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Karl-Heinz Wehkamp
Die Situation Sterbender verbessern


Eine Verbesserung der Situation Sterbender und Sterbenskranker in der Bundesrepublik Deutschland ist m. E. gleichermaßen nötig wie möglich. Insofern bejahe ich die Frage nach einem Handlungsbedarf ausdrücklich. Das zugrundeliegende Problem scheint mir aber in erster Linie kein rechtliches, sondern ein kulturelles zu sein. Die Akzeptanz des Sterbens, die Einschätzung der Grenzen des medizinisch Möglichen und die Reduktion von "Hoffnung" auf medizinische Erfolge stehen hierbei im Mittelpunkt. Die Förderung medizinethischer Aspekte in Praxis und Ausbildung ist ebenfalls wichtig.

Politische und auch rechtliche Schritte sind im Sinne flankierender, anstoßender und unterstützender Maßnahmen sinnvoll und notwendig. Wünschenswert wäre mehr Klarheit über Möglichkeiten der Beendigung von Diagnostik und Therapien in Situationen, die nach medizinischer Erfahrung als aussichtslos gelten. Auch die Dokumentation von Willenspositionen von Patienten, z. B. im Sinne sogenannter Patiententestamente, wäre m. E. wertvoll (wenn auch nicht unkompliziert). Ich denke aber neben juristischen Klärungen auch an Ausbildungs- und Qualifizierungswege medizinischen und pflegerischen Fachpersonals, an allgemeine Bildungs- und Fortbildungsmaßnahmen, an kulturpolitische Initiativen sowie an politische Entscheidungen über Institutionen und ökonomische Modelle, z. B. zur Finanzierung ambulanter und teilstationärer Pflege- und Hospizeinrichtungen.

Nach meiner Erfahrung beurteilen die meisten Ärztinnen und Ärzte ebenso wie die Pflegenden die Situation Sterbender und Sterbenskranker als defizitär und häufig als "inhuman". Dies gilt auch für die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen der hier Tätigen. Diejenigen, die schon mehrere Jahrzehnte im Gesundheitswesen arbeiten, beurteilen die Situation dennoch eher als "etwas besser als früher".

Der auch in den Medien weitverbreitete Vorwurf der "Inhumanität des Sterbens" in deutschen Kranken- und Pflegeeinrichtungen ist m. E. eher oberflächlich. Die Begutachtung oder die Urteile über das, was als human oder inhuman gilt hinsichtlich des Sterbens, verwischt in der Regel das Sterben selbst und die medizinisch-pflegerische Begleitung. Die Beurteilungen sehen primär die Situation leidender Menschen, nicht aber die Komplexität und ethische Problematik medizinischer Entscheidungen, die ihrerseits Leben und Tod berühren können. Die Problematik des Therapieverzichts bzw. der Beendigung intensiver therapeutischer und diagnostischer Maßnahmen ist explizit wenig diskutiert.

Klagen aus den Kliniken kommen in Deutschland bemerkenswerterweise fast nur über einen Einsatz von zuviel Medizin, nicht über zu wenig. Je dichter die Befragten aber selber persönlich an einer Entscheidung beteiligt sind, um so mehr Verständnis haben sie für den Einsatz größerer medizinischer Ressourcen. Aus der Distanz stellt sich das anders dar.

Mängel werden aber in Hinblick auf Begleitungsmöglichkeiten angezeigt. Es fehlt an Personal, Zeit, Kraft, Bereitschaft und Qualifikation, den Bedürfnissen Sterbenskranker gerecht zu werden. Es fehlt m. E. aber auch eine klinische "Entscheidungskultur", die einer der ethischen Komplexität angemessenen Entscheidungsvorbereitung dienlich wäre. Diese kann nur als demokratische Kliniköffentlichkeit gedacht werden.

Einem vielfältig begründeten Druck nach einer tendenziellen Maximalisierung medizinischer Maßnahmen steht eine verbreitete Hilflosigkeit zur Therapiebegrenzung aus menschlichem

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Interesse entgegen. Fatalerweise sind ökonomisch begründete Therapiebegrenzungen am klarsten ausgearbeitet.

Für Patienten ist die Vermeidung von Ärzten und Gesundheitswesen oder der bewußte Rückzug aus dem Umkreis ärztlicher Verantwortlichkeit oft der sicherste Weg zum Schutz vor befürchteten medizinischen Übergriffen (z.B. als verlängerte Intensivtherapie).

Patiententestamente sind in der Bundesrepublik kaum eingeführt und werden von den meisten ÄrztInnen eher skeptisch beurteilt. Sie sehen darin nicht nur ein Mißtrauen ihnen gegenüber, sondern auch die Gefahr des Verzichts bzw. Verbots sinnvoll erscheinender lebenserhaltender Interventionen.

Passive Sterbehilfe im Sinne von Therapieverzicht oder -reduktion scheint in Deutschland relativ weit verbreitet, aber auch mit viel Unsicherheit behaftet zu sein. Die schwierige Thematik ist in der Regel in Indikationsfragen enthalten (und verborgen), ohne daß sie explizit im Sinne eines medizinethisch reflektierten Diskurses behandelt würde.

Therapiereduktion im intensivmedizinischen Bereich wird in der Regel so praktiziert, daß man nicht die Beatmungsgeräte abstellt, sondern kreislaufstabilisierende Medikamente reduziert und die Sauerstoffkonzentration der Beatmungsluft auf die der Raumluft herabsetzt. Die sterbenskranken Menschen sterben dann mehr "selbst", wohingegen das Abstellen von Geräten eher als indirekte Tötung empfunden werden kann. Das Abstellen eines Gerätes, häufig als heroische Verzichtsentscheidung dargestellt, gibt es sehr selten. Es wird aber von seltenen Fällen berichtet, in denen die über die Maßnahmen Entscheidenden "durchgedreht sind und schon mal den Stecker einer Beatmungsmaschine herausgerissen haben" - freilich bei tief komatösen Patienten mit infauster Prognose.

Fälle aktiver Sterbehilfe gibt es zweifellos auch in Deutschland, möglicherweise aber eher ambulant als in Kliniken und dann heimlich. In solchen Fällen dringen todkranke Patienten auf ärztliche Tötung. Eine engere persönliche Beziehung, die ein Vertrauensverhältnis begründet, scheint dabei die Voraussetzung zu sein.

Die mir berichteten Fälle von aktiver Sterbehilfe bezogen sich in der Regel auf austherapierte Karzinompatienten, die dann häufig einen niedergelassenen Arzt oder eine Ärztin gefunden hatten, die mit Höchstdosen von Morphinen, meistens intravenös, den Eintritt des Todes herbeigeführt, zumindest bewußt in Kauf genommen haben. Die Grenze zur "indirekten Sterbehilfe" sind hier fließend.

Von großer Bedeutung scheint mir die Rolle des Pflegepersonals zu sein. Dieses fühlt sich nicht selten zur Mithilfe bei "medizinisch verordneter Patientenquälerei" gezwungen, was oft zu Überforderungssituationen führt. Fehlende Möglichkeiten eines Einbringens der eigenen Überzeugungen und Empfindungen begünstigen "burn-out-Phänomene", häufigen Stellenwechsel und auch Formen des passiven Widerstands.

Gar nicht so selten fühlen sich Pflegekräfte in Entscheidungssituationen alleingelassen - eine Beobachtung, die auf den ersten Blick irritieren mag, da medizinische Entscheidungen ja Ärzten vorbehalten sind. Dabei ist zu bedenken, daß Pflegende zumindest vor der Entscheidung stehen, ob und zu welchem Zeitpunkt sie einen Arzt oder eine Ärztin informieren und damit alarmieren. Gerade die Nachtwachen haben hier einen erheblichen "Ermessensspielraum", der ihnen gelegentlich auch explizit von ÄrztInnen gegeben wird.

Ein weiterer Ansatzpunkt pflegerischer Interventionen ist die Ausführung bzw. Umsetzung ärztlicher Verordnungen. Wenn diese nicht einsichtig sind und sogar das moralische Empfinden der Pflegenden verletzen, werden sie immer wieder auch unterlaufen bzw. sabotiert.

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Am Tropf läßt sich drehen, ein Venenzugang kann verstopft sein, eine Spritze oder Tablette kann im Ausguß landen usw.

Pflegende größerer Kliniken berichteten mir, die in der Presse dargestellten Tötungen kranker Patienten seien nur die "Spitze eines Eisbergs" und könnten sich leicht wiederholen. Solche Tötungen werden keineswegs durchgehend als Verbrechen angesehen, sondern nicht selten als "humanes Erlösen".

Das Fehlen einer fachspezifischen und öffentlichen (!) Diskussion um den Therapieverzicht bzw. die Grenzen sinnvoller Medizin erscheint mir im Zusammenhang der oben ausgeführten Skizzierungen das entscheidende Defizit zu sein. Die Diskussion um Humanität im Umgang mit Sterbenden führt m. E. in eine falsche Richtung, weil die in der Regel aus einer Perspektive "ex-post" argumentiert, also nach Eintritt des Todes, wenn sich ein Krankheitsverlauf eindeutig als Sterbeverlauf erwiesen hat. Sie übersieht das Phänomen, daß zu dem Zeitpunkt, in dem sich sowohl Patienten als auch Therapeuten entscheiden müssen, die Situation prinzipiell offen ist zwischen Leben und Tod. Im Moment der Entscheidung wissen wir oft nicht, ob es sich um einen Sterbeverlauf handelt, zumal darüber ja auch die medizinische Maßnahme mitentscheiden kann. Wenn ich beispielsweise erfolgreich intensive Medizin betreibe, dann handelt es sich in der Folge nicht mehr um einen Sterbensverlauf. Habe ich aber keinen Erfolg, so handelt es sich um ein Sterben.

Teil der ärztlichen Kunst ist die Identifikation jenes Punktes, an dem aus einem Krankheitsverlauf ein Sterbeverlauf wird - und wo die Ziele ärztlicher Intervention dem jeweils Erreichbaren angepaßt werden sollten.

Zusammengefaßt ist die Situation Sterbenskranker und Sterbender einschließlich des dabei involvierten ärztlichen und pflegerischen Personals in Deutschland problematisch genug, um Handlungsbedarf zu begründen. Juristische und politische Maßnahmen sind dabei im Hinblick auf die "Grenzen der Medizin" und die Wahrung von Autonomie und Würde der betroffenen Menschen wichtig. Sie ersetzen aber weder die notwendigen Veränderungen im Ausbildungs- und Qualifikationsspektrum der Heilberufe noch die erforderliche offene Entscheidungskultur im Rahmen der (klinischen) Medizin. Schließlich ersetzen sie nicht die nötige Revision des Bildes einer allmächtigen Medizin in der Öffentlichkeit.

Zum Schluß noch einige Sätze zum Thema "Hospiz". Hospize bzw. die Hospizbewegung halte ich für wertvoll, wichtig und unterstützenswert. Hospize können als institutionalisierte Therapiebegrenzung verstanden werden - bei gleichzeitiger Verbesserung der menschlichen Zuwendung und guter Schmerztherapie. Kritisch möchte ich zur Hospizbewegung anmerken, daß seelsorgerische und psychologische Zuwendung den Blick auf die tieferliegende ethische Dimension der Therapieverzichtsproblematik oft verdecken.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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