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TEILDOKUMENT:



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Das Zusammenleben der Kulturen in einer globalen Gesellschaft
Risiken, Gefährdungen, Perspektiven
Eine Ermutigung




Globalisierung und kultureller Konflikt

Die Globalisierung hat nicht nur wirtschaftliche, sie hat auch politische und kulturelle Folgen von weitreichender Bedeutung. In allen Teilen der Welt werden durch das zunehmende Eindringen von Waren, kulturellen Leitbildern und Vorbildern der Lebensführung eingelebte Traditionen in Frage gestellt. Nicht selten geschieht deren Verbreitung in raschem Tempo und aggressiver Form, begünstigt durch die ökonomische und technische Übermacht der stärksten Industrienationen, so daß eingelebte Identitäten sozialer Gruppen in Frage gestellt und ihrer gewohnten Lebensform plötzlich die Anerkennung verweigert wird.

Im Maße, wie sich die wirtschaftliche Globalisierung bislang politischer Steuerung und Verantwortung entziehen konnte, hat sie in vielen Teilen der Welt zu einer Verschärfung der inneren Spaltungen der Gesellschaften geführt. Einem großen Teil der Menschen wird die Teilnahme am wirtschaftlichen Fortschritt und sozialen Aufstieg verweigert. Soweit sie keine realistische Hoffnung auf Verbesserung ihrer Lage erblicken können, werden sie in zunehmendem Maße für die Versprechungen einer religiös gestützten Politik der kulturellen Identität anfällig, die in der Rückkehr zu älteren geschlossenen Formen religiös-kulturell bestimmter Formen des gesellschaftlichen und öffentlichen Lebens einen Ausweg aus Elend und Ausgeschlossensein versprechen. Religiös-kulturelle Konflikte, die nicht in den religiösen Lebensformen selbst entstehen, sondern aus politischen und wirtschaftlichen Ursachen, gewinnen infolge dessen überall auf der Welt Brisanz. Gleichzeitig beobachten wir, daß Menschen, die vom Geist ihrer Religion wirklich durchdrungen sind, häufig in besonderer Weise um die Verständigung mit Menschen aus anderen Religionen und Kulturen bemüht sind.

In Europa hat die Globalisierung die Entwicklung zur Ausbildung multikultureller Gesellschaften überall auf dem Kontinent verstärkt, seit die Auflö-

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sung der Kolonialreiche nach dem 2. Weltkrieg in Gang gekommen war. In unseren Nachbarländern und in unserer eigenen Gesellschaft leben in zunehmendem Maße Menschen unterschiedlicher Religionen und Kultur zusammen, teilen dieselben Arbeits- und Lebenswelten und dasselbe politische Gemeinwesen. In Europa leben z.B. insgesamt 7 Mio. Muslime, allein 2,7 davon in der Bundesrepublik Deutschland. Mehrere Faktoren, so der Wegfall der großen ideologischen Debatten nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes, die stärkere Thematisierung kultureller Unterschiede in allen Teilen der Welt, die Renaissance der Religion in der Politik und ihre dauerhafte Einrichtung als Minderheiten in den Mehrheitsgesellschaften haben dazu beigetragen, daß der Wille zur kulturellen Selbstbehauptung in den Minderheitsgruppen gewachsen ist, die Frage nach dem Verhältnis von Mehrheitskultur und Minderheitskultur, von politischem Gemeinwesen und kultureller Identität einen bedeutenden Rang auf der politischen Tagesordnung einnimmt. Diese Tendenz wird sich in der vor uns liegenden Zeit wahrscheinlich noch verstärken.

Überall auf der Welt und ebenso in unseren eigenen Lebenswelten werden im Namen religiöser und kultureller Selbstbehauptung Konflikte geschürt und Kriege angezettelt. Vertreter von Minderheitenkulturen erheben im Namen von Religion und Kultur den Anspruch auf Anerkennung, der ihnen wirklich oder vermeintlich von Mehrheitskulturen verweigert wird, in der zerfallenden Sowjetunion, im zerbrochenen Jugoslawien nicht weniger als in Teilen Asiens und Afrikas, aber auch an den Rändern und selbst im Herzen Europas. Fundamentalistische Minderheiten in den Mehrheitskulturen selbst antworten darauf mit dem Versuch einer Mobilisierung der Mehrheitskultur gegen die Minderheitengruppen, Spiralen der Verfeindung werden in Gang gesetzt. Das Andere, das fremd geblieben ist oder aufs neue zum Fremden gemacht wird, wie im zerfallenden Jugoslawien, wird zum Feind, dessen Zerrbild dafür herhalten muß, sich der eigenen sozialen und kulturellen Identität mit erneuerter Gewißheit zu versichern. Die Politik der Anerkennung mit den Mitteln einer Politik der Verfeindung wird zur Strategie machtbesessener Führungsgruppen aus Religion und Politik, die in den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen der Modernisierung in einer unübersichtlichen, komplexen Welt auf Gefolgschaft hoffen können.

Diese Erfahrungen und das vermeintliche Ende des ideologischen Zeitalters, das viele nach dem Ost-West-Gegensatz erwartet haben, bringt neue, ebenso verführerische wie gefährliche Ideologien hervor. So scheint die

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immer mehr Verbreitung gewinnende Ideologie vom „Kampf der Kulturen" das Orientierungsvakuum auf einfache, und in den Augen vieler angesichts neuartiger Konflikte in der Welt, auf überzeugende Weise zu füllen, das nach dem Verschwinden des kommunistischen Feindbildes auf der öffentlichen Bühne entstanden ist. Sie deutet wirkliche Konflikte, die in unseren Gesellschaften und zwischen Staaten in den 80er und 90er Jahren auf neue Weise und mit neuen Energien ausgebrochen sind, als einen Ausdruck der angeblichen Unverträglichkeit unterschiedlicher Religionen und Kulturen. Sie gewinnt ihre rasche und weit verbreitete Plausibilität, indem sie in unserer Nachbarschaft und in fernen Weltgegenden entflammende Konflikte als Erscheinungen eines einzigen neuartigen Grundkonfliktes deutet und damit wieder Ordnung in eine unübersichtliche Welt zu bringen scheint. In Gruppen und Parteien, Redaktionen und Seminaren aber auch politischen Berater- und Führungsstäben beginnt die Ideologie vom unvermeidlichen Kampf der Kulturen sich festzusetzen.

In einer Welt, in der heute in so gut wie in allen Gesellschaften Menschen unterschiedlicher Religion und Kultur als Nachbar nebeneinander wohnen, und in der durch die modernen Kommunikations- und Verkehrstechnologien Gesellschaften zu Nachbarn werden, die früher kaum Notiz voneinander nahmen, entstehen für das Zusammenleben und die Zusammenarbeit innerhalb unserer Gesellsclhaften und zwischen ihnen große Gefährdungen, wenn eine solche Ideologie sich im Denken und Handeln vieler Menschen einnistet. Durch die Art, wie sie tatsächliche Konflikte deutet, beeinflußt sie die Sicht anderer Kulturen und Religionen in den Augen vieler Menschen und die Orientierung und Gewohnheiten im Umgang mit solchen Konflikten. In der Nachbarschaft, in der Gesellschaft im ganzen und in der großen Politik gehen von dieser fatalistischen Deutung der kulturellen Unterschiede Wirkungen aus, die lang anhaltend Bedeutung gewinnen können und sogar die Ursachen für die Feindseligkeit von Repräsentanten unterschiedlicher Religion und Kulturen erst schaffen, die sie dann wieder zur Rechtfertigung ihrer trostlosen Deutung der Welt in Anspruch nimmt.

Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob Gruppen oder Führungen sich bei ihren Konflikten auf religiöse und kulturelle Unterschiede berufen, weil sie sich davon Vorteile für die Durchsetzung ihrer Interessen erhoffen oder ob Religionen und Kulturen von sich aus auf Konflikte hindrängen, weil ihnen im Innersten die Grundlage zur Verständigung mit anderen über das, was gemeinsam geregelt werden muß, prinzipiell fehlt.

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Die Unterschiede in den Lebensweisen und Kulten, Ritualen und den Formen der Frömmigkeit, die zwischen den großen Religionen der Welt bestehen, sind auf den ersten Blick mannigfaltig und sichtbar. Beim zweiten Blick sind in der Welt von heute aber überall weitgehende innere Differenzierungen in allen Kulturen und Religionen der Welt zu beobachten, so daß es ein verhängnisvoller Irrtum wäre, die spektakulärsten erkennbaren Unterschiede als eigentliches Wesen der Verschiedenheit zu betrachten. Es ist zudem für das Zusammenleben der Menschen verschiedener Kulturen und Religionen etwas völlig Verschiedenes, ob sie sich in Lebensweise, Kult und Formen der Frömmigkeit unterscheiden oder im Hinblick auf die sozialen und politischen Grundwerte, aus denen sich die Modelle des gesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens ergeben.

Weder das Studium der Religionen und Kulturen dieser Welt, noch ihre innere Entwicklung weist darauf hin, daß die Verfeindung zwischen ihnen in ihren eigenen Grundlagen auf immer vorprogrammiert sei. Ernsthafte Verständigungsbemühungen zwischen Repräsentanten aller Religionen dieser Welt, dem Islam und dem Buddhismus, dem Hinduismus und den chinesischen Religionen, den japanischen und den afrikanischen Religionen, dem Christentum und dem Judentum, haben immer zur Verständigung über Grundwerte geführt, die ein friedliches Zusammenleben aller in gegenseitiger Achtung und aktives Zusammenwirken ermöglichen. Zuletzt ist dies im Prozeß der Erarbeitung und im Inhalt des Schlußdokuments „Erklärung zum Weltethos" der Weltkonferenz der Religionen in Chicago 1994 unter Beweis gestellt worden.

Und dennoch erleben wir nicht nur zahlreiche und nicht selten auch blutige Konflikte zwischen Gruppen und Menschen, die sich auf Unterschiede von Religion und Kultur berufen. Immer häufiger wird von ihnen selbst, von denen, die vermittelnd eingreifen könnten oder von denen, die darüber berichten, die Kulturkampfideologie sei es als Erklärung, sei es als Rechtfertigung, herangezogen. Resignation oder Abschottung, mitunter aggressiv gestimmte Erwartung kommender Konflikte, die die Bereitschaft zur Verständigung von vornherein verringert, greifen um sich. Was sind die Ursachen und was können wir tun? Es geht um die Sicherung der Grundlagen eines demokratischen Gemeinwesens und den Aufbau der Voraussetzung für eine demokratische Weltgesellschaft, da sie allein in der Lage sein wird, die Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen und die globalen Herausforderungen zu meistern, mit denen wir heute konfrontiert

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sind. Die Fähigkeit der Religion und Kulturen zur Verständigung ist eine ihrer wichtigsten Bedingungen.

Es gilt die eigentlichen Ursachen der Verbreitung der Kulturkampfideologie zu erkennen, und die Frage nach der Bedeutung religiöser und kultureller Unterschiede in der Welt von heute zu klären, um einen wirkungsvollen und tragfähigen Beitrag zur dauerhaften Verständigung zwischen ihnen leisten zu können.

Daraus ergeben sich soziale, kulturelle und politische Aufgaben innerhalb unserer Gesellschaften und zwischen den Gesellschaften der Welt.

Die politische Instrumentalisierung kultureller Unterschiede

Die Globalisierung hat auch zu einer Verstärkung der Kontakte zwischen Menschen unterschiedlicher religiöser und kultureller Herkunft geführt. Einwanderungen und Flüchtlingsströme führen zu einer Verstärkung der kulturellen Vielfalt im Inneren vieler Gesellschaften. Der weltweite Handel veranlaßt eine Vermehrung wirtschaftlicher Niederlassungen und Kontakte in anderen Kulturen und die Beziehungen zwischen vielen Gesellschaften sind offener und direkter geworden. All das hat zu einer deutlichen Vermehrung gewollter und ungewollter Begegnungen zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft geführt. Kulturelle Unterschiede werden bewußter wahrgenommen.

Wir können davon ausgehen, daß künftig unsere eigene Gesellschaft wie die meisten anderen in der Welt in zunehmendem Maße kulturell vielfältig sein wird. Die Zuwanderung aus anderen Teilen der Welt wird sich fortsetzen und einige der bei uns lebenden Minderheitengruppen werden infolge der höheren Geburtsraten verglichen mit der in der Mehrheitsgesellschaft an Gewicht zunehmen. In den einzelnen europäischen Gesellschaften ist die kulturelle Mischung eine je verschiedene. In Ländern wie Frankreich oder Großbritannien ergibt sie sich aus der kolonialen Vergangenheit, während sie in der Bundesrepublik Deutschland vor allem durch die Politik der gezielten Anwerbung von Arbeitsimmigranten seit den 60er Jahren und danach durch den Zustrom von Flüchtlingen und Asylbewerbern geprägt worden ist. Wir werden in einer kulturell vielfältigen Gesellschaft leben, ganz gleich, ob das allen Bürgern und Bürgern gefällt. Es kommt also darauf an, wie wir mit den ethnischen, religiösen und kulturellen Minderhei-

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tengruppen in unserem Lande zusammen leben, die häufig wiederum in sich selbst hochgradig unterschiedlich sind.

In der Bundesrepublik Deutschland leben beispielsweise neben den 2,7 Mio. Muslimen mittlerweile auch 300 000 Buddhisten.

Studien, wie die des Instituts für interdisziplinäre Konfliktforschung an der Universität Bielefeld, haben in jüngster Zeit gezeigt, daß die Verweigerung der vollständigen Integration für die bei uns lebenden kulturell-religiösen Minderheitsgruppen unter Umständen einen hohen Preis verlangt. Dabei gilt es, sorgfältig zwischen Integration und Assimilation zu unterscheiden. Während Assimilation den Anderen zur Aufgabe seines Andersseins drängt, bietet Integration ihm die Chance zur gleichberechtigten Teilhabe an öffentlichem, wirtschaftlichem und kulturellen Leben der Gesellschaft und erkennt zugleich sein Recht auf das Anderssein an. Diejenigen unter ihnen, die sich von der Mehrheitsgesellschaft nicht anerkannt und angenommen fühlen, neigen nämlich in verstärktem Maße dazu, sich wieder der kulturellen Identität ihrer Herkunftsgesellschaft zuzuwenden und wie zur Kompensation erlittener Demütigungen und Verunsicherung die aggressivsten Varianten religiös-kultureller Identitätsbildung zu bevorzugen. Gelingende Integration ist darum nicht nur ein Gebot der politischen Kultur unserer Gesellschaft, sondern eine praktische Notwendigkeit für ihre politische und gesellschaftliche Handlungsfähigkeit.

Das Verblassen der Überzeugungsmacht und der Bindekraft der großen überwölbenden Ideologien hat kulturelle und religiöse Unterschiede als Unterscheidungsmerkmal von Gruppen und Gesellschaften schärfer hervortreten lassen. Ethnische, religiöse und kulturelle Zugehörigkeit scheinen vielen heute als die letzten, sozusagen „natürlichen" Möglichkeiten kollektiver Identifikation und Mobilisierung, die noch verblieben sind.

Solange die großen Ideologien wie Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus, Konservatismus als gesellschaftspolitische Projekte und als wertorientierte politische Lebensweise bei uns und in vielen anderen Gesellschaften der Welt Hoffnungsträger und Indentifikationsmöglichkeit für viele Menschen waren, schienen Kultur und Religion im öffentlichen Leben nur eine Nebenrolle zu spielen. Die Zeit der religiös bestimmten Konflikte mit ihren bitteren Erfahrungen, die die moderne Kultur der Toleranz und des friedfertigen produktiven Umgangs mit kulturellen Differenzen erst hervorgebracht hat, schien überwunden. Gefahr für Menschenrechte und Demo-

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kratie drohte nur noch von den intoleranten Ideologien. Nun läßt das Verblassen der Orientierungskraft der großen Ideologien nicht nur als letzte große Gruppendifferenz Religion und Kultur wieder stärker ins öffentliche Bewußtsein treten, unterschiedliche Religion- und Kulturzugehörigkeit erscheint in der unübersichtlichen Welt der Gegenwart vielen wie das letzte verbliebene Angebot Ordnung und Übersichtlichkeit zurückzugewinnen. Kulturelle Differenzen gewinnen eine schärfere öffentliche Kontur.

Häufig wird übersehen, daß auch innerhalb unserer eigenen Kultur und sogar der Kultur unserer eigenen Gesellschaft durch den Wandel der Werte und Lebensformen, durch den Einfluß der Massenmedien und der Bildung und durch die Einflüsse, die andere Gesellschaften und Kulturen auf uns ausüben, ebenfalls eine zunehmende Differenzierung der Wertorientierung und der Lebensweisen, der Alltagsästhetiken und der Denkmuster, der Freizeitbeschäftigung und der Lebensorientierung, also der Kultur der gesellschaftlichen Teilgruppen zu beobachten ist. Diese innere kulturelle Differenzierung bei uns selbst hat beträchtliche Auswirkungen nicht nur auf die Lebensweise, sondern auch auf Abgrenzung und Zuwendung des Einzelnen im Verhältnis zu anderen Menschen und Gruppen in unserer Gesellschaft zur Folge und auch auf das politische Denken und Handeln, die Bereitschaft zum Engagement und die Unterstützung von politischen Parteien. Obgleich diese innere kulturelle Differenzierung zu großen Unterschieden zwischen einzelnen sozialen Milieus führt und erhebliche Folgen für Wirtschaft, Staat und Gesellschaft hat, spielt sie in den öffentlichen Diskussionen über kulturelle Unterschiede kaum je eine Rolle. Schon das deutet darauf hin, daß bei der Hervorhebung kultureller Unterschiede weniger die Unterschiede selbst als vielmehr ihre Verwendbarkeit für außer ihnen liegende politische Zwecke den Ausschlag geben.

In allen Teilen der Welt, in den Entwicklungsländern ebenso wie in den postkommunistischen Gesellschaften Osteuropas aber auch in den demokratischen Dienstleistungsgesellschaften des Nordens sind oft beunruhigend erfolgreiche Versuche zu beobachten, kulturelle Differenzen, im Maße, wie sie bewußter wahrgenommen werden, politisch zu instrumentalisieren. Politische Führungen nutzen ethnische, religiöse und kulturelle Zugehörigkeiten zur Polarisierung von Gruppen, treiben sie in die Verfeindung, um auf diese Weise Anhängerschaften zu mobilisieren und ihre eigene Macht zu mehren. In den Brüchen der Modernisierung, vor allem wenn soziale Abstiegsdrohungen, kulturelle Verunsicherung, wirtschaftliche Aus-

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sichtslosigkeit und das Versagen korrupter politischer Eliten zusammenkommen, erscheint für viele Menschen nur noch der Ausweg des politischen Fundamentalismus aussichtsreich, der in der Rückkehr zu religiöser, kultureller oder ethnischer Homogenität den passenden Schlüssel zur Lösung ihrer existentiellen Probleme zu besitzen vorgibt.

Die Oberflächlichkeit der Fehldeutung ist mit Händen zu greifen, wenn aus Konflikten wie denen im zerfallenen Jugoslawien oder der zerfallenen Sowjetunion, aber auch den Bürgerkriegen Südasiens, wie etwa dem lang anhaltenden Konflikt zwischen Tamilen und Singalesen in Sri Lanka oder Hindus und Muslimen in Indien oder ähnlichen Konflikten in anderen Teilen der Welt, bei denen sich Sprecher der Konfliktparteien auf die kulturellen Unterschiede berufen, tatsächlich als Ausdruck der Unverträglichkeit kultureller Grundwerte des menschlichen Zusammenlebens gedeutet werden. Wenn in einigen Teilen der Welt Protestanten und Katholiken seit Jahrhunderten friedlich und einvernehmlich gemeinsame Lebenswelten teilen, während sie sich in anderen Teilen der Welt einander mit blutigen Kriegen überziehen, wenn sich buddhistische und hinduistische Gruppen in Sri Lanka einen langanhaltenden Bürgerkrieg liefern, der Hunderttausende von Opfern kostet, während sie in Nepal in gemeinsamen Tempeln beten, wenn Hindus und Muslime Jahrhunderte lang Lebenswelten in vielen Gegenden Südasiens teilten, während sie plötzlich in einer der Großstädte des Subkontinents übereinander herfallen, wenn türkische Muslime und deutsche Christen, Freidenker oder Gleichgültige friedlich, mit wechselseitigem Interesse an einander oder auch gleichgültig in vielen Städten und Dörfern miteinander leben, während kleine Gruppen von Einzeltätern mit Berufung auf ethnische oder kulturelle Differenzen zur Gewalt greifen, dann kann der Konflikt nicht in der kulturellen oder religiösen Differenz selber liegen, sondern nur in dem Gebrauch der von bestimmten Gruppen in bestimmten Situationen von ihnen gemacht wird.

Vielfalt und Differenzierung des religiösen Bekenntnisses und Lebens wachsen ebenso an, wie die Unterschiedlichkeit kulturell bestimmter Lebensformen, die sich auf keine religiöse Grundlage stützen. Stets lassen sich in gründlicher Betrachtung auch soziale, wirtschaftliche und politische Ursachen erkennen, wo die kulturelle Identitätspolitik des Fundamentalismus erfolgreich ist.

Vom Ausbrechen gewaltsamer Konflikte zwischen Gruppen, deren Führer sich auf ethnische, kulturelle oder religiöse Differenzen beziehen, um ihre

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Position im Konflikt zu legitimieren, auf die Unverträglichkeit der Religion oder Kulturen zu schließen, die zur Rechtfertigung herangezogen werden, ist nicht nur logisch ein krasser Fehlschluß und als wissenschaftliche These eine methodische Fehlleistung ersten Ranges, sondern widerspricht der wirklichen Erfahrung, die wir überall auf der Welt machen können. Die Instrumentalisierbarkeit auch ethnischer, kultureller und religiöser Unterschiede, so wie anderer Unterschiede der Region, der sozio-ökonomischen Lage, des Wohnorts oder der Berufsposition, verweist nur auf die politische Ausnutzbarkeit von Unterschieden zwischen Menschen überhaupt, ist aber nicht der geringste Beweis für die Unversöhnlichkeit der Grundwerte, die in unterschiedlichen religiösen und kulturellen Traditionen angelegt sind.

Auf diese Weise werden kulturelle Unterschiede, die als solche das Zusammenleben der Menschen keineswegs belasten müssen, sondern sogar als Bereicherung erfahren werden könnten, zur Quelle von Konflikten und Feindschaften. Das von dem amerikanischen Politikwissenschaftler Huntington erst vor kurzem in die Öffentlichkeit gebrachte Weltbild eines unvermeidlichen Kampfes der Kulturen, im Inneren der Gesellschaften und zwischen den Gesellschaften, der das Schicksal des 21. Jahrhunderts bestimmen soll, ist schon im Begriff zu einer neuen Ideologie des Zeitalters nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes zu werden. In aller Welt wird es aufgegriffen und immer häufiger als Rechtfertigung und Bestätigung kulturell gestützter politischer Machtstrategien genutzt.

Die Ideologie vom Kampf der Kulturen könnte rasch zu einer weltweiten Gefahr werden, die sich verselbständigt und die Ereignisse erst schafft, die sie vermeintlich nur schildert. Während nämlich die einen, aus unterschiedlichen Motiven, tatsächlich an der Politisierung kultureller Differenz für die Zwecke ihrer Machtsicherung arbeiten, fürchten andere, daß auch sie sich in ihren eigenen kulturellen und religiösen Bezugsgruppen enger zusammenschließen und auf feindselige Auseinandersetzungen einstellen müssen, da ja die anderen ebenfalls ihnen gegenüber solche Absichten verfolgen. Der Kreislauf der selbstbestätigenden Prophezeiung kommt in Gang und dient auf allen Seiten der Rechtfertigung für verweigerte Verständigungsversuche, die Verteidigung eigener Privilegien oder aggressives Vormachtstreben.

Innere Differenzierung in den Kulturen und Konsensmöglichkeiten zwischen ihnen

Verständigungsversuche zwischen Repräsentanten aller Religionen der Welt haben ebenso wie eingehende empirische Untersuchen gezeigt, daß trotz der großen Unterschiede im Bereich der Heilslehren, der religiösen Symbole und Rituale sowie vieler Elemente der alltäglichen Lebensführung und biographischen Muster, die das Zusammenleben der Menschen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft entscheidend bestimmenden eigentlichen sozialen und politischen Grundwerte innerhalb der großen Kulturkreise ebenso große Unterschiede aufweist wie zwischen den Kulturkreisen selbst. Die Auffassungen über so wichtige Normen des menschlichen Zusammenlebens, wie Vorrang des Individuums oder Vorrang des Kollektivs, Vorrang für Gleichheit oder Vorrang für Ungleichheit, Zustimmung zu den härteren Werten der Konkurrenz und Durchsetzung oder zu den weicheren Werten der Zusammenarbeit, der Empathie, der Verständigung, Vorliebe für umfassende Reglementierungen des Zusammenlebens oder der liberalen Offenheit der gesellschaftlichen Strukturen sind in Gesellschaften derselben Kulturkreise ebenso unterschiedlich und mitunter noch unterschiedlicher als im Durchschnitt zwischen den Gesellschaften unterschiedlicher Kulturen.

Für das öffentliche Zusammenleben und die Zusammenarbeit in gemeinsamen öffentlichen Angelegenheiten zählen aber diese sozialen und politischen Grundwerte und nicht die individuellen Heilsvorstellungen oder Rituale der Bewältigung des Alltagslebens. Es zeigt sich vielmehr, daß in allen Religionen und Kulturen ein Kern übereinstimmender Vorstellungen von menschlicher Würde und der Gleichbehandlung von Menschen enthalten ist, der zu Übereinstimmungen im Grundwertebereich führt, die allemal ausreichen, um ein friedliches und gedeihliches Zusammenleben zwischen unterschiedlichen Gruppen und Traditionen zu ermöglichen. Grundregeln der gegenseitigen Achtung, des Respekts vor der menschlichen Würde, des partnerschaftlichen Zusammenlebens zwischen den Geschlechtern, der sozialen Gerechtigkeit und der Rechtfertigung politischer Macht durch die Zustimmung der von ihr Betroffenen finden sich in den Traditionen aller Religionen und Kulturen. Darüber hinaus hat sich gezeigt, daß sie alle im Verlauf der letzten Jahrhunderte eine interne Differenzierung erlebt haben, in deren Folge moderne Ideen der Rechtfertigung von inneren Unterschieden, der Toleranz, der größeren Rolle in der Bedeutung des Ein-

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zelnen, der Kritik, der Demokratie und des Schutzes grundlegender menschlicher Rechte von bedeutenden Gruppen, die ihre kulturelle Tradition aktualisieren, vertreten werden.

Fundamentalismus, Traditionalismus und Modernisierung

Die vergleichende Untersuchung der gegenwärtigen Situation läßt deutlich werden, in allen Religionen und Kulturen der Welt differenziert sich die überlieferte Tradition, dasselbe kulturelle Erbe in drei einander entgegengesetzten Zivilisationsstilen aus.

Der traditionalistische Zivilisationsstil verteidigt das Erbe, wehrt Neuerungen soweit er dies vermag, möglichst ab und ist um die Rettung vieler der Normen, Lebensformen und Weltdeutungen in einer sich rasch und gründlich ändernden Welt bemüht, ohne doch das Alte starr und unwandelbar festhalten zu können. Er ist an defensiven Reaktionen auf die Veränderung der Gesellschaften in der globalen Welt orientiert und zu den Modifikationen, die seinen Fortbestand unter sich wandelnden Bedingungen verlangen, bereit.

Der modernisierende Zivilisationsstil hingegen will die Öffnung der überlieferten Kultur , indem er ihre Unterschiede, die sich überall auf der Welt herausbilden, anerkennt, den Individuen mehr Spielraum gewährt, den sich entwickelnden Pluralismus, der Bedeutungen und Lebensformen, der Meinungen und Interessen Raum gibt. Er fragt nach Gründen für den Geltungsanspruch von Überlieferungen und erkennt in zunehmendem Maße Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten zwischen der eigenen Kultur und den anderen Kulturen der Welt. Die jüngere Generation, Teile der gebildeten Schichten, Menschen in den modernen Dienstleistungs- in Kultur-, Informations- und Wissenschaftsberufen und die Akteure der internationalisierten Handelsbeziehungen neigen diesem Zivilisationsstil in besonderem Maße zu.

Die Erfolge des modernisierenden Zivilisationsstils und die wirklichen oder vermeintlichen Bedrohungen für die eigene kulturelle Überlieferung durch den kulturellen Druck, den die ökonomische Globalisierung erzeugt, wehrt der fundamentalistische Zivilisationsstil in allen Religionen und Kulturen der Welt vehement ab. Fundamentalismus ist der paradoxe Versuch einer Bekämpfung der kulturellen Grundlagen der Moderne, Pluralismus und

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Rationalität, Menschenrechte, Toleranz, Offenheit und Differenz, mit den Mitteln der modernen Formen von Organisation, Kommunikation und Waffentechnologie. Er will ältere geschlossene Entwicklungsstadien der eigenen Geschichte in den unterschiedlichen Kulturen und Religionen absolut setzen, um ein unverrückbares Fundament der Gewißheit zu erlangen, das feste, nicht mehr befragbare Identität gewährt. Er will aus dem absoluten Gewißheitsanspruch, den er für das eigentliche Wesen der eigenen Kultur und Religion ausgibt, geschlossenes Denken, die Dogmatisierung gewisser Überlieferung unmittelbar zur Grundlage des sozialen und wirtschaftlichen Lebens und des politischen Gemeinwesens machen. Fundamentalismus verweigert dem Anderen, in der eigenen Kultur und in den anderen Kulturen die Anerkennung.

Keine der Religionen der Welt ist von Hause aus für alle Zeiten fundamentalistisch, der Fundamentalismus ist in keiner der Religionen und Kulturen der Welt der unangefochtene und alleinige Repräsentant der aktuellen Auslegung kultureller Überlieferung für das Leben der Menschen, der Verfassung, der Wirtschaft, Staat und Gesellschaft.

Für einen verständigungsfähigen Kulturbegriff

Da heute so gut wie alle Gesellschaften des Nordens und auch die meisten Gesellschaften des Südens von religiöser, kultureller und ethnischer Vielfalt geprägt sind, bedrohen solche Entwicklungen, soweit sie tatsächlich stattfinden, aber auch die Ideologie, die sie vorantreibt, die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, des sozialen Friedens und der politischen Handlungsfähigkeit tiefgreifend. Sie gefährden massiv die Verwirklichung einer grundwerteorientierten Politik, die Gewährleistung der Menschenrechte für alle individuellen Gruppen und die Lösung der eigentlichen politischen Probleme, vor denen die Gesellschaften stehen.

Die Globalisierung der Märkte hat Auswirkungen für die soziale Sicherung und das wirtschaftliche Wohlergehen großer Gruppen von Arbeitnehmern. Die weltweite Gefährdung der ökologischen Grundlagen der menschlichen Gesellschaft, der Schutz des Weltklimas und die Sicherung des Friedens verlangen heute eine neue Qualität der weltweiten politischen Zusammenarbeit. Politische Zusammenarbeit aber ist nicht möglich, wo kulturelle Unterschiede zum Anlaß politischer Verfeindung gemacht werden. Ein Mindestmaß an Verständigungsbereitschaft, an Erkenntnis gemeinsamer Heraus-

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forderungen und Überlebensbedingungen ist erforderlich, wenn politische Zusammenarbeit zum Erfolg geführt werden soll.

In der globalisierten Welt von heute ist im übrigen der auf Herder zurückgehende traditionsreiche Kulturbegriff, der Kulturen auf homogene ethnische Gruppen bezieht und die Individuen in ihren Kulturen gänzlich eingeschlossen und eingeschmolzen sieht, ohnehin einer gründlichen Revision bedürftig. Die alte Vorstellung aus der Frühzeit der Moderne, der zufolge Kulturen wie Kristallkugeln wirken, die alles starr und dicht verschließen, was zu ihnen gehört, und untereinander nur die Verkehrsform des Zusammenstoßes zulassen, entspricht nirgends mehr der Realität. Sie ist heute nicht nur falsch, sondern auch verhängnisvoll und gefährlich.

Überall erleben wir, daß sich die Kulturen intern in höchstem Maße differenzieren und ebenso große Unterschiede in der Fortschreibung derselben kulturellen Traditionen zu beobachten sind, wie zwischen den Kulturen. Ein gebildeter Ingenieur in Indien unterscheidet sich mehr von dem Bauern im Dorf am Rande seiner Stadt als von seinem Berufskollegen in USA oder in Japan. Das gleiche gilt für die Angehörigen vieler anderer Berufsgruppen und Milieus. Unter dem Einfluß der globalen Massenkommunikation, der Angleichung vieler Berufsrollen, des Kontaktes mit anderen Kulturen durch Reisende und als Reisender, durch die Werbung und auf vielen anderen Wegen sind die Kulturen in der Gegenwart eher wie Flüssigkeiten, die sich mischen und auch innerhalb der einzelnen Gesellschaften und innerhalb des selben kulturellen Rahmens zu ganz unterschiedlichen Kombinationen, Akzentuierungen, Lebensmustern, Denkweisen und Orientierungen führen. Schon aus diesem Grund ist die Abgrenzung von Kulturen untereinander nach dem alten Modell der Kristallkugel heute eine verfehlte Vorstellung.

Chancen der politischen Zusammenarbeit

Religiöse und kulturelle Differenzen müssen das friedliche Zusammenleben der unterschiedlichen Gruppen und Milieus innerhalb derselben Gesellschaft in keiner Weise belasten. Sie verhindern die gemeinsame und gleichberechtigte Bürgerschaft im politischen Gemeinwesen nicht. Das Parlament der Weltreligionen in Chicago 1994, die Foren vieler UNO-Konferenzen und zahlreiche andere Gelegenheiten haben bewiesen, daß eine Verständigung über die grundlegenden Werte der menschlichen Würde, des fried-

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lichen Zusammenlebens, der Toleranz, der gemeinsamen Verantwortung und einer gerecht geordneten Weltwirtschaft auf der Basis aller Religionen und Kulturen möglich ist, wenn Verständigung wirklich versucht wird.

An diese ermutigenden Erfahrungen gelungener Verständigung zwischen unterschiedlichen Religionen, Kulturen und Ethiken müssen wir anknüpfen, wenn wir mit Aussicht auf Erfolg den Kräften entgegenwirken wollen, die solche Unterschiede im Interesse ihrer eigenen Macht politisch instrumentalisieren und wenn wir die Grundlagen breiter und sicherer machen wollen, auf denen allein die weltweite politische Zusammenarbeit gelingen kann, die heute für das Überleben der Menschheit geboten ist.

Auch für das Offenhalten von Entwicklungsmöglichkeiten in unseren eigenen Gesellschaften, für die Weiterentwicklung der politischen Kultur der Demokratie und für den Erhalt und die Verbesserung unserer politischen Handlungsmöglichkeit müssen wir in unserer eigenen Gesellschaften dafür sorgen, daß nicht Fundamentalismus, kultureller Separatismus oder Apartheitspolitik die Oberhand gewinnt, sondern Toleranz gefördert wird, damit kulturelle Unterschiede als eine Bereicherung unserer Erfahrungsmöglichkeiten und nicht als eine Quelle von Angst und Bedrohung erfahren werden.

In aller Welt zeigt sich aber auch, daß es nicht ausreicht, auf die selbstzerstörerischen Wirkungen des Fundamentalismus hinzuweisen, um seinen Einfluß einzudämmen, wenn nicht zugleich glaubwürdig und energisch an der Überwindung der sozial-ökonomischen und politischen Krisen gearbeitet wird, die zahlreiche Menschen veranlassen, nur noch in der Verführung zu kultureller Verfeindung den Weg zur Verbesserung ihres eigenen Lebens zu sehen.

Die Gruppe von Lissabon hat 1996 kürzlich eine Initiative vorgeschlagen, um ernsthafte Fortschritte der globalen Zusammenarbeit zur Bewältigung globaler Probleme möglich zu machen. Da die kulturelle Verständigung einer der Grundlagen der Zusammenarbeit auf allen anderen Gebieten ist und kulturelle Blockaden alle anderen Formen zur Zusammenarbeit ernsthaft behindern würden, ist eine der wichtigsten Anregungen der Gruppe von Lissabon der von ihr angeregte „Globale Kulturvertrag". Seine allgemeine Idee zielt auf die Intensivierung und Verbreiterung des interkulturellen Dialogs, damit möglichst viele Bürgerinnen und Bürger die anderen Reli-

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gionen und Kulturen der Welt verstehen und schätzen lernen und angstfrei und unverkrampft mit ihnen umzugehen verstehen.

Als erste Schritte auf diesem Weg schlägt die Gruppe u.a. vor, gezielt in einigen Großstädten der Welt für eine festgelegte Periode den interkulturellen Dialog zu praktizieren und die Massenmedien, gesellschaftliche Institutionen und Initiativen, Stiftungen u.a. aufzufordern, spezielle Beiträge dazu zu leisten. So kann auf diesem Wege Verständnis für alle beteiligten Kulturen gewonnen und Verständigung praktisch eingeübt werden. Solche Projekte können wechselnd in den wichtigsten Zentren der Welt stattfinden. Ihr Verlauf und die Ergebnisse können durch die Mitwirkung der Massenmedien in viele andere Teile der Welt dokumentiert und vermittelt werden.

Auch Institutionen können für die Dauerhaftigkeit interkultureller Dialoge geschaffen werden, sei es bei der UN oder ihren Teilorganisationen, sei es auf der Grundlage von Bürgerinitiativen. Einige kleinere Länder werden aufgefordert, im Abstand von zwei oder drei Jahren einen Bericht über den Stand des interkulturellen Dialogs in der Welt vorzulegen, aus den bisherigen Erfolgen oder Mißerfolgen Vorschläge zu entwickeln und Intensität und Reichweite sowie die öffentliche Wirksamkeit der Formen dieses Dialogs voranzubringen.

Auf diese Weise kann den Kräften, die an einer politischen Instrumentalisierung kultureller Differenzen interessiert sind, der sachliche Boden entzogen werden, allein schon deshalb, weil überall zu sehen ist, daß Verständigung zwischen den Kulturen über die öffentlichen Angelegenheiten unbeschadet fortgeltender Differenzen in Glaubensfragen und Fragen der Lebensführung immer möglich ist, wenn sie wahrhaftig gewollt wird.

Europäische Union: Eine kulturell vielgestaltige politische Gemeinschaft

Die Behandlung des Wunsches der Türkei nach Integration in die Europäische Union hat nicht nur eine außenpolitische Bedeutung, sondern ist für die Innenpolitik Europas von größter Bedeutung. Falls nämlich die Türkei aus religiösen Gründen ausgegrenzt bleiben würde, so wäre das für die Muslime in den europäischen Mehrheitsgesellschaften ein lange wirkendes Signal.

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Auf dem Luxemburger Gipfeltreffen erhielten elf osteuropäische Staaten eine konkrete Aussicht auf die Mitgliedschaft in der EU. Die Türkei, die auf den ältesten Assozierungsvertrag zurückblicken kann, wurde als künftiger Beitrittskandidat nicht nominiert. Dem Land wurde lediglich angeboten, an den regelmäßig abzuhaltenden Europäischen Konferenzen teilzunehmen. Diese Entscheidung brachte erneut die Frage nach der Identität, der inneren Verfaßtheit und Ziele der EU auf die politische Tagesordnung.

Begriffe wie „europäische Standards", „europäische Kultur" werden in Bezug auf den Beitritt weiterer Länder in die EU häufig benutzt, diese Begriffe jedoch mit Inhalt zu füllen, scheint schwierig zu sein. Auffällig ist bei der Definition einer europäischen Kultur, daß von einigenden Wurzeln in „alten Kulturen" und der einigenden „christlichen Religion" die Rede ist. Gerade im Zusammenhang mit der Diskussion eines Beitritts der Türkei in die EU wurde auch mit dem Islam argumentiert. Die Türkei sei ein islamisches Land, wie auch die Regierungsbeteiligung einer Islamistischen Partei im Jahre 1996/97 gezeigt hätte. So konstatierte der Ministerpräsident des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Bernd Seite, die Türkei als islamisches Land gehöre nicht in die EU.

Es sollte nicht vergessen werden, daß die als einigender Faktor Europas bezeichnete christliche Religion, ihren Ursprung im Orient hatte. Mit ihr kam orientalisches Gedankengut nach Westeuropa und wurde den hiesigen Verhältnissen angepaßt. Will man das „Christentum" als einigendes Element Europas bezeichnen, so berücksichtigt man nicht, daß, solange tatsächlich die christliche Religion in Europa noch eine Rolle spielte, sie keines falls immer nur einigend war. Es sei hier nur auf die Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten, Protestanten und Orthodoxen etc. hingewiesen, deren Ausläufer noch heute z.B. im irischen Konflikt zu sehen sind. Ferner hat die tiefe Religiosität der Bewohner mancher ländlicher Gebiete Europas sehr viel mehr gemein mit der von muslimischen Gläubigen ebenfalls eher ländlichen Gegenden der Türkei, als mit dem städtischen Lebensgefühl von Angehörigen der jeweiligen eigenen Nationalität.

Die Türkei als Bestandteil des Orients aus Europa auszugrenzen, widerspricht dem stets propagierten Europagedanken – das Europa der Vielfalt und der verschiedenen Kulturen –. Eine solche Haltung belastet nicht nur die außenpolitischen Beziehungen, sondern erschwert auch das friedliche Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit in

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Europa. Mittlerweile leben in den Mitgliedsstaaten der EU über sieben Millionen Muslime, davon allein 2,7 Millionen in der Bundesrepublik Deutschland. Durch die Betonung der „kulturellen Andersartigkeit" aufgrund der Religion werden „Fremde", welche auch innerhalb der Grenzen Europas leben, konstruiert. Es wird zwar Integration gefordert, jedoch Ausgrenzung betrieben: Nicht zuletzt sind es auch politische Maßnahmen, welche die Ausgrenzung den türkischen Migranten vor Augen führen. Als Beispiel sei hier die im März 1997 eingeführte Visumspflicht für Kinder aus den Nicht-EU-Staaten genannt.

Die türkische Öffentlichkeit sowohl in Europa als auch in der Türkei reagiert auf die als „grundsätzliche Ablehnung" empfundene Haltung der EU sensibler als dies in Europa wahrgenommen wird. Das Gefühl der Enttäuschung führt verstärkt zu einem Rückzug aus Europa und im Falle der Migranten aus der Mehrheitsgesellschaft. Hier müssen die Gefahren der Selbstisolierung und Radikalisierung erkannt werden. Nationalistisch/islamistische Strömungen würden durch eine dauerhaft ablehnende Haltung der EU in ihrer Argumentation bestärkt.

Es ist hervorzuheben, daß die Türkei im politischen Sinne kein islamischer, sondern ein laizistischer Staat ist. Das Prinzip des Laizismus gehört zu den unveränderlichen Säulen der türkischen Verfassung und bestimmt seit über 70 Jahren die politische Kultur des Landes. Die Türkei, als nordwestlicher Pfeiler der islamischen Welt, verfügte stets über vielfältigen Austausch mit westeuropäischen Gesellschaften und war den Einflüssen aus Westeuropa ausgesetzt. Der Islam in der Türkei, so wie er von der dortigen Mehrheitsgesellschaft verstanden und praktiziert wird, widerspricht nicht dem Demokratieverständnis des Westens. Mehr noch, das demokratieorientierte islamische Element kann auch als Kapital und nicht als Hemmnis angesehen werden, welches die Türkei in die EU einbringen würde. Zudem ist eine „europäische Kultur" nicht mit klaren Zuordnungen und Begrenzungen zu beschreiben, da die Identität und Kultur einer Gesellschaft immer mehrdimensional und durch dynamischen Wandel gekennzeichnet ist. Die Betonung einer „gemeinsamen europäischen Identität" gegen eine islamische Gesellschaft scheint daher weniger in ihrem tatsächlichen Vorhandensein als in ihrer Instrumentalisierung als politisches Mittel begründet zu sein.

Für die Europäische Union als einer auf politische Grundwerte gestützten Wertegemeinschaft ist es eine Selbstverständlichkeit, daß die Türkei wie

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alle Vollmitglieder uneingeschränkt die Bedingungen der Rechtsstaatlichkeit, des Respekts vor den Minderheiten in ihrem Lande, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Demokratie erfüllt und, soweit sie dies gegenwärtig noch nicht tut, sich um angemessene Verbesserungen bemüht. Was indessen nicht als Argument für eine Behinderung der Beitrittsbemühungen der Türkei ins Feld geführt werden darf, ist die Tatsache, daß es sich um ein Land mit einer islamischen Mehrheitsgesellschaft handelt. Im Gegenteil, in dem kulturell vielfältigen Europa, das bereits heute existiert und das sich in zunehmendem Maße abzeichnet, können, ausgehend von den oben dargestellten Punkten, folgende bereichernde Faktoren bei einer EU-Vollmitgliedschaft der Türkei für die politische und kulturelle Integrationskraft der EU genannt werden:

  • Die Türkei als islamische Gesellschaft und europäischer Staat kann als kulturelle Brücke zwischen den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens und Europa fungieren. Und somit Grundvoraussetzungen für eine politische sowie wirtschaftliche Zusammenarbeit mit diesen Staaten schaffen.
  • Die Türkei als künftig einzige islamische Mehrheitsgesellschaft in Europa könnte ein identitätsbildender und integrativer Faktor für die in Europa heimischen Muslime sein. Vorhandene interreligiöse und -kulturelle Spannungen könnten somit abgebaut und auch für die Zukunft verhindert werden.
  • Als Vollmitglied der Europäischen Gemeinschaft könnte die Türkei mit ihrem laizistischen Staatsprinzip Vorbildfunktion für die sich neue konstituierenden Turkrepubliken der ehemaligen Sowjetunion und der Balkanstaaten erfüllen, und somit eine Verbindung zu diesen Staaten herstellen, die sowohl politisch als auch ökonomisch für die EU von großem Vorteil wäre.
  • Die türkische Bevölkerung ist traditionell in ihren kulturellen Werten stark europaorientert. Es kann deshalb nur im Interesse der Europäer sein, deren Selbstbewußtsein durch eine Aufnahme der Türkei in die EU als Vollmitglied zu stärken, um eine tiefere Verankerung und Verbreitung europäischen Kultur- und Gedankenguts in der Türkei zu gewährleisten.
  • Demokratie und Rechtstaatlichkeit der Türkei konnten durch eine Vollmitgliedschaft in der EU ermutigt und gefördert werden.

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Die Bundesrepublik: Eine kulturell vielfältige Gesellschaft

Entwicklungen auch in unserer eigenen Lebenswelt, in den Gesellschaften Europas und in der Bundesrepublik Deutschland begünstigen die Hinwendung von Menschen zu der fundamentalistischen Verführung. Die zunehmende Komplexität unserer Gesellschaften läßt die Umwelt für eine wachsenden Zahl von Menschen nicht nur als unübersichtlich, sondern als undurchschaubar oder gar bedrohlich erscheinen und ihre Verunsicherung wächst. Das Andere, Unverstandene kann rasch zur Bedrohung werden, aus der die künstlichen Gewißheiten des Fundamentalismus, der die Welt auf wenige absolut gesetzte Schwarz-Weiß-Schemata reduziert, zu retten vermag. Mechanismen der Vorurteilsbildung, die wir aus der Geschichte unserer Gesellschaft kennen, so die Vermischung des Nahbildes und des Fernbildes des anderen. Weil beispielsweise der Islam den Berichten zufolge, die täglich in den Medien gegeben werden, in anderen Teilen der Welt zur Rechtfertigung von Gewalt herangezogen wird, projizieren manche dieses Fernbild auf die moslemischen Nachbarn in ihrer eigenen Kultur, weil sie sie in Wahrheit gar nicht kennen. Es kommt hinzu, daß der Geist der Postmoderne nicht selten zu einem zynisch-spielerischen Verhältnis zu den Werten der Moral, zum Anspruch auf Wahrheit, zu den Verbindlichkeiten einer verantworteten Lebensführung führt. Auch in der Reaktionsbildung auf einen solchen Zynismus, den viele für den Kern einer wertevergessenen, konsumistischen Lebensart des Westens halten, kann Fundamentalismus als die klare Alternative eines ernsthaften und verantworteten Lebens, das Wahrheit und Verbindlichkeit zur Grundlage hat, erscheinen.

Die westliche, christlich-abendländische Kultur ist zur Kultur der Moderne erst durch die Aufklärung geworden. Die Aufklärung hat, durchaus auf der Grundlage der christlich-abendländischen Überlieferung, die Ansprüche des Individuums, die sie enthielt, die Rolle der Vernunft, die ihr nicht fremd war, das Recht auf Differenz und den Anspruch der Menschen auf Grundrechte und Mitbestimmung in den Fragen des politischen Gemeinwesens radikalisiert und damit die Grundlagen für die Kultur der Moderne gelegt. Ansätze einer Selbstaufklärung gibt es in allen Religionen und Kulturen der Welt, sie sind in Folge der Unterschiede in der Geschichte ihrer Gesellschaften unterschiedlich weit vorangekommen. Die Selbstaufklärung der unterschiedlichen Religionen und Kulturen von innen her voranzutreiben, kann nur deren Sache selbst sein. Dialoge und Verständigungsversuche zwischen den Kulturen, die auf Neugier und die Bereitschaft zur Anerken-

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nung des anderen beruhen, können sie überall, wo die Bereitschaft dazu vorhanden ist, unterstützen und voran bringen, wohl eher als jeder Versuch der Belehrung und der Überwachung von außen.

Der Kern der Anerkennung der Würde des Menschen, der in allen Religionen und Kulturen enthalten ist, ist entfaltungsfähig. Wir müssen auf der Universalität der Menschenrechte, zu denen sich die Vertreter aller Kulturen und Staaten im Namen der Vereinten Nationen wiederholt bekannt haben, kompromißlos bestehen. Wo immer er im Namen kultureller Selbstbehauptungen in Frage gestellt wird, müssen wir ihn kompromißlos verteidigen, gerade auch um den Minderheiten in den anderen Kulturen der Welt, die sich überall regen, das Recht auf ihre eigene Art der religiösen und kulturellen Selbstbehauptung nicht zu verweigern. Die Infragestellung der Menschenrechte im Namen kultureller Identität geschieht ja nicht selten in der Absicht, dem Anderen und Neuen in der eigenen Kultur das Recht auf Anerkennung zu verweigern.

Hier in den Lebenswelten der Bundesrepublik, wo sich eine wachsende Zahl junger türkischer Arbeitsemigranten der dritten Generation fundamentalistischen Identifikationsangeboten zuwendet, weil sie von der mangelnden Integrationsbereitschaft unserer Gesellschaft enttäuscht und in ihrem Wunsch auf persönliche Anerkennung verletzt sind, werden, ebenso wie in vielen unserer Nachbarländer, künftig in unseren unmittelbaren Lebenswelten selbst die Fragen der lebenspraktischen Bestimmung des Verhältnisses von kultureller Selbstbehauptung und Gemeinschaftsrechten an Bedeutung und an Vehemenz und wohl auch an Konfliktträchtigkeit zunehmen. Mit 2,7 Mio. Anhängern bildet der Islam die größte religiöse Minderheit in der Bundesrepublik Deutschland, die große Mehrheit der Muslime sind türkische Arbeitsemigranten. Während die erste Generation türkischer Arbeitsemigranten vorwiegend noch nach einer baldigen Rückkehr ins Heimatland orientiert war, hat die Rückkehrorientierung bei der zweiten und dritten Generation deutlich nachgelassen. Somit muß sich auch die Mehrheitsgesellschaft auf einen längeren Verbleib einer ethnischen und religiösen Minderheit einstellen. Das „Andere" wird sichtbarer, es ist für unsere Gesellschaft, für die soziale Integration und für die politische Kultur der Demokratie von ausschlaggebender Bedeutung, daß das „Andere" nicht durch Unkenntnis, Gleichgültigkeit oder Intoleranz zum „Fremden" gemacht und damit zu einer beständigen Konfliktquelle wird. Wir müssen innerhalb der Mehrheitsgesellschaft selbst und im interkultu-

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rellen Dialog mit den religiösen Minderheiten klären, wie wir z.B. so praktische Fragen, wie die nach islamischen Begräbnisstätten, Moscheen, Berücksichtigung moslimischer Minderheiten bei der Altersbetreuung, beantworten, so daß alle Beteiligten sich in ihren Rechten und kulturellen Identitätsansprüchen anerkannt und angenommen fühlen können.

Der Islam ist überall auf der Welt im höchsten Maße in sich differenziert und alles andere als ein homogenes Dogma mit einer homogenen Lebensweise und einer einheitlichen Vorstellung über das Verhältnis von Gesellschaft und Politik. Neben eher traditionalistisch geprägten islamischen Ländern wie Saudi-Arabien und dem fundamentalistischen Paradebeispiel Iran, gibt gerade die Türkei ein Beispiel für eine laizistischere Interpretation des Islam, die die Trennung von Religion und Staat, öffentlichem Leben und privater Religionsausübung zur Grundlage hatte. In der Türkei selbst und in moslemischen Gemeinschaften anderswo in Europa, besonders in der jüngeren Generation der moslemischen Arbeitsemigranten in europäischen Ländern, bildet sich etwas Neues innerhalb des Islam heraus, eine Art „Euro-Islam", bei dem sich eine lockere Form privater religiöser Orientierung mit einer offenen gesellschaftlichen Lebensweise sowie der Hinwendung zur Demokratie, Toleranz und Menschenrechten verbindet. Nicht nur die Hinwendung zu fundamentalistischen Auffassungen und Organisationen bei einem Teil der türkischen Jugendlichen in der Bundesrepublik, sondern auch die Ausbildung eines solchen modernen „Euro-Islam" prägt die Entwicklung des Islam in Ländern wie der Bundesrepublik.

Für den sozialen und politischen Zusammenhalt der Gesellschaft der Bundesrepublik sind praktische Antworten auf die neuen Herausforderungen gefragt. Dabei muß die Unterscheidungslinie zwischen der Anerkennung des Rechtsstaats zur Demokratie und des Pluralismus auf der einen Seite und der religiös bestimmter Lebensformen verschiedener Minderheiten sorgfältig und tolerant, aber auch klar gezogen werden. So erscheint es uns beispielsweise wichtig, daß alle Schülerinnen und Schüler am gesamten Curriculum des Unterrichts teilnehmen und nicht von Teilen der religiösen Minderheiten geforderte Ausnahmen zugelassen werden, damit nicht schon in der Schule der Zusammenhalt der Gesellschaft als Ganze in Frage gestellt wird. Es ist ein Unterschied, ob islamische Schülerinnen mit einem Kopftuch zur Schule kommen, was ihnen nicht verwehrt werden kann, oder ob ihre Eltern ihre Befreiung von einem Teil des gemeinsamen Unterrichts, z. B. dem Turnen, verlangen, was im Interesse der sozialen Integrat-

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ion nicht gefördert werden sollte. Für ein angemessenes Wechselverhältnis von kultureller Identität und Anerkennung einer gemeinsamen politischen Kultur in unserem Lande wäre ein islamischer Religionsunterricht an unseren Schulen von Bedeutung, für den deutsche und türkische Repräsentanten sowie Islamwissenschaftler gemeinsam die Verantwortung tragen, so daß er in den Geist des Curriculums unserer Schulen im ganzen eingefügt werden kann und auch den religiösen Ansprüchen der Muslime gerecht werden kann. Die Verfassung der islamischen Religionsgemeinschaft als einer Körperschaft des öffentlichen Rechts könnte ein wichtiger Schritt in diese Richtung sein. Warum sollte nicht den islamischen Moscheen erlaubt sein, wenigstens einmal in der Woche ihren Aufruf zum Gebet in der Weise und in der Lautstärke vorzunehmen, wie sie ihren eigenen Vorstellungen vom angemessenen Ritus entspricht, die Frage nach dem Schächten sollte so geregelt werden, daß alle religiösen Minderheiten in der Bundesrepublik sich an der gleichen Regelung orientieren können.

Verständigung suchen

Damit das Fremde nicht fremd bleibt, sondern zum anerkannten Anderen werden kann und damit das Andere nicht aufs neue zum Fremden gemacht werden kann, bedarf es nicht lediglich der abstrakten Information über andere Religionen und Kulturen, sondern einer aktiven Toleranz. Aktive Toleranz bedeutet zum einen neugierige, anerkennungsbereite und verständigungsorientierte Gespräche mit den anderen, aber ebenso die Bereitschaft, Erfahrungen und Tätigkeiten mit den anderen zu teilen, in der Lebenswelt, im gesellschaftlichen Leben, in der Berufs- und Arbeitswelt, in der gemeinsamen Sorge um die Kinder, um die Angelegenheiten der Schule, um eine intakte Umwelt und um alles, was über den Unterschied im kulturellen Selbstverständnis hinaus geteilte Interessen von Menschen sind, die eine Lebenswelt und die Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen teilen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Dezember 1999

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