Weiß-Antworten, das ist sehr diffizil. Das sind Fragen der Ausbildung, das sind Fragen der Qualifikation. Es ist auch die Frage der Arbeitsbelastung: in unserem einen Heim, wo wir den Test durchgeführt hatten, hat mir eine Heimleitung gesagt: „Wissen Sie, wenn ich auf meinen Stationen mehr Personal einstelle, wird nicht mehr gepflegt, sondern dann sind meine Mitarbeiterinnen vielmehr versucht, ständig längere Pausen zu machen und die Pausen machen sie nicht mit den Bewohnern, sondern die machen sie untereinander". Also es ist wirklich ein Konglomerat der Interessen und von dem her kann ich nicht sagen, wird mit mehr Geld mehr gepflegt. Ich weiß es nicht; und auch, ob es aktivierender ist, das weiß ich nicht.

Hilde Schmidt-Nebgen: Mein Name ist Hilde Schmidt-Nebgen, wir kommen aus Rheinland-Pfalz, meine Nachbarin auch. Zu beiden Referenten habe ich eine Frage: gibt es zu wenige Häuptlinge oder zu wenig Indianer? Wir haben nach dem Aufbau des Pflegeversicherungsrechtes erlebt, daß die Heime nur so aus dem Boden schossen. Man war in Goldgräberstimmung und hat dann festgestellt, daß man jahrelang die Pflegekräfte, die die eigentliche Arbeit tun müssen und auch motiviert sein sollen, sowohl in der Ausbildung als in der Bezahlung miserabel vernachlässigt hat. So, und die Leute fehlen jetzt. Und die Frage an Sie, ist auch untersucht worden, wie lange eine ausgebildete Pflegekraft im Beruf bleibt oder wie schnell sie aufgibt, weil sie frustriert ist?

T. Schilling: Das ist natürlich untersucht worden, wie lange Pflegekräfte im Durchschnitt im Beruf bleiben; meines Wissens schwankt die durchschnittliche Verweildauer im Beruf so zwischen vier und fünf Jahren. Viele Pflegekräfte sind relativ gut motiviert, auch über die Ausbildung. Die Aus-

[Seite der Druckausg.: 86]

bildung wird bei allen Defiziten als relativ anspruchsvoll beschrieben, und der sogenannte Praxisschock oder, was Sie auch andeuteten, die relative „Erfolglosigkeit des Pflegens" führt gerade in der Altenpflege zu erheblichen Ausbrenneffekten und Fluktuationstendenzen. Diese Schere zwischen Ausbildungserfahrung und Praxiserfahrung wird als relativ drastisch erlebt gerade von Pflegeschülerinnen, da gibt es einige Untersuchungen. Der Altenpflegeberuf gilt ja als klassischer Zweitausbildungsberuf, also mit einem relativ hohen Durchschnittsalter. Die Leute, die sich mit 30 oder in einem höheren Lebensalter für diesen Beruf entscheiden, bleiben zumeist länger im Beruf als z.B. Schwesternschülerinnen, weil sie auch keine Alternative haben, das wollte ich noch dazu sagen. Also man muß diese Verweildauer natürlich auch einordnen, man muß sich die Spezifik des Berufes angucken, aber grundsätzlich kann man sagen, daß die Fluktuation sehr hoch ist, sowohl im ambulanten Bereich sehr hoch ist als auch im stationären Bereich. In der Ausbildung ist ja sehr viel in Bewegung, aber in der Praxis läuft vieles nach ganz anderem Mustern ab. Sie hatten das ja auch angedeutet: die Verrichtungs- und Ablauforientierung relativ schematischer Pflegemuster. Und der Beruf gilt ja trotz der Professionalisierungsdiskussion als sehr lebensnaher, haushaltsnaher Beruf, der im Grunde genommen Mühe hat, seine Professionalität, seine Spezifik auch zu definieren. Wo ich auch denke, daß manche Untersuchungen für mich auch teilweise in etwas merkwürdige Richtungen gehen. Weil es m.E. darum geht, dieses spezifische Kompetenzverständnis und das Spezifische in der Altenpflege professionell auch anders zu bestimmen in Schärfung und in Kontrastierung zur Krankenpflege. Die Altenpflege ist wirklich anders als die Krankenpflege. Und ich denke, dieses Professions- und Kompetenzverständnis hat sich in der Praxis unzureichend etabliert und ist Teil des Problems, warum viele Pflegekräfte auch an Motivation einbüßen und den Beruf verlassen.

S. Schäfer-Walkmann: Zu der Frage, wie haben wir im Rahmen unserer Untersuchung bei der Mitarbeiterbefragung untersucht, wie lange die Leute im Beruf sind, die wir da befragt haben. Es ist zweigeteilt; ich habe die Zahlen jetzt nicht im Kopf, es hat uns aber überrascht, wieviele geantwortet hatten, sie seien schon 10 Jahre und länger in dem Beruf. Also wir hatten relativ viele, die sehr lange im Beruf sind; und wir hatten auch gefragt, wie lange man schon in dieser Einrichtung ist, auch mit sehr lan-

[Seite der Druckausg.: 87]

ger Einrichtungsbindung. Also es läßt sich daraus auch in gewisser Weise ableiten, daß auch Einrichtungen etwas dafür tun können, für ihre Mitarbeiterinnen, sie an sich zu binden. Es gab auch Einrichtungen, die so etwas hatten wie interne Ausbildungs- und Fortbildungsprogramme, wo dann so ein eigener Nachwuchs herangezogen wurde. Da muß ich Sie aber dann auf die Studie verweisen, weil den Teil habe ich jetzt nicht dabei. Aber sie sind eingegangen in dieser subjektiven Schiene der Mitarbeiterbefragung und ich denke, das ist ja auch ein ganz wichtiger Punkt, was auch mit diesen Leitbildern und auch mit dieser Professionalisierungsdebatte zu tun hat.

Johannes G. Beisiegel: Mein Name ist Beisiegel, ich bin selbständiger Berater, Supervisor und Projektentwickler im Bereich sozialer Einrichtungen mit dem Schwerpunkt Altenhilfe. Ich komme aus der stationären Altenhilfe, war mehrere Jahre Heimleiter und Geschäftsführer. Und ich habe daraus die Erfahrung mitgenommen, es gibt nicht ein Leitbild, sondern es gibt sehr, sehr viele unterschiedliche Leitbilder, interessens- und positionsbezogen von den Gruppen her, die das formulieren. Ich will ganz kurz in Schlagworten das nochmal benennen, aus meiner Sicht, ich stehe sehr stark auf der Seite Kunden, sprich der Bewohner, Bewohnerinnen und Angehörigen, die im Umfeld der Pflege sich irgendwie verhalten müssen. Pflegeeinrichtungen sagen, wir bieten das Beste, was wir nach den wirtschaftlichen und strukturellen Bedingungen, die wir haben, leisten können. Pflegekräfte sagen, wir tun das Allerbeste; wir sind aber überfordert: die Situation der Pflegeversicherung und das, wie es bei uns im Betrieb umgesetzt wird, läßt uns ständig im roten Bereich arbeiten. Angehörige sagen, wir wollen die beste Versorgung für unsere pflegebedürftigen Verwandten oder zu Betreuenden zu den günstigsten Kosten. Wir wollen nicht, daß das, was in der Familie erhalten ist an Werten, nun in der Pflege aufgefuttert wird. Die Bewohner, die Bewohnerinnen sagen, mir soll es gut gehen und ich will mich hier wohl fühlen. Die öffentlichen Kontrolleinrichtungen haben entweder das Leitbild ganz scharf zu kontrollieren - SGB XI auf Herz und Nieren umzusetzen - oder gar nichts zu tun. Die Pflegekassen wollen eigentlich die höchste Leistungseffizienz bei niedrigsten Kosten. Und die in der Pflegeversicherung leeren sich dramatisch. Aus 6 Milliarden Überschuß ist jetzt, es war vor kurzem in der Zeitung gewesen, noch ein Rest von 250 Millionen, die angeblich noch vorhanden sind.

[Seite der Druckausg.: 88]

A. Braun: Nein, Entschuldigung, die 250 Millionen sind die Mittel, die dieses Jahr noch zur Rücklage dazukommen werden!

J. G. Beisiegel: Die dazukamen, aber ein wesentlich höherer Zuwachs ist erwartet worden und der Abgang ist so, daß also auch da ein Verlust deutlich festzustellen ist. Das Leitbild kann meines Erachtens nur in einer Einrichtung aus dem Austausch aller genannten Positionen her entwickelt werden und wird sich von Einrichtung, von Träger zu Träger unterscheiden. Und da wird sich dann auch meines Erachtens herausstellen, daß Bewohner und Angehörige auch stärker als Kunden auftreten müssen und sich engagieren müssen, um ihre Interessen deutlicher zu machen und damit auch einen Qualifizierungs- und Qualitätsprozeß in der Pflege im Austausch mit allen anderen Gruppen zu erreichen.

Horst Krappatsch: Mein Name ist Krappatsch, ich komme aus Berlin. Mich faszinieren ja wissenschaftliche Vorträge in ihrer kühlen Rationalität. Mir fehlt es ein bißchen an dem Anstoß zum Aufschrei. Ich habe hier dieser Tage, und das ist auch der Zeitpunkt, an dem ich mich angemeldet hatte zum Seminar, im Schwarzwälder Boten eine Notiz gefunden, in der es unter anderem heißt, Studien belegten, daß Pfleger und Ärzte täglich rund 400 000 sogenannte Zwangsmaßnahmen in Heimen vornehmen. An anderer Stelle gibt es psychische Gewalt, da werden die alten Leute angeschrieen oder ihnen wird eine Windel umgebunden, weil zu wenig Zeit ist, sie auf die Toilette zu bringen. Was Herr Schilling vortrug, ließ das ja zwischen den Zeilen auch erkennen, aber er hat das so nüchtern gebracht, daß ich noch nicht sehe, wo der Anstoß erfolgen kann, eine Lobby zu entwickeln für alte Leute. Sie haben in Ihrem Vortrag gesagt, die Politik ist dabei, das Alter zu beschönigen und dabei zu verdrängen, die Intention in der Pflege, die Rahmenbedingungen der Pflege zu verbessern. Also, ich weiß nicht wer, auch hier in der Runde, erkennen kann, wo es einen Aufschrei geben kann oder wer den organisieren könnte. Trotzdem würde ich ganz gern von Frau Schäfer-Walkmann wissen, wie ich an das Gutachten herankomme und zu welchem Preis?

A. Braun: Wir lassen jetzt hier eine Bestelliste rumlaufen, vielleicht kriegen wir Gruppenrabatt oder so was!

[Seite der Druckausg.: 89]

S. Schäfer-Walkmann: Dieses Gutachten war eine Auftragsarbeit, und wenn das freigegeben ist vom Auftraggeber - das war der Landeswohlfahrtsverband Baden in Karlsruhe - müßten Sie sich dann an den wenden. Wenn der dann meint, daß es so in Ordnung ist, daß es jetzt dann freigegeben wird. Eine Publikation aus dieser Studie wird erscheinen - also wir dürfen wissenschaftlich publizieren - aber allerdings erst, wenn der Auftraggeber gesagt hat, der Auftrag ist erfüllt. Das ist ein ganz normaler Vorgang. Also wer Interesse hat, das Gutachten wird in den nächsten zwei Wochen beim Landeswohlfahrtsverband Baden auf jeden Fall in seiner abschließenden Form vorliegen.

Greet Pels: Ich bin Greet Pels; ich werde heute abend wahrscheinlich noch einmal auf etliche Sachen eingehen. Aber was mich wundert, wo die Stimmen der Älteren, der Senioren in all Ihren Geschichten sind. Natürlich gibt es wohl viele, die nicht mehr für sich reden können; aber alle anderen, wie und wo reden die mit? Gibt es Klientenräte oder Kundenräte? Wo wird erhoben, was die wünschen? Man redet von aktivierender Pflege; aber wenn man nicht mehr aktiviert werden will, kann man das sagen, darf man das sagen? Oder wenn man es will, es aber nicht bekommt, kann man das auch irgendwo äußern?

Gotlind Braun: Gotlind Braun, Freudenstadt; ich rede als Vertreterin der Senioren, weil ich in der SPD auf Bundes- und Landesebene aktiv bin in den entsprechenden Vorständen der Arbeitsgemeinschaft der SPD. Also zu dem ersten Punkt, Herr Schilling: Sie haben, wenn ich das richtig verstanden habe, gesagt, in der allgemeinen Diskussion um Leitbilder überwiege die Diskussion um den aktiven Senior. Aus meiner Beobachtung stimmt das so nicht. Also, wenn wir uns mit solchen Fragen in politischen Diskussionen befassen, geht es eigentlich meistens darum, wie wir die entsprechenden Einrichtungen schaffen, und dann kommen andere und sagen, aber denkt auch an die demographische Entwicklung und daß die Mehrzahl der Leute das ja eigentlich nicht brauchen. Ich weiß nicht, ob für diese unterschiedliche Wahrnehmung die Tätigkeit in unterschiedlichen Bereichen eine Rolle spielt.

Das Zweite jetzt zur Qualität: also ich habe mir mit meinem Mann zusammen als Vorbereitung für heute verschiedene Videobänder nochmal in Er-

[Seite der Druckausg.: 90]

innerung gerufen, was wir vor 12 Jahren, vor 13 Jahren, vor 10 Jahren gesehen haben im Fernsehen an ganz entsetzlichen Berichten über das, was in Heimen passiert. Und wenn ich damit das vergleiche, was wir selber gesehen haben in den letzten Jahren, was sich getan hat, was sich zum Besseren gewendet hat, dann denke ich, das sollten wir jetzt nicht unterschlagen. Wenn wir uns jetzt um die Probleme kümmern, die es im Augenblick im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung natürlich gibt, finde ich trotzdem, es hat sich so viel an Verbesserungen in den letzten 10 Jahren getan, wie wahrscheinlich in 20 oder 30 Jahren davor nicht; wenn wir nur an die Erstellung von kleinen Heimen und so was denken.

Und der dritte Punkt ist eine Frage: ich habe in etlichen Abhandlungen gelesen, daß die Älteren gemessen an früheren Jahrgangskohorten von Älteren eigentlich gesünder sind. Wenn man das weiterdenkt, bleibt doch zu fragen, ob es wirklich so kommen wird, daß die ganz alten Jahrgänge immer noch mehr und erheblich mehr pflegebedürftig sein werden und ob wir dadurch immer mehr solche Plätze brauchen, oder ob man nicht vielleicht doch davon ausgehen kann, daß diese Wahrnehmungen stimmen, daß die heutigen Älteren gemessen an den früheren Älteren gesünder oder sagen wir mal weniger krank sind.

Ursula Kruse: Ich frage nicht nach der Verweildauer der Kräfte, sondern nach dem Grund, warum sie ausscheiden und möchte da zwei Beispiele angeben: das eine, was Sie ja schon sagten, daß die Bewohner der Heime älter und deshalb stärker pflegebedürftig werden und die Motivation der Mitarbeiter sehr schwierig aufrecht zu erhalten ist, die nicht sehen können, daß sie irgend etwas bewirken, was in positive Richtung geht. Und dann habe ich von jüngeren, gut ausgebildeten Altenpflegerinnen, die ausgeschieden sind, zum Teil weil sie nun gerade Kinder hatten und das dann freiberuflich stundenweise weitergemacht haben, gesagt bekommen, die Personalknappheit und deshalb die Überlastung aller Funktionen ist so stark, daß ein Gespräch mit den Gepflegten nur sehr schwer zustande kommt über das direkte Pflegerische hinaus. Und wenn man das dann in seiner freien Zeit macht, setzt man sich der Kritik der Kollegen aus, die glauben, man täte das, weil man die Hand für Geschenke aufhalten will. Und die das nicht mehr ausgehalten haben und gesagt haben, dann ge-

[Seite der Druckausg.: 91]

hen wir raus aus dem Heim und machen eben aus der Familie raus stundenweise privat.

S. Schäfer-Walkmann: Also zum letzten Argument: wir hatten in unserem Fragebogen der Mitarbeiterbefragung auch einen Teil an so offenen Fragen, wo die solche Dinge auch beschreiben konnten. Wir hatten eine Frage gestellt: „Wofür wird hier in Ihrer Einrichtung zuviel Zeit verwendet in der Pflege und wofür Ihrer Einschätzung nach zu wenig ?" Also zu wenig Zeit, sagt eigentlich jeder, die Pflege an und mit dem Bewohner. Also die Pflegekräfte empfinden ganz subjektiv, daß ihnen zu wenig Zeit für das bleibt, vielleicht auch für ihre idealen Vorstellungen, mit denen sie mal in diesen Beruf gestartet sind. Was auch ganz stark rauskam in einem Heim, wo man versucht hat, jetzt einrichtungsintern was zu machen, und die haben Pflegekräften oder Stationen sogenannte Mentorinnen zur Seite gestellt. Das sind Leute, die haben die Aufgabe, die psychische Befindlichkeit der Mitarbeiter zu stärken; da ist also für die Pflegekräfte jemand da, der Ansprechpartner ist, der auch diese Frustrationen und diese Enttäuschungen mit auffangen kann. Und hier sind sehr viele Antworten gekommen, daß sich seitdem auch das Klima in der Station verbessert hat, daß man wieder lieber in die Arbeit geht und so.

A. Braun: Woher nehmen die diese Leute ?

S. Schäfer-Walkmann: Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen, also wir können da noch mal nachfragen; aber das wäre jetzt zum Beispiel so eine Möglichkeit, wo ein Heim versucht, auch intern was für die Zufriedenheit der Mitarbeiter zu tun; also auch diese Frage, was tun dann die Häuptlinge für die Indianer. Und dann auch wieder für die Zufriedenheit der Bewohnerinnen und Bewohner, weil ja dann auch wieder mehr Zeit bleibt. Aber Pflegekräfte sehen ihre Arbeit schon teilweise in einem sehr kritischen Licht und es ist dieses burn-out-Phänomen natürlich auch bei uns in hohem Maße beschrieben worden. Also da unterscheiden sich diese Ergebnisse nicht sonderlich, gleichwohl gibt es Ansätze, die Probleme zu bewältigen. Also ich wehre mich auch dagegen, jetzt zu sagen, das ist jetzt alles qualitativ nur Mist, was da rauskommt, und da wird überhaupt nicht gut gepflegt oder so. Da täte man auch den Mitarbeiterinnen, denke ich, schwer unrecht, die ja eigentlich auch jeden Tag diese Arbeit leisten.

[Seite der Druckausg.: 92]

Es ist auch oft natürlich ein Zurechtkommen mit Dingen; es spielt sich auch etwas ein und was ganz extrem wichtig ist, ist auch das Arbeitsklima auf der Station. Wenn die Pflegekräfte gut zusammenhalten - das war also sehr stark angekreuzt und gefragt - wenn es ein spürbar gutes Klima auf der Station gibt, geht man auch mit Widrigkeiten besser um und man fängt sich auch gegenseitig auf.

T. Schilling: Es gibt ja interessante Untersuchungen, die sagen, in dem Maße, wie man sich immer wieder - und das hängt auch mit dem Leitbild zusammen - an der Motivation des Personals orientiert, kann man das Arbeitsklima beeinflussen. Das ist unsere Ressource, wenn schon alles irgendwie immer schwieriger wird, die Arbeitsintensität zunimmt, die Arbeitsquantität - der Arbeitsumfang nimmt nicht unbedingt zu, aber subjektiv haben die meisten Pflegekräfte das Gefühl, daß die Arbeit anstrengender geworden ist, daß es schneller geworden ist, daß die Zeit ihnen sozusagen im Genick sitzt. Pflegekräfte, die ich interviewt habe, haben beschrieben, daß es möglich sein muß, daß Pflegekräfte so etwas wie Entlastungsrituale haben. Also ich benutze jetzt bewußt den Begriff Ritual, also daß man meckern kann, daß man schimpfen kann, daß man sprechen kann, das was Sie andeuteten mit der Atmosphäre auf der Station, wie ist das Verhältnis zwischen älteren und jüngeren Mitarbeitern. Also, solche Phänomene, denke ich, hängen auch damit zusammen, daß viele Pflegekräfte sagen, ich habe einfach keine Lust oder Motivation mehr für ein Gespräch, ich bin einfach kaputt. Also das wird ja oft beschrieben. Immer wieder soll ich eine Beziehungspflege aufrecht erhalten, immer wieder soll ich sozusagen dicht am Patienten dran sein, aber ich habe mit mehreren Patienten zu tun. Also es gibt, denke ich, so anästhesierende Phänomene, daß ich mich über Routinen auch abschotte und versuche, nicht immer unbedingt in Beziehung mit den Patienten zu treten. Ich kann das zum Teil verstehen, bei der Analyse von Fehlzeiten kommt das oft zum Ausdruck, daß Pflegekräfte genau so etwas beschreiben. Daß an ihre Motivation permanent appelliert wird, daß aber Entlastungsmöglichkeiten fehlen. Das hängt für mich mit Ritualen zusammen oder mit Supervisionen. Was Sie hier mit Beratern machen, also daß es Räume gibt, wo diese Selbsthilfe, und das ist ja im ganzheitlichen Leitbild sehr stark formuliert, wirklich ernst genommen wird und daß Phänomene explizit gemacht werden, also daß darüber gesprochen wird. Vieles bleibt ja sozusagen un-

[Seite der Druckausg.: 93]

sichtbar an Frustration. Ich denke, daß das ein ganz wichtiger Punkt ist. Auch bei dieser Leitbilddiskussion, wo immer auch mit der Motivation des Mitarbeiters ja sehr stark gearbeitet wird und das, wenn überhaupt noch für den einzelnen Träger, das besondere Gesicht der Einrichtung ist. Die Motivation der Mitarbeiter, die Überschußmotivation der Mitarbeiter, an die permanent appelliert wird.

S. Schäfer-Walkmann: Ich wollte noch auf die Frage antworten, mit dem Bedarf, die Sie dort hinten gestellt hatten. Also die Enquetekommission „Demographischer Wandel" hat in ihrem zweiten Zwischenbericht herausgearbeitet, daß es natürlich diese Gruppe der gesünderen, jüngeren Älterwerdenden gibt, hat aber auch gleichzeitig festgestellt, daß ab einem bestimmten Alter auch bei diesen gesünderen Älteren die Wahrscheinlichkeit durchaus nicht unbedingt höher wird, daß die nicht der Pflege bedürfen. Also daß diese Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden in hohem Alter, gleichbleibend wahrscheinlich bleiben wird und daraus auch im demographischen Wandel sich eine steigende Zahl der Pflegebedürftigen erwarten läßt. Also Sie können zwar sagen, daß Sie das Alter von 70 bis 75, 76 vielleicht gesünder verbringen werden aufgrund des medizinischen Fortschritts, aber beim jetzigen Stand der Forschung scheint es so, daß sich das hohe Alter ab 80, 85 Jahren doch als Lebensspanne herauskristallisiert, in dem Sie sehr krankheitsanfällig werden, in dem dann auch eben häufig psychiatrische Erkrankungen dazu kommen und man davon ausgehen muß, daß eben gerade kleine Krankheiten, die Ihnen in jüngeren Jahren nicht so viel ausmachen, hier auch eine verheerendere Wirkung haben, oder daß eben Krankheiten trotz des ganzen Fortschrittes sich dann auch als chronisch manifestieren. Das ist dort im Kapitel über die demographische Entwicklung so als Ergebnis formuliert und bedeutet, der Bedarf wird nicht zurückgehen, ganz im Gegenteil.

A. Braun: So jetzt sind wir schon mitten in Eduard Olbrichs Zeit drin und jetzt habe ich immer noch vier Wortmeldungen.

Ferdinand Schwering-Kemper: Schwering-Kemper aus Rheinstetten, Sozialberatung. Ich habe an Herrn Schilling die Frage oder habe da so rausgehört, daß er die Individualisierung mehr bevorzugt als die Heim- bzw. Einrichtungs-Diskussion. Mich erinnert ja diese Diskussion ein biß

[Seite der Druckausg.: 94]

chen an die 70er, 80er Jahre, die Diskussion um das JWG damals noch, wo es um Erziehung ging, also um Kinder. Habe ich Sie da richtig verstanden, daß Sie sagen, wir müssen zukünftig eigentlich Einrichtungen entwickeln, die ein bißchen die spezifischen, individuellen Besonderheiten älterer Menschen mit berücksichtigen und daraus ihr Leitbild entwickeln oder war das nicht gemeint bei Ihnen?

Annelie Schulz: Annelie Schulz, Geschäftsführerin Volkssolidarität Dresden. Ich wollte auf einen Aspekt zurück kommen, den Sie genannt hatten. Und zwar war das der, ob das nicht eine Lösung sei, eher in ein Heim zu gehen. Sie hatten das nur kurz so erwähnt mit dem Buch, aber sind nicht darauf eingegangen. Die ganze Diskussion geht mir zu sehr in diese Trennung hinein, offene Altenarbeit und stationäre Altenhilfe und weniger also auf diese Ganzheitlichkeit, auf diesen Anspruch, in eine Lebenssituation hineinzuwachsen und zwar frühzeitig. Ich denke, das wäre auch eine Möglichkeit und ich sehe das im Zusammenhang auch mit den Pflegekräften. Sie müssen sich mal vorstellen, wie eine Pflegekraft einen Menschen erlebt, der da nur noch hilfsbedürftig und hilflos ist. Man kann nicht mehr nachvollziehen, welche Persönlichkeit dieser Mensch war, und das ist auch schwierig dann für den Pflegeprozeß.

A. Braun: Und wie wollen wir die vielen „Nuller" finanzieren?

A. Schulz: Das ist nicht unbedingt eine Frage der Finanzierung; also wir gehen in Dresden ganz speziell einen Weg, wo wir nicht einzelne Einrichtungen schaffen, sondern wir nennen das sozialkulturelle Zentren, also Häuser, wo alles unter einem Dach ist, von der Begegnungsstätte angefangen. Wir versuchen, das nicht als finanzielles Problem zu sehen, sondern wirklich als Problem, die Schnittstellen transparent zu machen und das übergreifend zu tun. Und ich glaube, dafür gibt es noch nicht genügend Rahmenbedingungen. Auch die Selbsthilfe, die kann mitgefördert werden an solchen Einrichtungen und das Zusammenwachsen. Und dann muß ich auch noch eins ansprechen: es wird zwar immer sehr viel an Ansprüchen formuliert, aber ich merke auch, daß alte Menschen sich nicht unbedingt mit anderen alten Menschen solidarisieren. Und das ist auch ein Problem, wo ich denke, daß das ein Problem ist, aber ob dort nicht auch noch eine Chance liegt.

[Seite der Druckausg.: 95]

Friedhelm Menzel: Menzel aus Frankfurt vom Diakonischen Werk. Ich hätte eine Frage an die Untersuchung in Baden. Wurde da auch Fragen nachgegangen in Bezug auf die Erhebung von individuellem Pflege- oder Hilfebedarf. Ich sehe das bei unseren Vergütungsverhandlungen, bei denen ich ab und zu die Freude habe, dabei zu sein, daß das überhaupt keine Rolle spielt und daß der MDK auch seinen Verpflichtungen, nach Paragraph 18 individuellen Hilfebedarf zu erstellen, überhaupt nicht nachkommt. Also haben Sie das versucht, in den sechs Einrichtungen gegenzurechnen gegen Ihre Zeitergebnisse. Meine Befürchtungen in der Verwendung solcher Untersuchungen ist, daß am Ende das, was Sie erhoben haben, als idealtypisch gesetzt wird und andere sich dann danach richten sollen. Meines Erachtens ist das noch weit weg, gerade am Beispiel der Grundpflege und des Themas Kommunikation - wieviel Kommunikation ist verbunden mit Grundpflege - wird deutlich, daß zum einen die Mitarbeiter das selber nicht gut finden, auf der anderen Seite dennoch nicht kommunizierende Grundpflege leisten. Und ein Ergebnis von so einer Untersuchung, fürchte ich jedenfalls, wird dann sein, daß das festgeschrieben wird, aber nicht, wie man es eigentlich richtigerweise haben sollte und machen sollte.

Gertrud Hartmann: Ich heiße Hartmann, ich war vor 20 Jahren im Stiftungsrat der Gustav-Werner-Stiftung und bin jetzt ehrenamtlich Besucherin in der Gustav-Werner-Stiftung in einem Heim. Daß von vor 20 Jahren sage ich wegen Dir, Gotlind; ich fand, daß die damals schon ganz gute Arbeit gemacht haben und Fernsehsendungen vielleicht nicht immer die reine Wahrheit sind. Als ehrenamtliche Mitarbeiterin bestätigt sich meiner Erfahrung nach vielfach das, was Sie vorher gesagt haben. Die unglücklichsten Leute in unseren Häusern sind die, die von ihren Angehörigen gebracht werden, wenn es gar nicht mehr anders geht; bei denen nun zu dem Schmerz von Abschied noch die Bitterkeit kommt, daß man ihnen so etwas antut, was man ja eigentlich gar nicht darf. Und die anderen Unglücklichen, die dazugehören, sind die Angehörigen, die sich über Jahre hinweg geplagt haben und jetzt einfach an eine Grenze gekommen sind und nicht mehr anders können. Und die glücklicheren Leute in unserem Heim sind die, die schon seit Jahren in dem nebendran stehenden Treffpunkt für Ältere ein- und ausgegangen sind, dort Freunde gefunden ha-

[Seite der Druckausg.: 96]

ben und vielleicht schon dort auch Begegnung hatten mit Leuten aus dem Heim, die dort zu Konzerten und Vorträgen rübergebracht werden, und die jetzt ausdrücklich dieses Heim gewünscht haben, damit sie diese Beziehung aufrecht erhalten können. Und das scheint mir eine Konzeption zu sein, die Zukunft hat. Ich warne aber vor jedem Leitbild, weil das Normen aufstellt, die manche Leute nicht erfüllen können und die dadurch belastet werden. Ich habe einfach das ganz grobe Leitbild „Jedem das Seine" und das ist ganz verschieden in verschiedenen Lebenssituationen.

A. Braun: Danke; wenn Sie jetzt beide in je fünf Minuten sozusagen einen Schlußpunkt setzen könnten, dann wären wir einigermaßen in einem Zeitrahmen, mit dem wir den Nachmittag durchhalten können mit den zwei Elementen.

T. Schilling: Also ich bin noch bei ein paar Punkten, die angefragt wurden. Sie sagten, Ihnen fehlt so ein bißchen die öffentliche Stimme, was Gewaltphänome betrifft. Soviel ich weiß, gibt es zum Beispiel ein aktuelles Memorandum einer Arbeitsgruppe gegen Gewalt, die auch vom Kuratorium Deutsche Altenhilfe herausgegeben wurde, wo genau das, was Sie eben angesprochen haben, offensiv formuliert und auch verbreitet wird. Also strukturelle Gewalt, es geht also zum Beispiel darum, daß Zweibettzimmer eine Form der Gewalt sind, also daß man auf Einzelzimmer orientiert. Und es wird durchdekliniert, was Gewaltphänomene alles sein können. In der Professionalisierungsdebatte der Pflege ist das schon lange eine Diskussion - zugegebenermaßen ist das nur eine Teilöffentlichkeit. Grenzsituationen in der Pflege: Gewalt, Aggressionen, Sterben und Tod. Und wie Professionelle mit solchen Situationen umgehen, also wie sie vermitteln. Das gilt ja als professionelles Merkmal und das ist genau das, was möglicherweise auch so einen Beruf ausmacht in seiner Würde, in seiner Ethik, also in seinem Berufsethos. Also gerade diese Grenzsituationen, das sind Tätigkeitsmerkmale, die mir bei dieser Studie ein Stück fehlen. Da sehe ich durchaus noch einen Handlungsbedarf, daß entlang dieser Grenzsituation, die für mich sehr viel mit Ethik und Moral zu tun haben, öffentlicher darüber diskutiert wird, und vor allen Dingen in der Ausbildung solche Vermittlungsstrategien eingeübt werden und daß darüber gesprochen wird. Daß man mit dem Leitbild sozusagen Patienten präventiv stationär betreut, da würde ich im Einzelfall nichts dagegen sagen wol-

[Seite der Druckausg.: 97]

len. Im Einzelfall kann das völlig in Ordnung sein, aber daraus sozusagen ein Paradigma zu machen, da sehe ich ein Problem. Aber als Vorbereitung auf einen möglicherweise bald eintreffenden Zustand, das finde ich professionell, das kann im Einzelfall eine sehr gute Lösung sein. Der andere Einwand, daß die positive Orientierung, daß die in den sozialpolitischen Diskursen so nicht mehr sichtbar ist: auf der Präambel- und Postulatenebene, in der WHO-Orientierung, in der Gesundheitsorientierung, in den konzeptionellen Grundpräambeln denke ich, ist diese optimistische und idealistische Form des Alters nach wie vor sichtbar. Daß das möglicherweise anders diskutiert wird, möchte ich nicht abstreiten, aber wozu dann diese vielleicht wirklich zum Teil ausgehöhlten formalen Richtlinien, wenn es dazu nicht kontextbezogene Übersetzungen - auf den Träger bezogene Übersetzungen - gibt.

S. Schäfer-Walkmann: Also, ich möchte jetzt keine 5 Minuten mehr reden, ich habe - glaube ich - schon genügend gesagt. Was mein Appell wäre, zum einen auch jetzt als Antwort auf Ihre, auch wenn nicht global definierte oder geäußerte Kritik an der Studie, also davor warnen, mit einer Studie alles erschlagen zu wollen, beantworten zu wollen und ich sehe durchaus die Gefahr und diese Gefahr läuft jede wissenschaftliche Untersuchung, daß sie für irgendwelche Zwecke und Mittel instrumentarisiert wird. Ich kann Ihnen nur das vorstellen, was wir mit dieser Studie untersuchen sollten und auf welchem Wege wir das versucht haben. Wir denken, daß wir mit dem Gegenstand, den wir uns als wissenschaftliche Fragestellung gestellt hatten, nämlich Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit von Pflegeleistungen in stationären Pflegeeinrichtungen, daß wir ein Untersuchungskonzept angewandt haben, mit dem wir zu reliablen und validen und durchaus zuverlässigen Ergebnissen gekommen sind. Es gibt natürlich eine Fülle von Fragestellungen, die wir damit nicht abgedeckt hatten, das war aber auch nicht unsere Absicht. Also ich möchte davor warnen, immer alles in einen Topf zu schmeißen, dann einmal kräftig umzurühren und dann zu sagen, das ist jetzt der Zeitwert für die aktivierende Pflege. Es ist uns auch so gegangen, daß die Intention des Auftraggebers oder auch die erwartenden Ergebnisse durchaus andere waren, als wir ihm jetzt präsentieren. Sie sind aber in der Wissenschaft nie davor gefeit, daß Ihre Ergebnisse nur teilweise, partiell herausgenommen werden und dann auch tatsächlich fehlinterpretiert werden. Also ich möchte daher, auch als Ant

[Seite der Druckausg.: 98]

wort auf Sie, doch bitten nachzulesen, was ist damit erreicht worden. Sie werden auch im Ergebnis dieser Studie kein Maß dessen finden, was das Notwendige ist. Und das war auch unsere Bedingung, daß wir diese Studie angenommen haben. Wir haben gesagt, das kann niemand, niemand in der ganzen Bundesrepublik, auf der ganzen Welt vielleicht, wenn ich das jetzt dramatisieren darf, sagen, was das notwendige Maß an Pflegeleistungen ist. Das kriegen Sie nicht beantwortet. Und auch der Auftraggeber hat niemanden gefunden, der ihm das letztendlich beantworten konnte und wollte. Das ist eine Frage der Auseinandersetzung, auch der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, der Ethik und letztendlich müssen wir uns alle die Frage stellen, was uns Pflege wert ist und wie wir sie finanzieren wollen. Und damit möchte ich schließen.

A. Braun: Also ich darf nochmals sagen, ich war froh, als ich gehört habe, da gibt es Leute, die sind an der Sache wenigstens empirisch dran und untersuchen da was. Und vielleicht könnten die Euch ja in einem halben Jahr auch was sagen, aus der Empirie heraus. Und das, finde ich, hat sich gelohnt einfach dranzubleiben. Jetzt noch eine Gewaltmaßnahme: fünf Minuten Fenster öffnen, Türen öffnen und dann sind wir wieder da und steigen in das Gespräch mit Eduard Olbrich ein.


©
Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 2001

Previous Page TOC Next Page