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[Seite der Druckausg.: 45]

Karl-Josef Kuschel
Religionsdialog – die Alternative zum „Kampf der Kulturen"


Die Religionen der Welt sind in einen tiefgreifenden Transformationsprozeß verwickelt. Zwar konnten alle Thesen vom Absterben der Religion im Zuge fortschreitender Säkularisierung faktisch falsifiziert werden. Hunderte von Millionen von Menschen auf diesem Globus leben nach wie vor aus den spirituellen und weisheitlichen Ressourcen ihrer religiösen Traditionen, sind in ihren Herzen und Gewissen geprägt von den Jahrtausende eingeschliffenen religiösen Normen und Werten. Und selbst in Westeuropa, dem noch am wenigsten äußerlich religiösen Teil dieser Erde, sprechen Soziologen nicht vom Religionsverlust, sondern von einer Transformation und einem Funktionswechsel der Religion. Zugleich aber ist in allen Religionen ein Anwachsen extremistischen Fanatismus und terroristischer Gewalt zu beobachten. Das hat nicht notwendigerweise innerreligiöse Gründe. Religionen werden oft genug nur als Tarnmantel für kalte Mordsucht mißbraucht. In jedem Fall aber ist ein gewaltbereiter fundamentalistischer Terrorismus gleichzeitig ein Signal für politische und gesellschaftliche Verwerfungen; ist oft genug nur der Transmissionsriemen, um soziale und politische Probleme einer Gesellschaft ins Bewußtsein der Öffentlichkeit zu bringen. Ein Unruhe- und Destabilisierungsfaktor aber sind solche religiösen Gruppen vor allem im Raum prophetischer Religionen, die von Judentum, Christentum und Islam mitbestimmt werden. Und wohin solche Gruppen bestimmte Länder treiben, ist nicht prognostizierbar. Wer wollte heute mit Sicherheit vorhersagen, wie die Türkei oder das Algerien des Jahres 2020 aussehen?

Was die Situation in Westeuropa angeht, so ist Deutschland gegenwärtig ein gutes Demonstrationsbeispiel dafür, daß viele Länder einen dritten Pluralisierungsschub durchmachen. Nach dem ersten, der im 16. Jahrhundert die mittelalterliche kirchliche Einheit aufsprengte und den man einen konfessionellen, innerchristlichen Pluralismus nennen kann, hatte sich im 18. Jahrhundert ein zweiter Pluralisierungsschub herausgebildet: die Sprengung der immerhin noch gegebenen „christlichen" Einheit und die Aufspaltung der Gesellschaft in einen christlich-kirchlich gebundenen und in einen säkular-humanistisch ausgerichteten Teil. Das, was wir die geistige

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Physiognomie der Moderne nennen: Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit, ist ja längst Kennzeichen unserer Lebenswelt geworden. Wir im 20. Jahrhundert sind Erben dieser doppelten Pluralisierung.

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts aber zeichnet sich ein dritter Pluralisierungsschub in Westeuropa ab, der in vielen Gesellschaften ein neues Faktum ist. Man kann ihn den Pluralismus der Religionen nennen. Mittlerweile leben 2,7 Millionen Muslime in Deutschland, in Europa 10–12 Millionen. Hochrechnungen besagen, daß es im Jahre 2020 40 Millionen Muslime in Europa sein werden. Die Präsenz einer so starken religiösen Minderheit aber hat es in Deutschland geschichtlich noch nie gegeben. Selbst das Judentum, in diesem Jahrhundert in Deutschland bisher die größte religiöse und kulturelle Minderheit, hat in den 30er Jahren nur 600–800.000 Menschen umfaßt. Noch nie also gab es eine religiöse Minderheit diesen Ausmaßes; noch nie war diese Religion der Islam. Das stellt alle europäischen Gesellschaften vor neue politische Herausforderungen. Der religiöse Pluralismus ist eine Beunruhigung des bisherigen konfessionellen wie säkular-humanistischen Status quo. Im Klartext: Die schiedlich-friedlich hingenommene Aufteilung der Gesellschaft in einen kirchlichen und einen säkularen Bereich wird durch einen neuen religiösen Faktor durcheinandergebracht. Er stellt sowohl Vertreter des etablierten Christentums wie des etablierten Säkularismus in Frage. Anders gesagt: Die Pluralisierungserfahrung geht einher mit der Erfahrung von Fragmentierung: eine Erfahrung mentaler Abschottung, der Verweigerung des Dialogs, der Selbstghettoisierung und der kulturellen Abwehr. Der dritte Pluralisierungsschub ist alles andere als gesellschaftlich gesichert.

Geistig sind nämlich die wenigsten Menschen in Europa auf diese Situation vorbereitet. Die Kirchen einschließlich ihrer Theologen tragen dabei eine schwere Mitschuld. Unter Christen ist die Ignoranz über Grundlagen etwa der jüdischen oder islamischen Theologie-, Philosophie- und Kulturgeschichte unbeschreiblich. Bei Massen von Muslimen ist die Situation nicht anders. Die theologischen Fakultäten, zuständig für die Pfarrer- und Religionslehrer-Ausbildung, tragen im Bereich des Christentums schwere Mitschuld. Kein Theologie-Student und keine Theologie-Studentin im deutsch-sprachigen Raum wird im Rahmen ihres üblichen Pflichtstundenplans in umfassender Weise mit den Weltreligionen konfrontiert oder gar zu interreligiöser Dialogkompetenz ausgebildet. Ausnahmen bestätigen die Regel. Ein vertieftes Eindringen in die großen Religionen der Welt ist in den mei-

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sten Fällen Privatsache. Man glaube, Christ sein zu können oder als Pfarrer und Religionslehrer Menschen auf das 21. Jahrhundert vorbereiten zu können, ohne sich mit den großen Religionen der Welt als theologischer Herausforderung ernsthaft auseinandergesetzt zu haben.

Kein Wunder deshalb, daß der religiöse Pluralismus von vielen Zeitgenossen nicht als Bereicherung, sondern als Bedrohung erlebt wird. Er ist ein Unruhepotential. Wenn in einer Stadt eine Moschee gebaut werden soll, gehen oft genug die politischen Wogen hoch. Wenn in einem Stadtviertel der Ruf eines Muezzin erschallen soll, gehen konservative christliche Fundamentalisten Arm in Arm mit säkularen Religionsverächtern auf die Barrikaden. Wenn eine in Deutschland ausgebildete und in ihren Leistungen und Fähigkeiten tadellose muslimische Referendarin in den deutschen Schuldienst übernommen werden soll, aber ein Kopftuch tragen will, geht eine Welle von Empörung durch einen deutschen Landtag quer durch alle Parteien. Seit Jahren mache ich immer wieder dieselben Erfahrungen: An der „Basis" unserer Gemeinden triumphieren die Stereotypen politischer und kultureller Verängstigung und Verachtung – gerade im Blick auf den Islam. Sie ersticken die Bereitschaft von Menschen, tiefer in die geistige Substanz des Islam einzudringen. „Man" weiß ja: „der" Islam ist frauenfeindlich, gewalttätig, freiheitsbedrohend und mit modernen Menschenrechten nicht vereinbar. Eifernde Publizisten wider den Islam von heute gerieren sich dabei oft genug wie eifernde Pfaffen wider den Islam von gestern. Viele befürchten von daher auf der nationalen Ebene bereits das Scheitern der multikulturellen Gesellschaften, auf der internationalen Ebene sogar einen „Clash of Civilizations", einen „Kampf der Kulturen", in dem man ein mögliches Szenario eines bewaffneten Weltkonflikts im 3. Jahrtausend erblickt.

Kein Wunder deshalb, daß die allzu pauschalen und empirisch unabgesicherten Analysen des Direktors des Instituts für Strategische Studien an der Harvard-University Samuel P. Huntington in den letzten fünf Jahren ein solches Aufsehen erregten. Schon sein Essay „Clash of Civilizations?" von 1993 (jetzt erweitert in einem Buch unter dem Titel „Kampf der Kulturen" 1996) ist nicht in erster Linie deshalb bemerkenswert, weil Huntington eine überzeugende Beschreibung der weltpolitischen Lage zu Beginn des 21. Jahrhundert gegeben hätte, sondern wegen der unerhörten internationelen Resonanz. Offensichtlich hatte Huntington vor allem im Westen Ängste angesprochen, die sich aus der Unübersichtlichkeit der gegenwärtigen Weltlage ergeben: Nach Ende des Ost-West-Konfliktes, an den man sich

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gewöhnt hatte und der auf Dauer eine gewisse „Berechenbarkeit" zeigte, war eine instabile Weltordnung getreten, die vor allen Dingen durch das Anwachsen des islamischen Einflusses auf die Weltpolitik gegeben war. Huntingtons negatives Stereotyp ist denn auch ein angeblich stets gewaltbereiter Islam, der in seinen Analysen mit abenteuerlich-selektiven Einzelzitaten wieder einmal zu einer Welteroberungsideologie hochdämonisiert wird.

In zwei Punkten freilich verdienen Huntingtons Thesen für die weltreligiöse Analyse Beachtung:

(1) Im Gegensatz zu allen oberflächlichen Politiktheorien, welche den Einfluß der Weltreligionen aus ideologischer religionskritischer Voreingenommenheit in der Regel ausblenden, schreibt dieser Politologe den Religionen eine fundamentale Rolle in der Weltpolitik zu: Schlüsselzitat: „In der modernen Welt ist die Religion eine zentrale, wirklich die zentrale Kraft, die die Menschen motiviert und mobilisiert ... Was letztlich zählt für Menschen, ist nicht politische Ideologie oder ökonomisches Interesse. Glaubensüberzeugung und Familie, Blut und Glaubenslehre sind das, womit sich Menschen identifizieren und wofür die kämpfen und sterben."

(2) Auch Huntington geht davon aus: Trotz aller ökonomischen Globalisierung wachsen die Religionen gerade nicht zu einer einzigen Einheitsreligion im Dienste einer menschlichen Einheitsgesellschaft zusammen. Vielmehr ist realistisch davon auszugehen, daß die Religionen sich ausschließende Wahrheitsansprüche gegeneinander behalten: „Eine Person kann halb-französisch und halb-arabisch und gleichzeitig Bürger zweier Ländern sein. Es ist aber schwierig, halb-katholisch und halb-muslimisch zu sein." Daraus folgt: Bei allen Vereinheitlichungsprozessen innerhalb der einen Weltgesellschaft: etwa im Bereich von Mode, Musik, Elektronik und Konsumgewohnheiten; im Bereich der Religionen gibt es bleibende Resistenz gegen Homogenisierungen. Mag es auf der Ebene des Geschmacks in der einen Weltgesellschaft zu immer mehr Austauschbarkeiten kommen (exakt dasselbe McDonalds-Produkt von Reikjavik bis Tokio, von Spitzbergen bis Kapstadt), eine McDonaldisierung der Weltreligionen wird nicht stattfinden. Jahrtausende gewachsene und bewährte Zivilisationen oder Kulturen behalten gerade wegen der religiösen und ethischen Tiefendimension ihre Identität. Sie sind resistenter als andere Wirklichkeiten gegen Austauschbarkeit.

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Diese Überlegungen zu den Weltreligionen als die Weltpolitik mitbestimmenden Grundfaktoren verdienen ernstgenommen zu werden, zumal

(1) es in politischer Theorie und Praxis zu verhängnisvollen Kurzschlüssen und Fehlentscheidungen bereits gekommen ist. Der eklatanteste Fall des Versagens globalpolitischer Analysen in den letzten 20 Jahren ist der der iranischen Revolution von 1979 und der hierdurch aller Welt sichtbar gewordenen Fähigkeit des Islam, sich als Religion zu revitalisieren und als Faktor der Weltpolitik eine neue Rolle zu spielen, und zumal

(2) Huntington selber der Meinung ist, daß es auf Dauer nicht reicht, daß der Westen nur auf ökonomische und militärische Stärke setzt. Huntingtons Analysen gipfeln geradezu in der für einen Politologen ungewöhnlichen Forderung, „ein tieferes Verständnis der grundlegenden religiösen und philosophischen Annahmen zu entwickeln, die den anderen Zivilisationen zugrundeliegen".

Damit ist den Religionen selber eine wichtige Aufgabe gestellt, eine für Weltökonomie und Weltpolitik heute unverzichtbare Aufgabe, ist doch die Kompetenzgewinnung in Sachen Kultur- und Religionsdialog offensichtlich von größter weltfriedenspolitischer Bedeutung. Sollte die Analyse von Samuel Huntington auch nur partiell stimmen, so ist darauf zumindestens die eine Folgerung zu ziehen: Wenn der globale Kulturkampf nicht tatsächlich zu einem Krieg der Zivilisationen führen soll, ist ein globaler Kultur- und Religionsdialog unterläßlich. Insbesondere den Repräsentanten der großen religiösen Traditionen der Menschheit wächst bei diesen Prozessen eine entscheidende Rolle zu. Es wird keinen Weltfrieden an den Religionen vorbei geben. Und weil es keinen Weltfrieden an den Religionen vorbei geben wird, erwächst umgekehrt gerade den Religionsrepräsentanten die Verantwortung, zu mehr Integration als zur Spaltung der Menschheit beizutragen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Dezember 1999

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