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Hermann Pohlmeier
Ethische und rechtliche Bedingungen humanen Sterbens


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Zum Thema nehme ich aus doppelter Kompetenz/Position Stellung: zum einen als Psychiater und Psychoanalytiker, zum anderen als derzeitiger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben.

Seit Jahrzehnten ist mein wissenschaftliches Arbeitsgebiet die Depressionsforschung und die Suizidforschung, die ich als Mediziner, Psychiater und Psychoanalytiker betreibe. Wenn man davon ausgeht, daß Depression und Selbstmord humanes Leben entscheidend beeinträchtigen, dann trägt die Erforschung depressiven und suizidalen Verhaltens entscheidend zur Humanisierung des Lebens bei. Die Wissenschaft geht in diesem Bereich den Bedingungen für Depression und Selbstmord nach und so ist neben vielen anderen maßgeblichen Arbeiten an meinem Institut für Medizinische Psychologie an der Universität Göttingen seit Jahren eine Studie in Arbeit über die Lebensbedingungen alter Menschen. Nachdem festgestellt worden war, daß im Alter die Selbstmordraten stark zunehmen und zugenommen haben, wurde jetzt die Lebenssituation alter Menschen Untersuchungsgegenstand. In einer auf 20 Jahre angelegten Längsschnittstudie unter der Projektleitung von Dipl. Soz. Dr. Rainer Welz sollen die Faktoren herausgefunden werden, die Depression und Selbstmord fördern. Erste Ergebnisse machen erschreckend deutlich, daß Demenz, also Gehirnabbau, Depression und körperliche Erkrankung das Alter stark negativ beeinflussen. Erste Konsequenzen sind praktisch gefunden durch die Gründung einer Altenakademie in Göttingen, die sich zur Aufgabe gemacht hat, die Lebensbedingungen im Alter zu verbessern und den Alten die Möglichkeit zu geben, mit Alter leben zu lernen und den Jungen mit Alten umgehen zu lernen.

Die Depressions- und Suizidforschung hat eine starke Nähe zur allgemeinen Sterbeforschung, die in der DDR bis zu deren Beitritt zur Bundesrepublik vor allem durch Privatdozent Dr. med. Kay Blumenthal-Barby vertreten wurde. Dieser führt diese Forschung jetzt am Göttinger Institut weiter. Sowohl von der Suizidforschung als auch von der Sterbeforschung führt der Weg zur Sterbehilfe über die sogenannte Beihilfe zum Suizid. Diese kann als eine Form der Sterbehilfe betrachtet werden. Ebenso führt der Weg zur Sterbebegleitung, deren Notwendigkeit aus Erkenntnissen der Sterbeforschung deutlich wird: Es ist auch im Sterben nicht gut, daß der Mensch allein sei.

Übergreifend wendet sich das Erkenntnisinteresse aus beiden Bereichen dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen als Grundrecht zu. Bei der Legitimation der Selbstmordverhütung geht es um die Frage, ob jemand seinem Leben selbstbestimmt und freiverantwortlich und vernünftigerweise ein Ende machen will und ihm dies zuzugestehen ist, oder ob er unter Zwang handelt. Genauso ist in der Sterbebegleitung die Frage entscheidend, daß so begleitet wird, wie es der Sterbende will. Bei einem eventuellen Sterbewunsch ist wieder die Frage, ob jemand selbstbestimmt und freiverantwortlich und vernünftigerweise seinen Tod durch einen anderen verlangt oder ob dieses Verlangen manipuliert ist. Die daraus sich ergebende philosophisch-ethische und auch juristische Frage ist, wie dieses Selbstbestimmungsrecht begründet werden kann und in Konkurrenz steht zum ebenso bestehenden Selbstbestimmungsrecht des Helfers und des Arztes. Selbstmordverhütung muß sich legitimieren zwischen Anmaßung und Verpflichtung und ebenso dürfen Sterbebegleitung und Sterbehilfe nicht aufdringlich und gegen den Willen des Betreffenden geleistet werden.

Die Sicht des Selbstbestimmungsrechtes aus der Kompetenz des Psychiaters, Psychoanalytikers und Depressions-/Suizidforschers ergänzt sich durch die Sicht aus der Kompetenz als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben. Dazu ist zu verweisen auf die

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Satzung der 1980 in Augsburg gegründeten DGHS. Dort wird im Paragraph 2 das Vereinsziel der DGHS folgendermaßen formuliert: "... Die Gesellschaft (DGHS) fördert das öffentliche Gesundheitswesen in der Verbesserung der Bedingungen für Sterbende. Sie versteht sich als eine Bürgerrechtsbewegung zur Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes des Menschen bis zur letzten Lebensminute. Sie versteht sich dabei als Vertretung jener Bürger, die sich das Recht auf eine Sterbensverkürzung aus humanitären Gründen sichern wollen. Ihre Tätigkeit richtet sich in erster Linie auf die Allgemeinheit und nicht nur auf die Mitglieder. Sie trägt zur Willensbildung hinsichtlich der Verfügung über das eigene Leben und deren Verwirklichung in unserem Staate bei. Die Gesellschaft (DGHS) arbeitet mit Organisationen gleicher Zielsetzung auf internationaler Ebene zusammen. Sie ist parteipolitisch unabhängig und dem Gedanken der Aufklärung und des Humanismus verpflichtet ..." Ich identifiziere mich als Präsident dieser DGHS uneingeschränkt mit diesem Vereinsziel und denke, daß aus langer wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Thema, langer praktischer Erfahrung als Psychiater und Psychoanalytiker und langer Erfahrung in Gremien des öffentlichen Lebens diese Identifikation sich ebenfalls aus einer Kompetenz, einer anderen als der professionellen, ergibt und nicht aus einer Ideologie.

Aus dieser doppelten Kompetenz nehme ich zu den rechtlichen Bedingungen humanen Lebens und humanen Sterbens jetzt, 1994, wie folgt Stellung: Nach dem Skandal in der Nazi-Zeit um die Tötung von 100.000 Menschen unter dem Decknamen des Gnadentodes in der berüchtigten T4-Aktion (der Hauptskandal ist, daß die Aktion offiziell vom Herbst 1939 bis Frühjahr 1941 angeordnet war, dann aber selbständig von maßgeblichen Psychiatern weitergeführt wurde) und nach dem Skandal um das Zyankali-Geschäft mit der Sterbehilfe von einigen Mitgliedern der DGHS bis Dezember 1992, ist überdeutlich geworden, daß wir in Deutschland eine rechtliche Regelung der Sterbehilfe brauchen, um humanes Leben und humanes Sterben zu gewährleisten. Entgegen der Ansicht des Juristentages 1986 in Berlin vor etwa 10 Jahren sowie der damaligen und jetzigen maßgeblichen Sachbearbeiter im Bundesjustizministerium besteht heute dringender Handlungsbedarf für den Gesetzgeber in diesem Bereich. Die Dringlichkeit ist außer zur Verhinderung genannter und ähnlicher Skandale begründet in einer zunehmenden Verunsicherung weiter Teile einer Bevölkerung, die Angst vor der Medizin bekommen hat. Auch nimmt die Verunsicherung der Richter zu, die Grenzfälle zu entscheiden haben und vor allem die von Ärzten, die trotz Richtlinien ihrer Standesorganisationen nicht genügend Orientierung in Konfliktsituationen haben. Die technische Entwicklung der Medizin hat in den letzten zehn Jahren noch einmal ein Ausmaß angenommen und einen Stand erreicht, mit dem zum Wohle der Menschen statt zur Huldigung des Fortschrittes im Alltag sehr schwer umzugehen ist. Darüber hinaus werden entsprechende Regelungen in den Niederlanden und in der Schweiz auf europäischer Ebene auch in Deutschland zur Stellungnahme zwingen und zur Auseinandersetzung auf der Ebene des europäischen Parlamentes, die jetzt in Deutschland noch ohne Druck vorbereitet und erarbeitet werden kann.

Literatur

Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe. Stuttgart 1986.

Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften: Richtlinien für die Sterbehilfe (1976). In: Alternativentwurf, 41-44.

Bundesärztekammer: Richtlinien für die Sterbehilfe. Deutsches Ärzteblatt 76 (1979), 957-960.

97. Deutscher Ärztetag 1994: Gesundheitspolitisches Programm der deutschen Ärzteschaft. Deutsches Ärzteblatt 91 (1994), Supplement zu Heft 24.

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Atrott, H.H./H. Pohlmeier (Hrsg.):Sterbehilfe in der Gegenwart. Regensburg 1990.

Blumenthal-Barby, K. (Hrsg.):Betreuung Sterbender. Berlin, 21991 (11982).

Pohlmeier, H. (Hrsg.): Selbstmordverhütung - Anmaßung oder Verpflichtung, Bonn 21994 (11978).

Welz, R.: Epidemiologie psychischer Störungen im Alter. Regensburg 1994.


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