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"Die Neue Zeit" - Einleitung von Till Schelz-Brandenburg "Der Schluá des Artikels: Das Elsaá in der Geschichte' von K. Kautsky muá zurckgestellt werden." Mit dieser redaktionellen Mitteilung endete nicht nur der 35. Jahrgang der "Neuen Zeit" mit der Ausgabe vom 28. September 1917, sondern zugleich auch die redaktionelle und schriftstellerische Mitarbeit Karl Kautskys, des Initiators, Mitgrnders und Chefredakteurs der Zeitschrift - und damit auch ihre Bedeutung als wissenschaftliches und theoretisches Hauptorgan des internationalen Sozialismus. Weit mehr als die schnell zu Ritualen erstarrten Kongresse der II. Internationale war die "Neue Zeit" tats„chliche Manifestation dieses Zusammenschlusses der europ„ischen Arbeiterparteien. Es gibt keinen zeitgen”ssischen sozialistischen Intellektuellen, der nicht Autor bei Kautsky gewesen w„re: Ob Belfort Bax, Ramsay McDonald oder Eleanor Marx-Aveling, ob Georgi Plechanov, Rjazanov oder Trotzki, ob Victor Adler oder Friedrich Adler, ob Henriette Roland-Holst oder Emil Vandervelde, ob Jules Guesde, Paul Lafargue oder Jean JaurŠs, ob Rosa Luxemburg oder Stanislaw Mendelson, Antonio Labriola oder Oda Olberg, ob Pablo Iglesias oder Hjalmar Branting, und schlieálich Friedrich Engels, Franz Mehring, Eduard Bernstein oder Rudolf Hilferding - sie alle schrieben fr die "Neue Zeit", die sp„testens nach dem Fall des Sozialistengesetzes zur Pflichtlektre der europ„ischen sozialistischen Intelligenz wurde. Nur einer, der dafr aber der geschichtsm„chtigste wurde, fehlt im Autorenverzeichnis der Zeitschrift: Vladimir Lenin - doch in seinem museal bewahrten Arbeitszimmer findet sich selbstverst„ndlich die komplette Ausgabe des Blattes. Dieser Erfolg war weder ein verlegerischer (die Neue Zeit hatte nie eine h”here Auflage als rund 10.000 Exemplare) noch absehbar: Kurz nach ihrer Grndung 1883 raisonnierte der Verleger Johann Heinrich Wilhelm Dietz permanent ber die M”glichkeit, ja Notwendigkeit, die Zeitschrift wieder einzustellen, da sie "defizittert", wobei er in seinen Aufstellungen fr das Minus auch immer die Druckkosten fr den Drucker J.H.W. Dietz einrechnete. Auch wenn die Auflage unter dem Sozialistengesetz nie die Marke von 3.000 Exemplaren berschritten haben drfte, so war doch ab 1885 von einer Einstellung keine Rede mehr, der Verleger blieb dem Projekt treu. Das hatte nicht nur mit der Erh”hung der Abozahlen von ca. 2.000 auf rund 2.500 zu tun, sondern auch mit der endlich erreichten Mitarbeit des Doyens des Sozialismus, Friedrich Engels, sowie der Kl„rung der redaktionellen Verantwortlichkeit: Die lag bis dahin recht eindeutig bei Wilhelm Liebknecht, zusammen mit dem Verleger J.H.W. Dietz, M„zen Heinrich Braun und Kautsky Grnder der "Neuen Zeit". Wiederholt drckte n„mlich der "Soldat" Beitr„ge von Autoren durch, die zuvor von Kautsky abgelehnt worden waren, und gef„hrdete damit ernstlich dessen Grundidee fr dieses Periodikum: Eine Zeitschrift im Deutschen Reich des Sozialistengesetzes zu grnden, die trotzdem nicht "farblos", sondern marxistisch ist, vor dem Zugriff des Bismarck-Staats geschtzt durch die Wissenschaftlichkeit seiner Thematik. Und tats„chlich ging diese Spekulation auf: Die "Neue Zeit" wurde nie verboten - und sie wurde "marxistisch", n„mlich im ganz unmittelbaren Sinn schon unter dem Sozialistengesetz Forum fr Erst- und Wiederver”ffentlichungen von Marx- und Engels-Schriften. Der schlieáliche Fall des Sozialistengesetzes wurde von Verlag und Redaktion der Zeitschrift zu einschneidenden Žnderungen genutzt: Mit dem Oktober 1890 wurde von monatlicher auf w”chentliche Erscheinungsweise umgestellt und zugleich mit einer neuen Jahrgangsz„hlung begonnen. Ironischerweise gab es erst nach dem Auslaufen des Sozialistengesetzes den einzigen Fall, in dem zumindest versucht wurde, eine Ausgabe der Zeitschrift zu verhindern. Allerdings waren dafr nicht Bismarcks "Praetorianer" verantwortlich, sondern der Verleger Dietz selber: Nach Beratung mit dem Parteivorstand schickte er ein Telegramm aus Berlin, "die Versendung der Neuen Zeit zu sistiren und etwa abgeschickte Ballen zurckzubeordern." Doch es war schon zu sp„t, die brisante Ausgabe zu stoppen - und so ging als Ouvertre der schlieálich im Erfurter Programm endenden Programmdiskussion der Paukenschlag der Marxschen "Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei" - eine scharfe, teilweise sarkastische Kritik am Gothaer Vereinigungs-Programm von 1875 - mit einer kurzen Einleitung von Friedrich Engels als Aufmacher von Nr. 18 des IX. Jahrgangs der "Neuen Zeit" in die Welt. Fr Bebel, der fr zwei Monate jeglichen Kontakt zu Engels unterbrach, war das "ein starkes Stck, daá von dem geistigen Haupt der Partei das fnfzehn Jahre alte Programm derselben von A bis Z als Dummheit und Verlogenheit dargestellt wird." Natrlich waren nicht alle der insgesamt 53 Titel von Marx und Engels, die in der "Neuen Zeit" ver”ffentlicht wurden, derartig spektakul„r. Dennoch errang sie auch als Publikations-Forum von Schriften der geistigen V„ter des Sozialismus ihre internationale Bedeutung. Und so brachte das Jahr 1885 nicht nur die ”konomische, sondern mit der erstmaligen Ver”ffentlichung eines Engels-, dann eines Marx-Textes auch theoretische Konsolidierung - und der Redakteur Kautsky hatte sich damit konzeptionell gegen Wilhelm Liebknecht durchgesetzt: Dessen Wunsch n„mlich, Heinrich Braun, Mitgrnder des Blattes und M„zen der Sozialdemokratie, in die Redaktion zu holen, stieá auf den entschiedenen Widerstand des Verlegers Dietz, der Braun fr "praktisches Mitthun" g„nzlich ungeeignet hielt. Damit endete der Grnderkrach der Zeitschrift - fr die n„chsten 32 Jahre blieben ihre Existenz und die Position ihres Redakteurs Kautsky unangetastet. Fast ebenso stark wie Kautsky pr„gte auch der mit Abstand produktivste Mitarbeiter des theoretischen Organs, Franz Mehring, die "Neue Zeit". Von Mitte 1891 bis 1912 schrieb er - von wenigen Ausnahmen abgesehen - unter dem Sternzeichen des Schtzen Woche fr Woche den Leitartikel, der sich in den meisten F„llen mit innenpolitischen Themen besch„ftigte. Daneben war Mehring auch zust„ndig fr Kunst und Theater und nicht zuletzt fr die Geschichte des Sozialismus. Fester freier Mitarbeiter wie er und dazu engster Freund von Kautsky war zun„chst Eduard Bernstein. Sein haupts„chliches Metier war die Auáenpolitik sowie ™konomie und Philosophie. Dabei war Bernstein bemht, den Schematismus des eigentlichen Auáenpolitikers der deutschen Sozialdemokratie, Wilhelm Liebknecht, zurckzudr„ngen, der etwa s„mtliche Aufstandsbewegungen in Europa und Kleinasien ausschlieálich danach beurteilte, ob sie dem zarisistischen Russland ntzten oder nicht. So waren fr ihn sowohl der kretische Aufstand 1896 als auch der armenische Werke des russischen Geheimdiensts, weil sie das Osmanische Reich als W„chter am Bosporus schw„chten. Im Gegensatz zu Engels hatte Bernstein w„hrend des Sozialistengesetzes nicht eine Zeile fr die "Neue Zeit" geschrieben. Doch nach dem Ende des Sozialistengesetzes und angesichts des bis 1901 trotzdem immer wieder verl„ngerten Haftbefehls des Deutschen Reichs gegen den ehemaligen Redakteur des "Sozialdemokrat" sah er sich schlagartig vom Zentrum der deutschen Bewegung an dessen Peripherie im Londoner Exil gedr„ngt und nahm dankbar das Angebot Kautskys und Dietz' zur st„ndigen Mitarbeiterschaft an. Doch als er dann endlich 1901 nach Deutschland zurckkehren konnte, da schrieb er schon fr die innerparteiliche Konkurrenz, die "Sozialistischen Monatshefte". Denn inzwischen war nicht nur in der "Neuen Zeit", sondern in zahlreichen Parteiorganen die als "Revisionismus-Debatte" bekannt gewordene Grundsatzdiskussion ausgebrochen, die von Bernsteins Artikelserie "Probleme des Sozialismus" ausging und dem dort in einer Polemik gegen den englischen Sozialisten Ernest Belfort Bax formulierten Bekenntnis: "Ich gestehe es offen, ich habe fr das, was man gemeinhin unter Endziel des Sozialismus' versteht, auáerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles." Das war Fanal und Schlagwort fr "den" Revisionismus, das auch Bernstein selber mit Erl„uterungen und Relativierungen nicht mehr aus der Welt schaffen konnte. Was nach ausfhrlichem Schlagabtausch in der "Neuen Zeit", im "Vorw„rts" und in Bchern brig blieb, war die offizielle Rettung des programmatischen revolution„ren Prinzips - und das theoretische Organ wurde mit Oktober 1901 "Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie". Seit 1908 wurden zudem bis 1915 insgesamt 21 "Erg„nzungshefte zur Neuen Zeit" publiziert, zun„chst bis Nr. 9 im Verlag Paul Singer, dann im Verlag von J.H.W. Dietz, als deren bekanntestes wohl das als Nr. 20 im Oktober 1914 erschienene "Rasse und Judentum" von Kautsky gelten kann. Die Zeitschrift blieb Publikationsforum des europ„ischen Sozialismus, jetzt in klarer Abgrenzung zu den Revisionisten aller Couleur, aber auch zunehmend ablehnend gegenber den Konzepten der auf die neuen Entwicklungen des Kapitalismus zum Imperialismus reagierenden Linken. Erst schied Rosa Luxemburg aus dem Mitarbeiterstab des Blattes aus, dann auch Franz Mehring. Bernsteins Prophezeihung zu Beginn der Revisionismus-Debatte, Kautsky werde seine jetzigen Freunde bald zu Gegnern haben, hatte sich erfllt. Der Redakteur fhlte sich jetzt als Vertreter eines Marxismus, den er gegen rechts und links verteidigte - zwischen Baden, wo es im Juli 1910 eine Zustimmung zum Landesetat durch die sozialdemokratische Fraktion gab, und Luxemburg, so Kautsky in einem grunds„tzlichen Artikel, liege Trier, die Geburtsstadt von Karl Marx, und diese geographischen Gegebenheiten seien symbolisch fr die Lage der deutschen Sozialdemokratie. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs war diese Position unhaltbar geworden. Der fhrende Theoretiker der II. Internationale zeigte sich ihrem schlagartigen Zusammenbruch gegenber ratlos. Als Experte zu den Fraktionsdebatten vor der Abstimmung ber die Kriegskredite hinzugezogen, vertrat er Teilnehmern zufolge von den drei m”glichen Positionen - Zustimmung, Ablehnung, Enthaltung - alle drei und entschuldigte seine Unklarheit sp„ter damit, die besten Argumente fielen ihm immer erst nach der Debatte ein. Den Artikel ber Ultraimperialismus, demzufolge auch der Imperialismus noch ”konomischen Spielraum fr einen friedlichen Ausgleich der weltweiten Gegens„tze biete, muáte er nach dem 3. August 1914 hastig umschreiben. Unbeugsam aber war seine Haltung gegenber dem ausbrechenden Chauvinismus in der Partei, der auch die intellektuelle Gallionsfigur des rechten Flgels, Eduard Bernstein, abstieá, so dass es zur Wiedervereinigung der einstigen Dioskuren des Marxismus in der Zeitschrift kam. Doch die Zeit der theoretischen Er”rterungen war vorbei, nicht nur der Papiermangel reduzierte die "Neue Zeit". Nachdem Kautsky sich - zusammen mit Bernstein und dem stellvertretenden Parteivorsitzenden Hugo Haase - im ersten ”ffentlichen Manifest - "Das Gebot der Stunde" - gegen die expansiven Kriegsziele der von einem Groáteil der Fhrungen der Sozialdemokratie und Freien Gewerkschaften gesttzten Reichsregierung gestellt hatte und schlieálich der gerade gegrndeten USP beitrat, wurde er kurzerhand aus der Redaktion entfernt. Ein kurzfristiger Versuch des USP-Abgeordneten und Verlegers Wilhelm Bock aus Gotha, unter Kautskys Leitung eine "Internationale Neue Zeit" zu grnden, scheiterte Ende 1917 trotz Intervention bei Reichskanzler Hertling, die wissenschaftlichen Kreise des neutralen Auslandes wrden "die Lahmlegung der wissenschaftlichen Kraft Kautskys" nicht verstehen, an der Ablehnung durch die Milit„rbeh”rden. Das Projekt w„re wohl auch ein unkalkulierbares wirtschaftliches Risiko gewesen, obwohl aus den Niederlanden bereits im Oktober 1917 nach Aufrufen in der dortigen sozialdemokratischen Presse eine Zusage ber 112 Abonnements vorlag. Die Redaktion wurde vom Parteivorstand Heinrich Cunow bertragen, einem Mitglied jener Gruppe, die die Burgfriedenspolitik der deutschen Mehrheitssozialdemokratie "marxistisch" zu rechtfertigen suchten, indem sie erkl„rten, Deutschland vertrete in diesem Krieg als Land mit der entwickelsten Arbeiterbewegung das Proletariat, das von allen L„ndern gegen den Bourgeois Groábritannien und seinen Knttel Russland untersttzt werden msse. Doch Theorie, insbesondere aus dieser Ecke, hatte keine Konjunktur mehr, Cunow kein Renommee als Theoretiker. Im programmatischen Leitartikel vom 5. Oktober 1917 wird die Absetzung Kautskys (und Emanuel Wurms) nicht nur politisch mit deren Mitgliedschaft in der USP begrndet, sondern auch theoretisch: Die Redaktion wolle sich freihalten von "jener vulg„rmarxistischen Scholastik, die den Buchstaben ber den Geist [ ] stellt und in dem Festhalten am Marxschen Aussprchen das Kennzeichen des wahren Marxismus sieht." So schleppte sich das Blatt noch fast sechs Jahre dahin, bis es 1923 eingestellt und durch die "Gesellschaft" Rudolf Hilferdings ersetzt wurde. Trotz ihres finalen Siechtums aber war die "Neue Zeit" als intellektuelles Forum der europ„ischen sozialistischen Intelligenz vor dem Ersten Weltkrieg ein singul„res Projekt, das keine vergleichbaren Vorg„nger hatte und nicht entfernt einen solchen Nachfolger fand. Wohl auch deshalb kam es 1971 - 1976 zu einem vom Verlag J.H.W. Dietz 1977 bernommenen vollst„ndigen Nachdruck beim Verlag Detlev Auvermann, der auch den drei noch von Emanuel Wurm besorgten Registerb„nden, die bis 1912 reichen, einen vierten fr die letzten Jahrg„nge hinzufgte. Till Schelz-Brandenburg Literaturauswahl: Emig, Brigitte, Max Schwarz, Rdiger Zimmermann, Literatur fr eine neue Wirklichkeit. Bibliographie und Geschichte des Verlags J.H.W. Dietz Nachf. 1881 bis 1981 und der Verlage Buchhandlung Vorw„rts, Volksbuchhandlung Hottingen/Zrich, German Cooperative Print & Publ. Co., London, Berliner Arbeiterbibliothek, Arbeiterjugendverlag, Verlagsgemeinschaft "Freiheit", Der Bcherkreis, Berlin, Bonn 1981. Fricke, Dieter, Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1896-1917 in zwei B„nden, Berlin (DDR) 1987. - - "Zur Rckkehr Eduard Bernsteins in das Deutsche Reich 1901", in: Zeitschrift fr Geschichtswissenschaft (ZfG), Jg. XXII, 1974, S. 1341-1347. Graf, Angela, J.H.W. Dietz 1843-1922, Verleger der Sozialdemokratie, Bonn 1998. Rojahn, Jrgen, "Karl Kautsky im Ersten Weltkrieg", in: Jrgen Rojahn u.a. (Hrsg.), Marxismus und Demokratie. Karl Kautskys Bedeutung in der sozialistischen Arbeiterbewegung, Frankfurt/Main, New York 1992, S. 199-219. Schelz-Brandenburg, Till, Eduard Bernstein und Karl Kautsky. Entwicklung und Wandlung des sozialdemokratischen Parteimarxismus im Spiegel ihrer Korrespondenz 1879-1932, K”ln, Weimar 1992. - - "Die Neue Zeit als Publikationsforum fr Schriften von Marx und Engels - eine Skizze", in: Eva Sch”ck-Quinteros u.a. (Hrsg.), Brgerliche Gesellschaft - Idee und Wirklichkeit. Festschrift fr Manfred Hahn, Berlin 2004, S. 95-105.
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