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[Seite der Druckausg.: 88 ]


Jacques-Pierre Gougeon
Dritter Weg und neue Mitte - Leerformeln oder Leitbegriffe einer neuen Politik?


Die Debatte um den „Dritten Weg" ist in Frankreich sehr spät rezipiert worden, im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern und Deutschland oder Österreich. Der Ausdruck „der Dritte Weg" wird sogar von Politologen noch sehr zurückhaltend gebraucht. Dazu will ich nur zwei Beispiele nennen. Die bekannte und vielgerühmte Zeitschrift Esprit hat Anfang dieses Jahres ein Sonderheft zu diesem Thema herausgegeben, aber mit dem Titel Die Herausforderung der Reform (Le pari de la reforme). Die sozialistische Partei Frankreichs hat neulich ihre theoretische Zeitschrift neu gegründet und die erste Nummer wie folgt übertitelt: Der europäische Sozialismus. Ein neuer Weg (Socialisme européen. Vers une autre voie.). Der französischen Linken fehlten zunächst der Mut und der Wille, sich mit dem sogenannten Dritten Weg auseinanderzusetzen. Dazu gehörte auch der innenpolitische Kontext: die französische Linke war erst im Juni 1997 wieder an die Macht gekommen und eine sofortige Auseinandersetzung mit einer sozialdemokratischen Alternative hätte eher Unsicherheit und Destabilisierung zur Folge gehabt. Bis zur Mitte des Jahres 1998 hat eher die französische Rechte das Thema „Dritter Weg" besetzt. Erst der Sieg der deutschen Sozialdemokraten am 27. September 1998 hat diese Debatte bei der französischen Linken in den Vordergrund gestellt, denn Gerhard Schröder wurde in den französischen Medien als „deutscher Tony Blair" bezeichnet. Es drängte sich also die Frage auf, ob der französische Sozialismus nicht Gefahr lief, isoliert zu werden. Bisher war die französische Linke davon ausgegangen, daß der Dritte Weg angelsächsischen Ursprungs damit in Verbindung zu bringen war, daß sowohl in England als auch in den Vereinigten Staaten nur vorsichtig verfahren werden konnte, weil der dort vorher praktizierte Ultraliberalismus von Anfang an dem sozialdemokratischen Handeln Grenzen gesetzt hat. Eins ist sicher: die Sozialdemokratie ist gerade dabei sich einer wichtigen Herausforderung zu stellen, nämlich der linken Idee und dem Begriff Sozialdemokratie einen neuen Sinne, eine neue Identität und, wenn möglich, eine neue Zukunft zu geben. Aus französischer Sicht sind sich alle Sozialdemokraten, zwar mit national geprägten Nuancen, darüber einig, daß die gesellschaftlichen

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Veränderungen der letzten 20 Jahre die Modernisierung der sozialdemokratischen Programmatik und politischen Praxis notwendig gemacht haben, man denke an die Globalisierung, die nicht nur den wirtschaftlichen Sektor charakterisiert, sondern auch die Kultur und die Telekommunikation, an die neue soziologische Klassifizierung der modernen Gesellschaften, die neue Bedeutung des Mittelstands und an die sogenannte neue Armut. Es muß eine neue Politik jenseits von Marktdogmen und Staatswirtschaft erfunden werden. Denn nicht nur in angelsächsischen Ländern wird der Sozialstaat umgebaut. Allen geht es darum, den „passiven Wohlfahrtsstaat" in einen „aktiven Wohlfahrtsstaat", wie der französische Soziologe Pierre Rosenvalon ihn nennt, umzuwandeln.

Der größte Unterschied zwischen der französischen Linken und den Anhängern des Dritten Weges besteht in der Bewertung der Marktwirtschaft und der Rolle des Staates. In Frankreich wird die Marktwirtschaft zwar akzeptiert, aber immer noch mit Skepsis. Wenn in einer Rede die Marktwirtschaft erwähnt wird, dann heißt es gleich: sie muß reguliert werden. Die Marktwirtschaft soll in den Dienst der Menschen gestellt werden und auf die Wirtschaft beschränkt bleiben. So kann zum Beispiel die Formulierung von Lionel Jospin verstanden werden: „Ich bin für die Marktwirtschaft, aber nicht für die Marktgesellschaft". Daher geht es nicht nur darum, den Kapitalismus menschlicher zu machen, sondern ihn zu reformieren und ihn nicht in allen Bereichen walten zu lassen. Nach Lionel Jospin ist der Kapitalismus „eine Kraft, die geht, aber nicht weiß, wohin sie geht". Es steht dem Staat zu, als Vertreter des Allgemeininteresses die Richtung anzugeben. Die Politik, die demokratischen und sozialdemokratischen Kräfte müssen - auf weltweiter Ebene - die Fähigkeit zurückerlangen, die Entwicklung der modernen Gesellschaft zu steuern. Diesen Grundsatz sozialdemokratischer Politik vermissen die französischen Sozialisten bei den Anhängern des Dritten Weges. Dabei taucht ein neuer Unterschied auf, nämlich die Wahrnehmung der Modernität. Aus französischer Perspektive heraus heißt Modernität eine Neubewertung der Rolle des Staates und die Entdeckung neuer Freiheitssphären außerhalb der Arbeitsgesellschaft. In der französischen Linken geht jetzt ein neues Konzept um: „der investierende Staat", der eine neue Art von Voluntarismus verkörpern soll.

Zum Schluß dieses kurzen Statements möchte ich sagen, daß die Debatte um den Dritten Weg in Frankreich kein so positives Echo gefunden hat, wie hier in Deutschland, wo der Bundeskanzler selbst das Buch von Anthony

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Giddens The Third Way in seiner deutschen Fassung vorstellen wollte, weil es zu sehr nach Entideologisierung und Entpolitisierung klang und als Rückzug der Politik aus der Gesellschaft interpretiert wurde. Immerhin: die wissenschaftliche und historische Konfrontation der unterschiedlichen Sozialdemokratien kann nur alle bereichern.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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