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[Seite der Druckausg.: 19]

Wolfgang Thierse
Begrüßung


Wir leben in einer sich weiter und weiter öffnenden Gesellschaft, in der die unterschiedlichsten Kulturen, Traditionen und auch Religionen aufeinandertreffen. Menschen, die gestern noch in einem anatolischen Dorf, in einer Kleinsiedlung Weißrußlands oder dem Elendsviertel einer afrikanischen Großstadt ihr Zuhause hatten, müssen sich – ohne darauf vorbereitet zu sein – binnen kurzer Frist in deutschen Groß- wie Kleinstädten zurechtfinden. Und umgekehrt werden ihre deutschen Nachbarn mit dem Habitus, der Kleidung, den religiösen Riten aus fremden Kulturen konfrontiert, mit den Schwierigkeiten der sprachlichen Verständigung, dem Problem knappen Wohnraums und der Angst um die immer rarer werdenden Arbeitsplätze. Das „Fremde", das auf der Urlaubsreise noch überwiegend positive Reize wie Neugier auslöst, ruft – je mehr es an die eigene Lebenswirklichkeit heranrückt – mehr und mehr angst- wie aggressionsgesteuerte Abwehrmechanismen hervor.

Schneller noch, als wir es selbst bei unseren Arbeitsdebatten vermutet hatten, hat uns heute der ganz praktische Teil der Diskussion um den „Kampf der Kulturen" eingeholt. Politik-theoretisch hatte der amerikanische Wissenschaftler Samuel Huntington dieses Paradigma entworfen und das bedrohliche Szenario einer künftigen säkularen Auseinandersetzung zwischen westlicher Moderne und insbesondere islamischem Fundamentalismus an die Wand gemalt. Dies werde, so meinte er, der künftige Großkonflikt nach dem Ende des Kalten Krieges, des Ost-West-Konflikts und dem Zusammenbruch der kommunistischen Staaten in Europa sein.

Derartig mobilisierte neue Bedrohungsängste schwingen sicherlich mit, wenn in diesen Tagen auf Deutschlands Straßen Unterschriften gegen die Erweiterung des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts und die Einführung einer doppelten Staatsbürgerschaft gesammelt werden. Auch wenn ich bereits in den vergangenen Wochen diese Aktivitäten kritisiert habe, weil sie ein wichtiges Thema kurzsichtig-populistisch auf die Straße zerren, weil zuwenig und nicht immer zutreffend informiert wird und auf diese Weise den rechtsextremistischen ausländerfeindlichen Rattenfängern das Handwerk erleichtert wird, plädiere ich doch dafür, die dabei vorhandenen Äng-

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ste sehr ernst zu nehmen. Ich glaube, Tagungen wie diese können sehr viel dazu beitragen, Verständnis zu entwickeln und Verständigung herbeizuführen, das „Fremde" und das „Andere" kennenzulernen und nach Wegen zu suchen, wie unterschiedliche Kulturen und Religionen auf der Basis von Achtung und Toleranz auch auf engem Raum zusammenleben können.

Ich plädiere dabei nicht dafür, daß wir es uns damit zu einfach machen sollten. Der bloße Appell an Toleranz oder die Aufforderung, den Tatsachen eines Einwanderungslandes oder des „Multikulturalismus" ins Auge zu sehen, lösen noch kein einziges Problem. Aber noch weniger ist uns mit dem Wegschauen geholfen oder mit Resolutionen, die angesichts eines zusammenwachsenden Europas so tun, als wären mit der bloßen Beschwörung des ius sanguinis Deutschlands Grenzen dicht zu halten.

Die neue Bundesregierung hat ihre Arbeit gerade erst aufgenommen. Deshalb sind hier Aussagen auch nur mit aller Vorsicht angebracht. Aber zumindest bezüglich der Themenwahl dessen, was sie anzupacken gedenkt, scheint sie doch nicht ganz falsch zu liegen, wenn ich an das Thema unserer heutigen Veranstaltung denke:

  • Die Verbilligung des Faktors Arbeit ist unumgänglich, wenn wir den deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Angst nehmen wollen, daß Aussiedler, Zuwanderer und Asylsuchende ihnen ihre Arbeitsplätze wegnehmen.
  • Eine Erhöhung der Ausgaben für Forschung und vor allem Bildung, wie im Haushaltsentwurf geplant, ist geradezu zwingend, wollen wir den Kindern mit deutschen wie denen mit ausländischen Eltern eine eigenständige Lebens- und Arbeitsperspektive in unserem Land ermöglichen.
  • Eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts ist geradezu überfällig, wollen wir den Gesichtspunkt der Integration unserer ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ernst nehmen und das wahrmachen, was unser Grundgesetz als wichtiges Grundrecht postuliert – nämlich, daß niemand aufgrund seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Religion oder seiner Herkunft diskriminiert werden darf.

Aber damit sind erst einige eher grundsätzliche Fragen angesprochen, die einer Regelung bedürfen. Viele Dinge werden sicherlich auch erst im Wege längerer gelebter Praxis selbstverständlicher werden, das Ungewohnte und Fremde verlieren. Sei es islamischer Religionsunterricht in unseren Schulen,

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seien es entsprechende Feiertrage für diesen Teil der Bevölkerung, seien es die für uns ungewohnten kulturellen und religiösen Praktiken. Begegnen wir ihnen mit Offenheit und Neugier, können sie unser Leben bereichern, so wie es rein technische Neuerungen tun, die wir in unser Leben zu integrieren gelernt haben. Vielleicht hilft zumindest der gedankliche Transfer: Vieles, was die technische Moderne an Neuerungen hervorgebracht hat, war früheren Generationen ebenfalls fremd und hat Ängste ausgelöst. Die Gewöhnung bis hin zur Selbstverständlichkeit findet heute in immer kürzeren Zyklen statt. Warum sollte es in einer zeitlich und räumlich immer näher zusammenrückenden Welt nicht mit den anderen, den „neuen" Menschen, die neu in unser Lebensumfeld treten, nicht genauso möglich werden?

Nochmals: Die beschriebenen Veränderungen erfordern das politische Handeln auf den unterschiedlichsten Ebenen. Über jeden einzelnen dabei gemachten Vorschlag muß ernsthaft gestritten und im Parlament hart verhandelt werden. Dazu ist der Streit zwischen den demokratischen Parteien da. Aber ich würde mir wünschen, daß wir daneben zu einem Grundkonsens zurückfänden, der wirklich für alle demokratischen Parteien gelten sollte: Die gemeinsame Zielvorstellung, daß wir eine offene, tolerante, kulturell und religiös vielgestaltige Gesellschaft wollen, die sich weder nach innen noch nach außen abschottet. Wenn unsere heutige Veranstaltung etwas in diese Richtung bewirkt, dann hat sie schon mehr als ihren Zweck erfüllt.

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© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Dezember 1999

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