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[Seite der Druckausg.: 27 ]


Pieter V. Admiraal
Sterbehilfe in den Niederlanden


Wenn ich heute über "20 Jahre Erfahrung mit der Euthanasie in den Niederlanden" spreche, ergibt sich für mich, daß ich auch über mein eigenes Leben spreche. Über mein Leben, das von 1947 an, als ich das Medizinstudium begann, so eng verknüpft ist mit dem Leben, Sterben, Leiden und der Krankheit von Mitmenschen.

Das sind beinahe 50 Jahre, in denen sich fast alles ethisch und moralisch geändert hat: Religion, Sexualität, Politik, Arbeitsethos, Kriminalität usw. Nach dem Weltkrieg waren wir alle davon überzeugt, daß sich vieles ändern müßte. Aber wir haben uns nicht vorstellen können, wie sich dann alles tatsächlich ändern würde. Die Enttäuschung könnte größer nicht sein. Und ich bin sicher, daß wir heute gar nicht einschätzen können, wie es im Jahre 2047 aussehen wird.

Das Medizinstudium war, wie in allen Ländern in Europa und Amerika, völlig darauf gerichtet, den kranken Patienten gesund zu machen: die Medikamente waren allopathisch, die diagnostischen Methoden durch die damalige Technik beschränkt und das Studium immer der längste aller Studiengänge. Der Patient galt als die zentrale Figur.

Aber ich habe es damals schon nicht verstanden, und es besteht leider auch heute noch die unglaubliche und absurde Situation, daß die Aspekte des Sterbens und die Psychologie des sterbenden Menschen fast kein Interesse fanden. - Ja, man muß sich heute fragen, ob nicht eigentlich der Arzt die zentrale Figur war.

Glücklicherweise hat der Patient sich damals uns völlig anvertraut und unsere Diagnose, Prognose und Therapie ohne Fragen akzeptiert. Dinge wie die Selbstbestimmung und das legitime Übergewicht des Patienten im Gegensatz zur Mediziner-Vorherrschaft sind erst viel später gekommen und bis heute auch noch nicht überall akzeptiert in Europa. Gleich nachdem ich 1961 meine Tätigkeit als Anästhesist begonnen hatte, fing ich an, mich mit den Problemen des Schmerzes und der Schmerzbekämpfung zu befassen, und kam dabei in Berührung mit Krebspatienten.

"Krebsschmerz" wurde damals als etwas Spezifisches angesehen. Es hieß, Krebsschmerz unterscheide sich von "normalem" Schmerz. Ich habe dann schnell festgestellt, daß der psychologische Effekt des Schmerzes bei Krebspatienten eine subtile Rolle spielt. So erinnern Schmerzen den Patient jeden Moment, Tag und Nacht an seine fatale Krankheit. Zunehmende Schmerzen bringen die Vermutung des Weiterwachsens, und das Auftreten von Schmerz an neuen, anderen Stellen ruft Angst vor Metastasen hervor. - So wird "Schmerz" eine Mischung von Schmerz, Angst, Trauer und Depression und ein Teil des Leidens.

Die ausschließliche Behandlung mit Analgetika (schmerzstillende Mittel) ist ungenügend und unbefriedigend. Dem muß man etwas anderes an die Seite stellen: Zuhören, Mitleiden, Mitfühlen und Mitmenschlichkeit erreichen in vielen Fällen mehr als Analgetika!

Heute sprechen wir von palliativer Sorge: Um einen Patienten in seiner letzten Lebensphase wird ein Team gebildet aus den nächsten Angehörigen, den ihn versorgenden Schwestern, dem behandelnden Arzt und einem Pastor. - Offiziell und systematisch haben wir damit in Delft 1973 begonnen.

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Ende der 60er Jahre besuchte ich das inzwischen berühmte St. Christopher's Hospice in London, und 1976 war eine Delegation aus Delft wieder dort. Wir haben uns damals entschlossen, keine separate Abteilung für die Sterbenden einzurichten, sondern die Patienten in ihrer jeweiligen klinischen Abteilung sterben zu lassen. Und das ist bis heute in den Niederlanden üblich geblieben.

Besprechen wir die einzelnen Mitglieder des Teams: Unter medizinischen Gesichtspunkten befindet sich die Schwester in einer Schlüsselstellung. Sie ist die wichtigste Person in dem Team, denn sie hat von allen den direktesten Kontakt zum Patienten. Während der pflegerischen Maßnahmen findet täglich ein direkter physischer Kontakt statt. Da sich dieser teilweise hinter den verschlossenen Vorhängen eines Bettes abspielt, kann sich ein hohes Maß an Vertrautheit entwickeln, das auch die Möglichkeiten gefühlsmäßiger verbaler Kontakte verbessert, weil der Patient glaubt, unbeobachtet und außer Hörweite dritter Personen zu sein. Aus welchen Gründen möchte der Patient vielleicht über seinen Zustand sprechen? Und wer ist als Ansprechpartner besser geeignet als die Schwester? - Erstens sieht sie ihn häufiger als irgend jemand sonst, zweitens steht sie mit ihm auf einer Stufe und drittens bleibt ihre Information immer unverbindlich: Je nach Inhalt der gegebenen Information und seiner eigenen Stimmung kann er deren Wahrheitsgehalt anzweifeln, denn sie ist kein Arzt. Ihre Information hat deshalb einen weniger bedrohlichen Charakter als die Information des Arztes.

Selbst in unausgesprochener Form kann die Schwester einen sehr wertvollen Kontakt zum Patienten herstellen. Eine aufmerksame Schwester wird in der Lage sein, Kummer, Angst und Depression zu erkennen. Das sind wichtige Signale. Und sie kann sich entweder entscheiden, darauf nicht einzugehen oder darauf zu reagieren, selbst wenn sie nicht dazu aufgefordert wird. Die Verbindungs- und Vermittlerfunktion zwischen einerseits dem Patienten und andererseits dem Arzt ist somit eine zentrale Aufgabe der Schwester.

Voraussetzung für eine wirksame Begleitung des Patienten sind die Fähigkeiten der Schwester - sich Zeit zu nehmen, still an der Seite des Patienten zu sitzen, eine Atmosphäre zu schaffen, für den Patienten und die Familie ein Zentrum der Ruhe zu bilden, einen Patienten nicht aufzugeben, bevor er wirklich gestorben ist, einen Patienten auf seine eigene Weise sterben zu lassen, und vielleicht das Wichtigste, den Patienten vor aussichtsloser medizinischer Behandlung zu schützen. Der erhöhte Beitrag der Schwester ist weitgehend auf die verbesserte Ausbildung zurückzuführen.

Wie oben erwähnt, werden die Aspekte des Sterbens noch immer nicht ernsthaft behandelt. Der Arzt ist nicht vorbereitet darauf, beim Sterben zu helfen. Seine Ausbildung hat das kaum vorgesehen. Schlimmer noch: Viele Ärzte sind auch geistig nicht darauf eingestellt. Während viele Ärzte brillante Vertreter ihres Berufsstandes sind, zeichnen sie sich menschlich durch einen ernsten Mangel an Vortrefflichkeit aus. Mit der Zulassung zur Berufsausübung hat ein Arzt nicht per definitionem die Fähigkeit, in psychischen Notfällen zu helfen.

Man kann von einem Arzt zu Recht weitreichendes medizinisches Fachwissen und absolute Hingabe an seinen Beruf erwarten. Man kann jedoch nicht von ihm erwarten, daß er die Sterbenden während des ganzen Weges bis zu ihrem Ende begleitet. Dafür hält er sich vielleicht tatsächlich nicht für qualifiziert, oder er sieht es nicht als seine Aufgabe an. Das ist eine Pflicht, der zu unterziehen er sich nicht veranlaßt sieht.

Man kann sagen: Der Arzt ist nicht zum Sterben da. Er sieht es als seine vornehmste Aufgabe, Leben zu erhalten und den Tod Tag und Nacht zu bekämpfen. Und das ist dann auch noch in voller Übereinstimmung mit dem hippokratischen Eid. Ja, Dogmatiker gehen sogar soweit, aus den Schriften des Hippokrates herauszulesen, daß die Hilfeleistung für einen sterbenden Patienten genau das ist, was ein Arzt unterlassen sollte. Aber haben inzwischen nicht tiefgreifende Veränderungen stattgefunden? Und bestimmen nicht andere Möglichkeiten und Erfordernisse die Aufgaben und Pflichten des Arztes von heute?

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Hippokrates sah das Interesse des Patienten als das Element von vorrangiger Bedeutung. Und dieser Patient erwartet in der letzten Phase seines Lebens von eben diesem Arzt, daß er ihm mit all seinem Wissen und seinen Fähigkeiten zur Verfügung steht und hilft. Dieser Patient hat das Recht, daß sein Arzt, falls es am Ende zum Schlimmsten kommt, ihn nicht mit den Worten "Ich kann nichts mehr für Sie tun" im Stich läßt.

Die medizinische Kunst findet mit immer neuen und ungeahnten Techniken noch immer mehr und mehr Möglichkeiten, Menschen noch länger am Leben zu halten, das doch keines mehr ist. Glücklicherweise wird es durch viele Ärzte nicht mehr als einmaliger Erfolg der Wissenschaft und als großer Segen für die Menschheit angesehen. Man lernt aufzuhören, wenn weitere Behandlung zwecklos und ausschließlich zur Last des Patienten geworden ist.

Meiner Meinung nach hat der Arzt die Verantwortung, seinen Patienten den Tod zu erleichtern; durch Hilfe also für den Patienten auf dem letzten, häufig sehr langen Stück des Weges, den er noch zurücklegen muß. Hilfe aber auch, wenn angesichts seines Zustandes seine Begegnung mit dem Tod durch Euthanasie friedlich, sanft und würdig gestaltet werden kann. Euthanasie also als würdiger, letzter Akt in der Begleitung des Sterbenden.

Man muß sich als Arzt natürlich fragen: Kann es meine Pflicht sein, Patienten auf Verlangen zu töten, und ist es ethisch zu rechtfertigen? - Vielleicht muß man es umkehren: Unter welchen Umständen wäre es moralisch gerechtfertigt, daß der Arzt seinen Mitmenschen bis zum Tode unerträglich leiden läßt? Persönlich habe ich diese Frage schon längst beantwortet: Ich sehe es als meine Pflicht an, bei Patienten, deren Leiden man nicht lindern kann, auf Verlangen Euthanasie anzuwenden. Dieser humanistische Standpunkt respektiert die Selbstbestimmung und wird in den Niederlanden auch von vielen religiösen Ethikern geteilt.

Natürlich hat ein Arzt unbedingt das Recht, Euthanasie aufgrund seiner persönlichen Einstellung zu verweigern. Was sich jedoch der Arzt - meiner Meinung nach - niemals erlauben sollte, ist, auf einen Euthanasiewunsch störrisch, unflexibel, arrogant, pedantisch oder gar feindselig zu reagieren. Ein Arzt muß sich immer bewußt bleiben, in welcher Position er sich befindet. Er ist es, in den der Patient Vertrauen setzt; er allein kennt die therapeutischen Möglichkeiten und Grenzen. Ein wirklich verantwortungsbewußter Arzt, der sich aus persönlichen Gründen nicht in der Lage sieht, einer solchen Bitte zu entsprechen, wird den Patienten einem Kollegen anvertrauen, der zumindest die Bereitschaft hat, mit dem Patienten über seine Bitte um Sterbehilfe zu sprechen.

Zu der Rolle des Krankenhauspfarrers gibt es zwei Denkschulen. Die eine unterstreicht das Primat ihrer religiösen Pflichten und fordert die strikte Einhaltung von Regeln und Ritualen. Die andere legt mehr Wert auf zwischenmenschliche Kontakte, in denen dann alle Aspekte der Krankheit zur Sprache kommen, auch die Sterbehilfe.

Die Ansichten über die inhaltliche Aufgabe sind zeitgebunden. Noch vor nicht allzu langer Zeit wurde die Rolle des Pastors zum Beispiel in Krebsfällen so verstanden, daß er dem Patienten und der Familie am Ende des Weges am besten Trost spenden kann. So gesehen war der Pastor mit dem Schaffner zu vergleichen, der bei Erreichen der Endhaltestelle das Licht löscht! Und die Verabreichung der Sterbesakramente bei katholischen Patienten wurde regelmäßig bis zum letzten Moment verschoben.

Die letzten Jahre haben viele Veränderungen mit sich gebracht. Das religiöse Engagement großer Teile der Bevölkerung ist nur noch gering. In den Niederlanden sind zum Beispiel nach offizieller Angabe 50 Prozent der Bevölkerung areligiös. Deshalb haben viele Menschen keinen Kontakt mehr zu einem Pastor und wünschen auch am Ende ihres Lebens keinen solchen Kontakt. Die religiösen Aktivitäten haben sich entsprechend verändert: Die rein geistliche Seelsorge hat einer mehr sozial ausgerichteten Seelsorge und Tätigkeit Platz gemacht.

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Diese Entwicklungen sind auch auf die Funktion eines Pastors in einem Krankenhaus nicht ohne Einfluß geblieben.

Heute gibt es in unserem Krankenhaus römisch-katholische, evangelische und humanistische Pastores. - In vielen Krankenhäusern hat der Pastor noch keine Funktion im Team für die palliative Sorge des Krebskranken und wird auch kein Pastor an den medizinischen Überlegungen beteiligt, bei denen es um die Frage der Sterbehilfe geht.

Seit 20 Jahren haben wir in Delft ganz andere Erfahrungen. Unsere Pastores sind völlig über den medizinischen Zustand des Patienten informiert und sind an allen Entscheidungen über Euthanasie beteiligt. Sie anerkennen, daß das Dogma von der Unantastbarkeit menschlichen Lebens ohne Zweifel viel sinnloses Leid auf die Welt gebracht hat. Sie verstehen mit uns unter "menschenwürdigem Sterben" ein Sterben, bei dem menschliches Leiden weitestmöglich gelindert wird.

Weil Freiheit elementar zur Menschenwürde gehört, ist ein Sterben menschenwürdig, wenn die selbstverantwortliche Freiheit als höchstes sittliches Gut des Menschen respektiert wird. Der Sterbende darf die noch verbleibende restliche Lebensspanne auf seine Weise leben. Zum menschenwürdigen Sterben gehört dann auch die Freiheit, über den Zeitpunkt des eigenen Todes zu entscheiden.

Wie gesagt, ist der Pastor nicht überall integriert. Pfr. Mag. Monika Salzer vom Zentrum für Seelsorge und Kommunikation der Evangelischen Kirche arbeitet in Österreich. Sie z.B. ist sehr unzufrieden über die Situation und hat "Evangelische Thesen zur Sterbehilfe" aufgestellt. Einige davon will ich ohne Kommentar nennen:

  • Sterbende sind oft heimatlose "Outcasts", die die Spitalbetten "verliegen" und ihrer Würde und Selbstbestimmung beraubt sind.

  • Die Palliativmedizin führt ein Schattendasein.

  • Wert oder Unwert von Leben darf niemals von Gesunden über Kranke, von Nichtsterbenden über Sterbende überprotektiv ausgesprochen werden. Die Würde der individuellen Sinngebung ist zu achten.

Dies sind also die Teilnehmer, die - jeder auf seine eigene Weise und mit seinem eigenen Verantwortungsbereich - in dem begleitenden Team vereint sind.

Die wesentlichen Elemente einer adäquaten Begleitung sind Beobachtung, Gespräch und Konsultation.

Natürlich wird jedes Mitglied des Teams das Verhalten und die Äußerungen des Patienten auf seine eigene Weise und aus seinem Blickwinkel beobachten. Wie erwähnt, ist es jedoch die Schwester, die am besten in der Lage ist, den Patienten zu beobachten. Nicht nur, weil sie dafür die nötige Zeit hat, sondern auch, weil sie mit dem Patienten in einer Situation zu tun hat, die seinem normalen Leben am nächsten kommt. Ihre Rolle kann übrigens nur erfolgreich sein in Krankenhäusern, in denen die Ärzte die Wichtigkeit des Rates der Schwester erkennen und gelernt haben, konstruktive Kritik zu schätzen und entsprechend zu reagieren. Leider ist noch nicht überall die Kluft zwischen den Ärzten und den Schwestern überbrückt worden.

Der Pastor und der Arzt haben nicht die gleiche Gelegenheit wie die Schwester. Mit Sicherheit nicht der Arzt, der seine Besuche auf übliche Stationsvisiten beschränkt! Begleitung kann nur durch individuelle, persönliche, ungestörte Kontakte stattfinden!

Gespräche des Arztes mit dem Patienten können schicksalsschwer und beunruhigend sein und Befürchtungen bestätigen. Sie können aber auch beruhigend und selbst ermutigend sein. Heute kennen die Patienten schon von Anfang an ihre Diagnose und Prognose. Viele Ärzte

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haben lernen müssen, wie schwierig es sein kann, die Wahrheit mitzuteilen, ohne alle Hoffnung zu nehmen. Aber es wäre auch eine völlige Fehleinschätzung anzunehmen, daß ein Gespräch mit einem Patienten im Endstadium nicht gelegentlich auch ein Geplauder über Belangloses sein kann und nicht auch zu einem fröhlichen Lachen führen kann. Ich habe beobachtet, daß sich Patienten selbst in ihrer allerletzten Lebensphase nach Ablenkung sehnen.

Das Wichtigste bei der Sterbebegleitung ist eine Einstellung, die eigene Ohnmacht in der Gegenwart des Sterbenden auszuhalten und auf sich zu nehmen. Eine Haltung des Mitleidens, Mitfühlens, Miterlebens, Dabeiseins und Zuhörens: eine nichtsprachliche Kommunikation. Der Begleiter soll sich ganz konkret mit denselben Gefühlen, wie sie der Sterbende hat, wie Unsicherheit, Traurigkeit, Angst, Depression, Ohnmacht und Vereinsamung konfrontieren. Es ist notwendig, daß das eigene Sterben uns im Leben immer wieder bewußt wird und wir der Konfrontation nicht ausweichen. Das ist nicht einfach.

Persönlich habe ich schon früh begonnen dabeizusein, wenn meine Patienten starben. Das erste, was ich gelernt habe war, daß natürliches Sterben nichts Bedrohliches hat. Wie könnte es eigentlich anders sein?

Die meisten Ärzte sehen jedoch nur Patienten sterben, nachdem die Wiederbelebung versagt hat. Ruhig dabeizusein, um zusammen mit der Familie den Moment des Sterbens abzuwarten, kennt man nicht. Noch immer gibt es die Auffassung, daß es unerwünscht ist, als Nichtmitglied der Familie dabei zu sein. Der Arzt vergißt offenbar, daß die Schwester immer dabei ist! Er sollte sich dessen bewußt werden, daß es ganz normal ist, dabei zu sein, daß man seine Emotionen äußert und daß man die Familie trösten kann und so alle dabei gewinnen. Es sollte keine Distanz geben zwischen Arzt und Patient!

Neben der Beobachtung des Patienten und dem Gespräch mit ihm durch die Mitglieder des Teams ist eine regelmäßige Beratung des Themas erforderlich, um die Erfahrungen untereinander auszutauschen und die Feststellungen der einzelnen Mitglieder zu vergleichen. Eine effiziente Konsultation ist nur möglich, wenn alle Beteiligten die Vorgaben und Meinungen der anderen respektieren. Die Beratungen dienen dem Ziel, eine einstimmige Entscheidung herbeizuführen.

Bei Begleitung und Beratungen spielen nähere Angehörige natürlich eine wichtige Rolle. Im Vergleich zu den anderen Mitgliedern des Hilfsteams ist ihr Einsatz am stärksten und am direktesten, die emotionale Belastung natürlich ebenso.

Leider ist die Einbeziehung der Verwandten durch den behandelnden Arzt und die ihnen gegebene Information über den Verlauf der Krankheit und die durchgeführte Behandlung noch nicht immer optimal. Der Arzt muß dafür sorgen, daß die gegebene Information für die Verwandten verständlich ist und darf nicht eine für Laien wenig verständliche medizinische Terminologie verwenden. Er muß durch gute Information vorbeugen, daß die Verwandten sich an die Schwestern wenden, da das zu unbefriedigenden und wenig sachkundigen Antworten führen kann. Man sollte sich der Tatsache bewußt sein, daß die meisten Angehörigen und der Patient volles Vertrauen in den Arzt und seine Behandlung haben. Aus diesem Grund ist er gut beraten, mit den nächsten Angehörigen häufig in Kontakt zu treten, nicht passiv, sondern aktiv.

Furcht, Kummer und Angst wegen des bevorstehenden Verlustes des Patienten sind die ausschlaggebenden Faktoren, von denen die Haltung der Familie gegenüber dem Patienten und gegenüber dem ihn versorgenden medizinischen Personal und dem Arzt bestimmt wird. Den Verwandten ist durchaus klar, daß sie auf den physischen Verlauf der Krankheit keinen Einfluß haben. Dadurch kann es zu einem Gefühl der Ohnmacht kommen. Diese Ohnmacht kann dazu führen, daß die Familie indirekte oder direkte Forderungen nach Euthanasie artikuliert: "Wir müssen fragen, ob weiteres Leben noch sinnvoll ist" oder: "Wie lange wird es noch dau-

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ern müssen?" - Eine gute Einbeziehung der nächsten Angehörigen in die Begleitung des Patienten während der Terminalphase dürfte verhindern, daß solche Probleme auftreten.

Es sollte eigentlich kaum der Erwähnung bedürfen, daß den Angehörigen angemessene materielle Möglichkeiten zur Verfügung gestellt werden müssen, damit sie einen wirksamen Beitrag zur Begleitung des Patienten leisten können. Dazu gehört auch ein separates Zimmer, damit die Privatsphäre und ein uneingeschränktes Besuchsrecht gewährleistet sind.

Die Verwandten haben in den Niederlanden nicht das Recht, Euthanasie zu erzwingen, sie können diese andererseits auch nicht verhindern. In unserem Krankenhaus haben wir bis heute noch nie Probleme mit Angehörigen wegen Euthanasie gehabt.

Ich werde mich hierbei beschränken auf Krebspatienten. Das Leiden der Krebspatienten ist die Folge einer komplexen Wechselwirkung von physiologischen und psychischen Problemen. Relevante physiologische Probleme sind: Kraftverlust und eine erschöpfende Ermüdung, speziell bei kachektischen Patienten; Atembeklemmung; Herzdekompensation; Schlaflosigkeit; Inkontinenz; Dekubitus; Erbrechen und Übelkeit als Folge von opiatartigen Analgetika und Zytostatika; Durst; ernsthafte Nebenwirkungen von Medikamenten usw. Relevante psychische Probleme sind: Das psychische Leiden infolge der oben genannten somatischen Probleme, die bis in den Tod anhalten, meistens noch zunehmend stärker werden; Angst vor (Krebs-)Schmerzen; Angst vor einem völligen Zerfall von Körper und Geist und dadurch völlig abhängig zu sein; Angst vor Einsamkeit und Isolation; Angst vor dem Moment des Sterbens und dem unwiderruflichen Abschied vom Leben, von der Welt und von den Angehörigen; Trauer über das nahe Ende und den Abschied; unbesprechbare und unausgesprochene Trauer: Groll, Widerstand, Aggression und Depression. - Glücklicherweise gibt es auch Akzeptanz, Ergebung und Hoffnung...

Die genannten Probleme können das Leiden unerträglich machen. Leiden kann nur der Mensch, da er imstande ist, bewußt vergleichend, abwägend und bewertend, retrospektiv und prospektiv zu denken. Das Leiden ist individuell abhängig von der psychischen Spannkraft.

Das Leiden anderer Menschen entzieht sich unserer Wahrnehmung und läßt sich schwer einschätzen und beurteilen. Daher haben wir meines Erachtens nie das Recht, bei terminalen Patienten das Leiden als erträglich zu beurteilen, wenn der Patient uns sagt, daß es unerträglich ist.

So hat jeder Mensch das uneingeschränkte Recht, sein Leiden als unerträglich zu empfinden und den Arzt um Euthanasie zu bitten. Unsere Erfahrungen haben uns gelehrt, daß es völlig unmöglich ist, alles Leiden erträglich zu machen. Das steht im Gegensatz zu dem, was man noch immer in sogenannten Sterbe-Hospizen offiziell behauptet. Ich meine, daß diese Behauptung auf einer nicht hinreichend gründlichen Beobachtung beruht oder auch tatsächliche Beobachtungen übergeht. Denn im persönlichen Gespräch mit Ärzten aus Hospizen wird die Unmöglichkeit auch erkannt.

In den Niederlanden erfahren 8 Prozent aller Krebskranken das Leiden als unerträglich und erbitten Euthanasie. Die dabei zumeist genannten Aspekte sind:

  • das Leben wird als absolut menschenunwürdig empfunden, 60 %

  • das weitere Leben wird als zwecklos und sinnlos angesehen, 85 %

  • man empfindet das Verlangen zu sterben, 70 %.

Das letztere ist für gesunde, junge Leute kaum zu fassen. Man versteht nicht, daß dieselben Patienten noch bis vor kurzem alles akzeptiert haben, und dann plötzlich sagen, daß sie nicht mehr weiterleben wollen. Ich bin nach vielen Jahren der persönlichen Beobachtung davon überzeugt, daß am Ende des Lebens ein Todesverlangen natürlich und spezifisch menschlich

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ist. Auch ist die Bitte um Euthanasie unabhängig von Alter, Geschlecht und Religion. Es gibt immer noch Ärzte, die dieses Verlangen als Depression erklären. Aber diese Patienten mit Antidepressiva zu behandeln, ist meiner Meinung nach ethisch unakzeptabel und beleidigend. Es illustriert das eigene Unvermögen dieser Ärzte, Sterbende zu begleiten.

Wie schon deutlich geworden sein mag, spielt Schmerz fast keine Rolle bei dem Euthanasieverlangen. Schmerzbekämpfung kennt viele Möglichkeiten, Schmerz zu lindern oder akzeptabel zu machen. In unseren Umfragen wird Schmerz als einzige Ursache nur in 5 Prozent der Fälle erwähnt und meistens als eines von mehreren Problemen.

Die Bitte um Euthanasie wird das begleitende Team in unserem Krankenhaus heute selten überraschen. Meistens hat der Patient darüber schon vorher gesprochen.

Unter welchen Bedingungen wird Euthanasie ausgeführt? In unserem Land ist das Leisten von Euthanasie nach wie vor illegal, aber es kann fast ohne Risiko der Strafverfolgung ausgeführt werden, solange man sich an die folgenden Bedingungen hält:

  1. Der Entschluß zu sterben, muß der freiwillige Entschluß eines über seinen Zustand unterrichteten Patienten sein.

  2. Der Patient muß ein zutreffendes und klares Bild über seinen Zustand und die Behandlungsmöglichkeiten haben und in der Lage sein, diese abzuwägen.

  3. Das körperliche und seelische Leiden muß unerträglich sein.

  4. Das Leiden und der Wunsch zu sterben müssen über einen bestimmten Zeitraum konstant sein.

  5. Es darf keine Möglichkeit einer Verbesserung des Zustandes mehr bestehen.

  6. Nur ein Arzt kann Euthanasie leisten.

  7. Die Konsultation und Zustimmung eines anderen Arztes ist obligatorisch.

Es sind dies die Bedingungen, die vielleicht noch im Gesetz festgelegt werden. Dieses verpflichtet den Arzt, jede Euthanasie dem Staatsanwalt zu melden.

Nachdem der Entschluß des Teams feststeht, unterzeichnet der Patient eine Erklärung, aus der hervorgeht, daß er seinen Entschluß nach sorgfältiger Erwägung und völlig freiwillig gefaßt hat. Es wird dann der Zeitpunkt für die Ausführung der Euthanasie festgelegt. Verwandte, der Pastor und mindestens eine Schwester sind dabei anwesend.

Nach der Ausführung wird der Gemeindearzt informiert, weil es ein nicht-natürlicher Tod ist. Er führt eine Leichenschau durch. Er kann das Patientendossier einsehen, und er bekommt von uns eine Checkliste, in der alle Informationen über den betreffenden Fall und die Namen und Adressen der verantwortlichen Ärzte enthalten sind. Er informiert dann den Staatsanwalt ausführlich, teilt dazu seine eigene Meinung mit und erhält dann im Prinzip die Zustimmung zur Bestattung. Der Staatsanwalt kann auch, wenn er zweifelt, eine nähere Untersuchung durch die Polizei veranlassen und eine Leichenschau, d. h. Sektion durchführen lassen.

Der Staatsanwalt berichtet den fünf Oberstaatsanwaltschaften, die am Ende entscheiden, ob der Fall abgelegt oder eine Klage eingeleitet wird. Heute wird nur noch selten eine solche Klage eingeleitet.

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Persönlich wurde ich im Jahr 1985 strafrechtlich verfolgt. Es handelte sich um eine junge Frau, die durch multiple Sklerose völlig gelähmt war und wo bei jeder Nahrungsaufnahme Erstickung durch Aspiration drohte. Der Staatsanwalt beantragte eine Schuldigerklärung ohne Strafe, aber die Strafverfolgung wurde eingestellt, da ich mich nach Meinung des Gerichts in einer Konfliktsituation befand und nicht anders handeln konnte.

Die praktische Ausführung der Euthanasie in den Niederlanden geschieht nach Grundregeln, die durch die K. N. M. P. (Königliche Niederländische Pharmacie Gesellschaft) herausgegeben werden. Diese Regeln werden von der K. N. M. G. (Königliche Niederländische Ärztekammer) empfohlen.

In ungefähr der Hälfte aller Euthanasiefälle in den Niederlanden nimmt der Patient selbst ein Getränk mit Barbituraten. Fast unmittelbar danach schläft er ein und stirbt in tiefem Koma durch Atmungshemmung. In 70 bis 80 Prozent erfolgt das innerhalb von drei Stunden. Falls es länger dauert, wird der Arzt meistens Curare i. v. (intravenös) oder i. m. (intramuskulär) verwenden, um das Koma zu beenden.

In anderen Fällen werden Barbiturate entweder in steigender Dosis per Infusion gegeben, wobei der Patient im Laufe weniger Stunden stirbt, oder Barbiturate und Curare direkt intravenös gespritzt, wodurch der Patient innerhalb weniger Minuten stirbt.

Wenn wir in den Niederlanden über Euthanasie sprechen, meinen wir immer diese oben beschriebene aktive Euthanasie. Was ist sogenannte "passive Euthanasie"? Wenn man darunter die Nichtaufnahme oder das Beenden einer sinnlosen Behandlung versteht, was das Leben vielleicht verkürzt, hat das natürlich nichts mit Euthanasie zu tun! Im Gegenteil: Die Tatsache, daß eine Behandlung sinnlos ist, macht es ethisch unmöglich, damit anzufangen. Dies insbesondere, wenn der Patient in seinem Recht auf Selbstbestimmung nicht bereit ist, medizinische Maßnahmen zu akzeptieren, die nach seinem Empfinden physisch oder psychisch seine Identität und sein Selbstwerterleben angreifen.

Meistens wird durch das Beenden oder das Nichtbeginnen einer Therapie das Leiden durchaus schlimmer, und dann wäre es doch lügnerisch, Passivität mit dem Begriff "eu thanatos" zu

verbinden!

Wenn man unter "passiver Euthanasie" die Überdosierung von Opiaten oder Psychopharmaka mit Lebensverkürzung versteht, dann ist das ebenso lügnerisch: "Aktive Euthanasie" wäre besser, der Unterschied ist Semantik und Hypokrisie. Gesetzlich gibt es kein "Passives" Handeln in den Niederlanden, "Handeln" ist immer aktiv. Auch das Argument, daß man nicht die Absicht hat, das Leben zu verkürzen, ist meiner Meinung nach falsch.

In den Niederlanden sterben jährlich etwa 130 000 Menschen bei einer Einwohnerzahl von 15 Millionen. Die Zahl der aktiven Euthanasiefälle beträgt 2,6 Prozent der Gesamtzahl der Sterbefälle. Das Beenden oder die Nichtaufnahme einer Behandlung erfolgt bei etwa 18 Prozent und das Erhöhen der Dosierung von Medikamenten ebenfalls bei etwa 18 Prozent.

Relevant ist es auch zu erwähnen, daß in unserem Land 80 Prozent der Euthanasiepatienten Krebs haben; und wie schon gesagt, 8 Prozent unserer Krebspatienten fragen nach Euthanasie.

Ich möchte enden mit einem guten Rat für Begleiter: Wenn es unmöglich ist, Tage dem Leben hinzuzufügen, ist es doch immer möglich, den letzten Tagen Leben hinzuzufügen.

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Literatur

Admiraal, P. V.: Sterbehilfe in einem allgemeinen Krankenhaus. In: 5. Europäischer Kongreß für Humanes Sterben. Kongreßbericht. DGHS, Augsburg 1985, 43-58.

Admiraal, P. V.: Justifiable Euthanasia. Issues in Law and Medicine 3 (1988), 361-370.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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