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Johannes Gründel
Humanes Leben - humanes Sterben. Moralische, ethische und rechtliche Bedingungen


1. Einleitung

Die großen technischen Entwicklungen innerhalb der Medizin haben es möglich gemacht, menschliches Leben schon von seinem Beginn an - beim Zustandekommen - bis hin zu seinem Ende zu manipulieren. Es kann verlängert, aber auch verkürzt werden. Wo liegen die Grenzen menschlicher Manipulation? Was darf der Mensch tun, was bleibt ihm verboten, wenn er sein Tun vor sich selbst, vor den Mitmenschen und letztlich auch vor Gott verantworten will? Gibt es in einer pluralen Gesellschaft unabhängig von der jeweils vertretenen Weltanschauung der einzelnen Bürger für diese uns zugewiesene Verantwortung eine gemeinsame Basis?

Das Bemühen um Humanität ist Ausdruck dafür, daß wir gemeinsam um einige grundlegende Forderungen ringen, die auf der einen Seite der Freiheit und Autonomie des einzelnen Menschen und der Entfaltung seines persönlichen Lebens Rechnung tragen, zugleich aber auch entsprechend unserer Sozialbezogenheit - d. h. entsprechend unserer zwischenmenschlichen Beziehungen in der Kleingruppe, in Gesellschaft und Staat - für ein gerechtes und friedfertiges Zusammenleben von entscheidender Bedeutung sind. Insofern jedoch solche Aussagen stets auch auf der Grundlage eines bestimmten Verständnisses vom Menschen beruhen, ist jeweils nach dem weltanschaulichen Hintergrund zu fragen. Aufgabe eines theologischen Ethikers ist es, unter Berücksichtigung der zentralen christlichen Glaubensaussagen Entscheidungshilfen für humanes Leben und humanes Sterben vorzulegen.

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2. Der theologisch-ethische Ansatz

Ethik versucht die Frage zu beantworten: "Was sollen wir tun, was ist richtig"? Dabei geht es nicht bloß um die Beachtung der eigenen Überzeugung bzw. des Gewissensspruches, sondern ebenso darum, ob das, was wir tun, auch richtig ist, d. h. ob es unter den gegebenen Umständen den davon betroffenen Menschen und dem gesamten sozialen und gesellschaftlichen Umfeld gerecht wird. Eine reine Gesinnungsethik, die die Frage nach dem richtigen Verhalten ausblendet, nimmt den uns aufgetragenen Weltauftrag nicht genügend ernst.

Eine "Theologische Ethik" bezieht in ihre Überlegungen die Glaubenswahrheiten von Schöpfung, Sünde, Menschwerdung Gottes und Erlösung durch Jesus Christus mit ein. Insofern jeder Mensch Abbild Gottes ist, kommt ihm - unabhängig von seiner Entwicklung, seiner Gesundheit und dem "Nutzwert auf der Börse unserer Leistungsgesellschaft" eine unaufhebbare Würde zu. Daraus folgt, was schon Immanuel Kant gefordert hat: Menschlich-personales Leben darf niemals nur zum Objekt einer Manipulation gemacht werden; stets bleibt der Mensch auch noch Subjekt.

Eine auf dem christlichen Glauben gründende theologische Ethik besitzt zwar keinen eigenen Katalog neuer Normen. Sie vermag aber eine tiefere Dimension menschlichen Lebens aufzuzeigen. Dem biblischen Herrschaftsauftrag entspricht es, diese Welt zu gestalten. Um der Erhaltung des Lebens willen sind dementsprechend auch Eingriffe in die Natur notwendig. Ethische Weisungen nehmen dem Einzelnen den Entscheid nicht ab. Sie geben aber die Richtung an, in der ein erforderlicher Entscheid liegen sollte. Für den

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Christen zeigt sich das, was "Gottes Wille" ist, u. a. im Anspruch der konkreten Wirklichkeit. Es ist Aufgabe einer von Glauben erleuchteten Vernunft, diesen Anspruch zu vernehmen. Seine Verbindlichkeit wird über das Gewissen erfahren. Christlicher Glaube ist vernünftiger Glaube, der nur in Freiheit angenommen und verantwortlich gelebt werden kann. Sittliche Verpflichtungen sollten darum in ihrer inneren Vernünftigkeit aufgezeigt werden. Eine bloß autoritative Begründung reicht nicht aus. Trotz möglichen menschlichen Irrtums bleibt uns aber kein anderer Weg zur Erkenntnis des sittlich Geforderten als der über Vernunft und Einsicht.

Nach katholischem Verständnis kommt zwar der Autorität des kirchlichen Lehramtes für die Interpretation des Glaubens und unserer Verantwortung eine wichtige Funktion zu. Doch hängt auch hier die innere Verbindlichkeit von der vorgelegten überzeugenden Argumentation ab. Es gibt keinen blinden Gehorsam gegenüber menschlicher Autorität. Die Bibel als solche ist noch kein ethisches Lehrbuch, aus dem man einfach sittliche Weisungen "herauslesen" kann. Immer bedarf es der Berücksichtigung des Kontextes und der hermeneutischen Fragestellung.

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3. Entscheidungshilfen für medizinisch-ethische Probleme

Angesichts einer rein naturwissenschaftlichen Ausbildung der Ärzte und Krankenschwestern erscheint heute eine ganzheitliche Sicht der Krankheit des Menschen erforderlich. Schon die Antike wußte um das Wechselverhältnis von körperlichem und seelischem Geschehen. Nicht etwas am Menschen, etwa ein Organ, ist krank, sondern der Mensch selbst. Darum sagt der Patient nicht: "Ich habe diese oder jene Krankheit", sondern: "Ich bin krank". Ist die innere Verfaßtheit und die seelische Gesundheit eines Menschen gestört, so wirkt sich dies auf die Gesamtbelastbarkeit aus. Dabei bleiben Leben und Gesundheit eng verknüpft mit der Frage, was Sinn und Ziel menschlichen Lebens ist. Nicht der Krankheit allein, sondern dem kranken Menschen gilt die Aufmerksamkeit. Dies verlangt Einfühlungsvermögen (Empathie) und Zeit.

Dienst am Kranken, aber auch an Behinderten bedeutet, dem betreffenden Menschen zu begegnen, auf ihn einzugehen und um eine ganzheitliche Obsorge und Therapie bemüht zu sein. Dem Bewußtsein des heutigen Menschen fehlt oft eine einheitliche Anthropologie. Menschliche Gesundheit erscheint heute bedroht durch den Sinnverlust. Viktor E. Frankl weist darauf hin, daß es Krankheiten gibt, die im Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens ihren eigentlichen Grund haben: psychogene und noogene Neurosen.

In einer Gesellschaft, in der alles auf Leistung, Konsum und Funktionieren abgestellt wird, erscheinen Sinnfragen des Menschen als lästig und überflüssig. Sie werden überspielt von den Verheißungen eines Konsumglücks. Wo sich aber unser Leben nur noch um Leistung oder Konsum dreht, bleibt keine Zeit und kein Raum mehr, einen Sinngehalt zu erfahren, um dessentwillen es sich lohnt zu leben. Im Streß und in der täglichen Betriebsamkeit kommt es schließlich zum Leistungsschwund, zur Müdigkeit. Der Mensch wird krank und flieht in eine psychedelische Traumwelt. In einer solchen Situation ist es für einen Kranken, für einen Behinderten, erst recht für einen zum Tode Erkrankten und Leidenden nur schwer möglich, seine Situation noch als sinnvoll zu erfahren. Hier mag es zunächst verständlich erscheinen, wenn ein solcher Mensch aus dem Leben scheiden möchte, um Sterbehilfe bittet oder einen Suizidversuch unternimmt.

Doch Menschlichkeit liegt darin begründet, daß in einer solchen Situation dem anderen geholfen wird. Der "selbstbestimmte Tod" ist zwar eine ganz persönliche Entscheidung; wird aber nicht diese oftmals nur in einer vorübergehenden Krisensituation getroffen? Zudem besteht die Gefahr, daß der selbstbestimmte Tod zum nicht mehr hinterfragten Standard wird. Man erspart sich eine langdauernde Pflege, braucht nicht mehr für den Betreffenden zu sorgen; der Gesellschaft werden Kosten erspart. Zudem kann das gefor-

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derte absolute Recht auf Selbstbestimmung und auf den eigenen Tod leicht ausgeweitet werden, indem man auch für jene, die nicht zu einer solchen Entscheidung in der Lage sind, "stellvertretend" einen solchen Entscheid fällen läßt. Dies produziert in der Gesellschaft schließlich eine fragwürdige Erwartungshaltung: Wer behindert ist, wer sein Leben nicht mehr als Wert erfährt oder anderen zur Last fällt, sollte so "anständig" sein, aus dem Leben zu scheiden.

In breiten Schichten des Volkes zeichnet sich heute eine Tendenz ab, bei jeder Unpäßlichkeit und bei jedem geringen Schmerz schon nach einer "Pille" zu greifen. Der Glaube an das Medikament ist gewachsen, die Belastbarkeit des Menschen geschwunden. Hier kann es sehr leicht zu einer Symptombehandlung kommen, wobei die eigentlichen tiefer im Menschen liegenden Wurzeln der Erkrankung übersehen werden. Insofern ist der moderne Kranke oft ein Produkt unserer Gesellschaft. Darum müssen wir auch gesellschaftskritische Fragen an die weithin verbreiteten Leitbilder unserer Gesellschaft stellen.

Ärztlicher und pflegerischer Dienst am Kranken verlangt ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen. Wo dies fehlt, wo zunehmend Mißtrauen die Beziehung zwischen Patient und Arzt bestimmt, wird sehr bald das Verhalten durch gesetzliche Forderungen und durch eine zunehmende Verrechtlichung und Bürokratisierung gesteuert. Wo dies geschieht, geht es meistens auf Kosten der Menschlichkeit; dann aber ist eine Gesellschaft bereits krank. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient betrifft auch das Problem der "Wahrheit am Krankenbett". Hier erschwert oft die ärztliche Fachsprache schon die Verständigung. Es bedarf einer großen Sensibilität, den Patienten behutsam schrittweise in die volle Wahrheit seiner tatsächlichen Lage einzuführen, ohne ihm dabei jede Hoffnung zu nehmen.

Verantwortung innerhalb der ärztlichen Beratung setzt auch ein Vertrauensverhältnis von Arzt und Patient voraus. So kann sich bei einem Schwangerschaftskonflikt der Arzt seiner Verpflichtung nicht dadurch entledigen, daß er einfach entsprechend der Indikationsstellung einen Abbruch vornimmt - auch dann nicht, wenn er von vornherein weiß, daß im Falle seiner Ablehnung ein anderer Arzt dem Wunsch der Schwangeren auf Abbruch entsprechen wird. Er bleibt gewissermaßen Anwalt zweier Welten: der Schwangeren mit ihrem bestehenden Konflikt und des bereits vorhandenen, aber noch nicht geborenen menschlichen Lebens. Hier wäre zunächst das Beziehungsverhältnis der Frau zu dem von ihr getragenen Kind, aber auch zum Vater des Kindes mit ins Gespräch zu bringen. Negative Erfahrungen, Schuldvorwürfe und Ängste, die nach einem leichtfertigen Abbruch der Schwangerschaft oft erst nach Jahren aufbrechen, sind Folgen einer Beratung, die entweder ganz ausgefallen ist oder in der über den bestehenden Konflikt überhaupt nicht geredet wurde. Gerade dieses beratende Gespräch mit dem Patienten ist Ausdruck einer ganzheitlichen Therapie, auf die man sich heute zunehmend neu besinnt.

In einem anderen Bereich erscheint Humanität gefährdet. Die Genetik und Gentechnik haben neue Möglichkeiten der Manipulation am Menschen eröffnet. Mit Hilfe einer Genomanalyse und Diagnose können latent vorhandene Krankheiten aufgedeckt werden. Wo eine solche Methode nur dazu dient, genetisch geschädigtes Leben zu diagnostizieren, um es dann abzutreiben, erscheint sie in keiner Weise verantwortbar. Sie käme einer Mißachtung behinderten Lebens gleich und wäre ein Schritt in Richtung einer eugenischen Euthanasie. Doch kann die pränatale Diagnostik durchaus eine schwangerschaftserhaltende Funktion besitzen, insofern sie von ihrer Zielsetzung her der Hilfestellung für die Mutter und der Therapie dient; zunehmend gibt es neue Möglichkeiten einer vorgeburtlichen medikamentösen Behandlung und Therapie behinderten Lebens. Dies rechtfertigt eine solche Methode.

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Die Reproduktionsmedizin hat für den Beginn menschlichen Lebens neue Möglichkeiten eröffnet, die leicht eine Geisteshaltung fördern, bei der die Achtung vor der menschlichen Person und die Ehrfurcht vor dem bleibenden Geheimnis des Lebens verloren gehen. Angesichts der Gefahr des Mißbrauchs einer solchen Technik haben Vertreter der christlichen Kirchen immer wieder warnend ihre Stimme erhoben: der Mensch darf nicht alles das tun, was er tun kann. So rät die Synode der Evangelischen Kirche von Berlin 1987 von der Invitro-Fertilisation mit dem anschließenden Embryotransfer ab. Noch klarer hat die römische Kongregation für die Glaubenslehre im März 1987 in ihrer Instruktion "Donum vitae" betont: "Das Geschenk des menschlichen Lebens muß innerhalb der Ehe mittels der spezifischen und ausschließlichen Akte der Eheleute verwirklicht werden gemäß den Gesetzen, die ihnen als Personen und ihrer Vereinigung eingeprägt sind". Aus diesen Überlegungen heraus wird die künstliche Befruchtung in der Retorte auch als homologe IVF grundsätzlich abgelehnt.

Demgegenüber ist jedoch die Position einiger katholischer Theologen durchaus offener: Sie sehen eine künstliche Befruchtung in der Retorte und den damit zusammenhängenden Embryotransfer oder einen intratubaren Gametentransfer dann als sittlich gerechtfertigt an, wenn die Eheleute ansonsten gesund sind und nur auf solche Weise zum erwünschten Kind gelangen können. Dabei sollte eine entsprechende gründliche Beratung vorausgehen. Außerdem muß jede Form einer Manipulation mit Embryonen, erst recht eine gezielte Vernichtung von Embryonen als Verstoß gegen die Würde des Menschen angesehen und darum grundsätzlich abgelehnt werden. Eine heterologe Insemination, ebenso das Leihmutterwesen sind sittlich nicht verantwortbar, da sie den Rahmen der Ehe sprengen und auch das Verhältnis Mutter-Kind sowie das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Eltern mißachten.

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4. Euthanasie und Begleitung beim Sterben

Wird Krankheit nicht nur als Schicksalsschlag, sondern auch als Prüfung erfahren, so kann sie für den Kranken wie für jene, die ihn umsorgen, zu einer Chance werden, die Gesundheit neu zu schätzen und das Leben in einem tieferen Sinne zu begreifen. Der Patient sollte in den Tagen der Krankheit sein bisheriges Verhalten - auch seinen Lebensstil - überprüfen und somit seinen Platz in der Welt neu zu bestimmen suchen. Auch hierzu kann eine gute Begleitung des Kranken einen Anstoß geben. Arzt, Pflegepersonal und Angehörige müssen wissen, daß mit einer bloß medizinischen Versorgung zwar die Krankheit zurückgedrängt, aber noch nicht Heilung im umfassenden Sinne vermittelt werden kann. Es geht hier um eine Resozialisierung des Kranken im weitesten Sinne: um eine Eingliederung dieses Menschen in die vielschichtigen tragenden mitmenschlichen Beziehungen.

Wer den Dienst am Kranken und leidenden Menschen übernimmt, sollte bedenken: Bei diesem Beruf erscheint es geradezu unmöglich, ihn nur als "Job" zu verstehen, also als eine Arbeit, mit der ich mir einfach Geld verdiene. Kranke Menschen haben ein gutes Gespür dafür, ob jemand mit Leib und Seele bei seiner Aufgabe ist oder nicht. Ohne ein inneres Verhältnis zur Arbeit würde der Arzt zum Mediziner oder Techniker, die Krankenschwester nur zur rein technischen Assistentin am Krankenbett. Wo hingegen dieser Dienst am kranken Menschen auch zu einer Begegnung mit dem je betreffenden Menschen wird, wächst jenes Vertrauen, das in schweren Stunden - vor allem beim Prozeß des Sterbens - dem Patienten eine große Hilfe sein kann. Damit ist schließlich auch die Frage nach einer Sterbebegleitung und Sterbehilfe zu beantworten.

Der zum Tode Erkrankte besitzt einen Anspruch auf Sterbehilfe in der Weise, daß er über den Ernst seiner Lage nicht hinweggetäuscht werden darf. Ihm ist jede menschliche Hilfe zur Bewältigung dieser letzten Phase seines irdischen Lebens zu gewähren (reine Euthanasie oder Begleitung beim Sterben).

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Die neuen technischen Möglichkeiten einer Lebensverlängerung - z.B. in den Intensivstationen - erschweren bei Schwerkranken und Sterbenden oft die unmittelbare menschliche Zuwendung. Sie erwecken für Außenstehende den Eindruck, dem Arzt gehe es darum, menschliches Leben um jeden Preis - auch dort, wo offensichtlich ein Leben am Verlöschen ist - noch zu verlängern. Dies wiederum führt in zunehmender Weise zu dem Ruf nach einer aktiven Sterbehilfe. Die ärztliche Ausbildung ist bis heute für den Umgang mit Sterbenden unzulänglich. Aus Angst vor Fehlentscheidungen und vor drohenden juristischen Konsequenzen wagen es Ärzte wegen ihrer Garantenpflicht nicht, "der Natur ihren Lauf zu lassen" und im Terminalstadium der Bitte des Patienten um Einstellung der Behandlung zu entsprechen. Hier stehen das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und die Garantenpflicht des Arztes in Konflikt.

Natürlich setzt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten auch eine entsprechende innere Freiheit und Einsicht in die Folgen der Entscheidung voraus. Sie dürfte - besonders in Situationen schwerer Schmerzen und großer Angst - wesentlich eingeschränkt sein. Wo noch ernsthaft eine Chance besteht, ein Leben zu retten, wird der Arzt diese Chance ergreifen. Eine dem entgegenstehende Patientenverfügung, die besagt, daß für den Fall einer zurückbleibenden schweren Schädigung eine ärztliche Behandlung abgelehnt wird, besitzt als ernst zu nehmende Willenserklärung eine Hinweisfunktion. Sie wird aber schon deshalb stark relativiert, da eine Prognose über den zu erwartenden Erfolg oder Mißerfolg einer Behandlung nur sehr vage gestellt werden kann. Hier wird der Arzt in der konkreten Situation von Fall zu Fall jeweils neu entscheiden, ob und inwieweit ihn eine solche zu gesunden Zeiten ausgestellte Verfügung bindet oder nicht. Wo jedoch eine weitere Behandlung sinnlos erscheint, da sie lediglich den Sterbeprozeß verlängert, verliert sie ihre Berechtigung. Hier wäre u. U. die vorausberechnete Unterlassung oder auch der allmählich vorgenommene Abbruch einer Behandlung - unter gleichzeitiger Gewährung der Basalversorgung - zu verantworten. Eine sinnlos gewordene, weil auf Dauer aussichtslose Intensivbehandlung müßte, selbst wenn sie zum Tode des Patienten führt, ethisch nicht als aktive, sondern noch als passive Euthanasie bezeichnet werden; wird doch damit nur der Natur "ihr Lauf gelassen und auf den weiteren Einsatz künstlicher Maßnahmen verzichtet.

Bittet jedoch ein Patient ausdrücklich um Sterbehilfe im Sinne einer aktiven Euthanasie, so kann dieser Bitte nicht entsprochen werden. Sie mutet dem Arzt eine "Beihilfe zur Tötung" zu. Sie dürfte auch nur eingeschränkt als "freier Entschluß" gewertet werden, da sie eher Ausdruck der Lebensmüdigkeit ist oder Ausdruck der Vereinsamung und ein Ruf nach stärkerer menschlicher Zuwendung darstellt. Erst recht könnte eine strafrechtliche Freigabe der aktiven Euthanasie gesellschaftliche Tendenzen fördern, sich durch eine Beschleunigung des Sterbevorgangs der Begleitung Sterbender zu entziehen. Eine gesetzliche Erlaubnis aktiver Euthanasie müßte auch auf Schwerkranke einen Druck ausüben, zur Entlastung der Angehörigen eine solche Bitte zu äußern.

Wo allerdings Leben nicht mehr zu retten ist, haben Krankenschwester und Arzt Sterbehilfe zu gewähren. Dies besagt zunächst, daß sie den Patienten nicht im Stich lassen, sondern ihm durch gute Pflege, schmerzstillende Mittel und nicht zuletzt durch aufmunternde Worte auf der letzten Phase seines irdischen Lebens begleiten. Sterbehilfe besagt auch, gegebenenfalls über den bevorstehenden Tod und seine daraus erwachsende Angst, Einsamkeit und Traurigkeit zu sprechen. Hier geht es nicht darum, ob dem Kranken die Wahrheit über den Stand seiner Krankheit gesagt werden soll, sondern nur wie er schrittweise über den Ernst seiner Lage aufgeklärt wird, ohne daß ihm dabei jede Hoffnung genommen wird. Ein fortgesetztes Gespräch, eine echte menschliche Beziehung zum Sterbenden kann eine letzte Hilfe bieten, daß sich der Patient mit seinem Zustand abfindet. Vorrangig mag Sterbebegleitung Aufgabe der Angehörigen bleiben. Doch läßt sich dies - angesichts der konkret bestehenden Arbeits- und Wohnverhältnisse - oft nicht ermögli-

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chen. Aber auch Arzt und erst recht Krankenschwestern und Pfleger dürfen sich einer solchen karitativen Aufgabe nicht entziehen.

Schließlich sollten sich Arzt, Krankenschwestern und Pfleger nicht mit einer bloß biologischen Sicht und Wertung der Welt und des Menschen begnügen. Zur Wahrheit am Krankenbett gehört auch das Bewußtsein, daß das irdische Leben nicht alles ist. Christlicher Glaube bietet eine Sinn- und Wesensdeutung des Todes an, die dem Menschen auch über den Tod hinaus noch Hoffnung vermittelt. Der Tod bleibt zwar unbegreiflich wie Gott. Nach christlichem Verständnis bringt er aber den Menschen vor Gott als den Urheber des eigentlichen Lebens. Wer eine solche Sicht des Todes annimmt, kann auch den Tod in dem Sinne zur Tat machen, daß er das unbegreiflich Verfügte annimmt und selbst noch im Tode einen letzten Sinn zu erblicken vermag.

Wird der Dienst am kranken Menschen so verstanden und immer wieder neu vollzogen, kann dies schließlich zu einem Wechselverhältnis von Geben und Nehmen führen. Was jemand in seiner Berufsarbeit zu geben bereit ist, empfängt er auch um ein Vielfaches zurück. Allerdings muß auch auf eine Gefahr hingewiesen werden: Es gibt eine krankhafte Selbstlosigkeit - jene Helfer, die von neurotischen Schuldgefühlen geplagt sind, sich selbst aber nichts mehr gönnen, sondern so im Beruf aufgehen, daß keinerlei Eigenbereich mehr bleibt. Hier fehlt dann die notwendige Eigenliebe. Wo der Dienst am Kranken auf einer neurotisch begründeten "Selbstlosigkeit" beruht, kann dies vom Kranken als aufdringlich empfunden werden. Hier kommt dann auch menschliche Begegnung nicht zustande.

Im Antlitz des Sterbenden aber begegnet dem, der sich auf eine Begegnung am Krankenbett einläßt, auch die für ihn noch ausstehende Wirklichkeit seines eigenen Sterbens. Wer sich gerade in einer solchen Situation des anderen annimmt, ihn auf der letzten Phase seines Lebens nicht allein läßt, bezeugt, daß er in der Lage ist, sich selbst als sterblichen Menschen anzunehmen und "im Angesicht des Todes" zu leben. Wo dies der Fall ist, eröffnet sich die Möglichkeit, eine letzte Dimension der Wirklichkeit des Todes zur Sprache zu bringen: die Hoffnung, daß der Tod nicht das letzte Wort, sondern der Preis für neues Leben, Durchgang zu einem Leben in Fülle ist.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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