FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO


Hongkong / Gunter Schubert - [Electronic ed.] - Bonn, 2001 - 22 S. = 78 KB, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




[Seite der Druckausg.:1]



  • Nach vier Jahren als chinesische Sonderverwaltungsregion hat sich die Autonomie Hongkongs relativ gut bewährt. Die politischen Institutionen sind stabil, die Presse- und Meinungsfreiheit gewährleistet, und die Unabhängigkeit der Justiz ist weiter gegeben. Letztere wurde jedoch durch die Verfassungskrise um das Aufenthaltsrecht chinesischer Staatsbürger in Hongkong beschädigt.

  • Das politische System krankt an einer wechselseitigen Paralysierung von Exekutive und Legislative. Obwohl das Parlament kaum gesetzgebende Kompetenzen hat, kann es die Regierungsarbeit effektiv blockieren. Diese Blockade könnte nur durch weitreichende Reformen aufgehoben werden, die jedoch angesichts der Angst Beijings vor einer nicht kontrollierbaren Demokratisierung Hongkongs wenig wahrscheinlich sind. Auf absehbare Zeit wird es kaum zur Einführung umfassender Direktwahlen des Legislative Council und des Chief Secretary kommen.

  • Obgleich Hongkong die Folgen der Asienkrise relativ gut überstanden hat, besteht weiter die Gefahr einer anhaltenden Deflation. Außerdem steht die Regierung vor großen strukturellen Problemen. In den nächsten Jahren muß der Übergang in eine wissensbasierte Industriegesellschaft vollzogen werden, um die angestrebte Rolle eines internationalen Finanz- und Dienstleistungszentrums spielen zu können. Der WTO-Beitritt der VR China wird hier positiv wirken.

  • Gefahr droht der Sonderverwaltungsregion von der sozialen Seite. Kaum beachtet von der Öffentlichkeit, braut sich in Hongkong ein Konfliktpotential zusammen, das sich vor allem aus der rasanten Verschlechterung der Lebenssituation der unteren Einkommensschichten speist. Auch die Zuwanderung legaler und illegaler Festlandchinesen nach Hongkong wird in den nächsten Jahren zunehmend Probleme aufwerfen, denen die Regierung nur mit einer entschiedenen Sozialpolitik begegnen kann.


[Seite der Druckausg.: 2]

Vor nunmehr vier Jahren - am 1. Juli 1997 - wurde die ehemalige britische Kronkolonie Hongkong der Oberhoheit der VR China unterstellt und als Sonderverwaltungsregion (SVR) in deren Territorium integriert. Entsprechend des 1990 im Zuge der Übergabevorbereitungen unter Mitwirkung Beijings verabschiedeten Basic Law, einer Art „Grundgesetz„ für die neue SVR, soll das kapitalistische System Hongkongs mindestens 50 Jahre lang unangetastet bleiben. Ferner verspricht das Basic Law Hongkong einen „hohen Grad an Autonomie„ von der Zentralregierung in Beijing. So regelt die SVR ihre internen Angelegenheiten im wesentlichen selbst und verfügt dazu über ein eigenes Regierungssystem (inklusive einer unabhängigen Judikative), an dessen Spitze ein Chief Secretary steht. Zudem kann die SVR Hongkong eigenständiges Mitglied in internationalen Organisationen sein und internationale Verträge unterzeichnen. Lediglich die außenpolitische Vertretung und die militärische Verteidigung obliegen ausschließlich der VR China. Diese gestaltet ihre Beziehungen zu Hongkong nach Maßgabe des Modells „ein Land, zwei Systeme„, was der chinesischen Regierung eine sehr weitgehende Enthaltung direkter Einflussnahme auf die administrativen Belange Hongkongs auferlegt.

Ungeachtet dieser „Blaupause„ muss man sich allerdings die Frage stellen, ob das historisch einmalige Experiment funktionieren kann, ein dem Anspruch nach sozialistisch geprägtes Wirtschaftssystem unter der Herrschaft eines Ein-Parteienregimes mit einer kapitalistisch und rechtsstaatlich organisierten Enklave koexistieren zu lassen. Zu groß erscheint der Widerspruch zwischen einem trotz Reformen noch immer starken ökonomischen Dirigismus und dem politischen Autoritarismus in der VR China einerseits und dem wirtschaftlichen laissez-faire, den politischen Freiheiten und der traditionellen Herrschaft des Rechts in Hongkong andererseits. Am Ende, so die Prognose mancher Skeptiker, wird der Liberalismus Hongkongs dem Illiberalismus des kommunistischen Regimes der VR China zum Opfer fallen müssen. Optimisten wiederum glauben daran, dass sich die liberalen „Zugewinne„der VR China durch den Erwerb Hongkongs positiv auf den dortigen Reformprozess auswirken könnten. Demnach werde Hongkong nicht nur zur chinesischen „Schule des Kapitalismus„, sondern auch als Verstärker jener Kräfte in der VR China wirken, die ein funktionierendes Rechtssystem aufbauen und mehr politischen Pluralismus schaffen wollen.

Die Folgen der Asienkrise 1997/98, die Hongkong relativ stark in Mitleidenschaft zog, haben in diesen Punkten eine Klärungen gebracht. Sie stellte die Leistungsfähigkeit des wirtschaftlichen und politischen Systems der neuen Sonderverwaltungsregion auf eine erste harte Probe und erzeugte einen in Hongkong bis dahin unbekannten Problemdruck. Denn die Frage stand im Raum, ob die bis dato international geteilte Überzeugung von der Stabilität der freien Marktwirtschaft Hongkongs den handover und die Krise überleben würde. Heute ist zwar zu sagen, dass die unmittelbaren Folgewirkun-

[Seite der Druckausg.:3]

gen der Krise relativ erfolgreich bewältigt worden sind, nicht zuletzt mit Unterstützung der VR China; die Hongkonger Wirtschaft insgesamt hat jedoch bisher nicht zu ihrer alten Stärke zurückgefunden und wird sogar vom Gespenst der Deflation gejagt. Auch ist für manchen Anhänger des wirtschaftlichen laissez faire ein fahler Beigeschmack geblieben, denn ohne heftige Interventionen der SVR-Regierung hätte eine Abwertung des Hongkong-Dollar nicht verhindert werden können. Damit aber ist dem Ruf Hongkongs, ein ostasiatischer „Minimalstaat„ zu sein, ein Ende gesetzt worden.

Abgesehen davon hat die Asienkrise einige tiefgreifende Strukturprobleme der Wirtschaft Hongkongs schonungslos offengelegt, denen sich die Regierung der SVR in den nächsten Jahren stellen muss. Dies gilt vor allem für die Notwendigkeit des forcierten Aufbaus von international konkurrenzfähigen Hochtechnologie-Industrien und der weiteren Entwicklung des Service-Sektors. Nur so wird Hongkong die hohen Wachstumsraten der Vergangenheit halten und im Standortwettbewerb um die Position des führenden Finanz- und Dienstleistungszentrums in der Region gegen Shanghai, Kanton und Singapur bestehen können. Auch muss man zukünftig stärker in den Aufbau neuer sozialer Sicherungssysteme investieren, denn die materielle Armut in Folge von Arbeitslosigkeit und chronischer Unterbeschäftigung nimmt in Hongkong ebenso rasch zu wie das Auseinanderklaffen der Einkommensschere. Dabei handelt es sich um Probleme, die sich zukünftig durch immer anspruchsvollere Qualifikationsprofile auf dem heimischen Arbeitsmarkt, eine durch den Beitritt der VR China zur WTO bedingte weitere Reduzierung des industriellen Sektors sowie die zunehmende (legale und illegale) Zuwanderung von Arbeitssuchenden vom chinesischen Festland nach Hongkong verschärfen werden.

Anlass zur Sorge gibt auch der derzeitige Zustand des politischen Systems in Hongkong. Dieses wird noch immer von einer relativ kleinen, vornehmlich der lokalen Wirtschaftswelt (tycoon plutocracy) und der Gruppe der Mittelklasse-Professionals entstammenden politischen Klasse dominiert. Seine Institutionen blockieren sich in zunehmendem Masse gegenseitig. Die systembedingten Konflikte zwischen Legislative und Exekutive wirken sich nicht nur negativ auf die politische Effizienz und Legitimation des Modells „ein Land, zwei Systeme„ aus; sie drohen zudem eine neue politische Apathie großer Teile der Bevölkerung auszulösen, die man unter dem Eindruck der hohen Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen von 1998 bereits überwunden glaubte. Gleichzeitig scheint der Stern der Demokratischen Partei, langjähriger Hoffnungsträger einer politischen Liberalisierung der SVR, wegen eines für sie nachteiligen Wahlrechts und nicht zuletzt interner Streitigkeiten über die zukünftige Strategie zu sinken. Aber auch die Popularitätskurve der Regierung unter Chief Executive Tung Chee-

[Seite der Druckausg.:4]

hwa, 1997 durch ein von Beijing handverlesenes Gremium in sein Amt gewählt, ist mittlerweile stark gefallen. Ihm wird eine wesentliche Verantwortung für die Reibungsverluste innerhalb des politischen Systems der SVR zugewiesen.

Immerhin ist trotz aller gegenteiliger Befürchtungen die vielgerühmte Presse- und Meinungsfreiheit Hongkongs nach 1997 gewahrt worden, obwohl es durchaus Konflikte mit chinesischen Funktionären und der eigenen lokalen Regierung sowie Anzeichen von Selbstzensur gab. Das Demonstrationsrecht blieb unangetastet. Eigenständigkeit demonstriert die SVR-Regierung ferner dadurch, dass sie sich dem Verlangen Beijings (noch) widersetzt, die in der VR China unterdrückte, in Hongkong jedoch rechtmäßig registrierte, Falungong-Bewegung zu verbieten. Die Unabhängigkeit der Gerichte stand vor allem in der Kontroverse um das Aufenthaltsrecht für auf dem chinesischen Festland geborene Kinder von Hongkonger Bürgern auf dem Prüfstand und hat dabei Schaden genommen; allerdings hielt sich dieser, aufs Ganze der vergangenen vier Jahre gesehen, durchaus in Grenzen.

Somit befindet sich Hongkong derzeit in mehrerer Hinsicht an einem Scheideweg: Ökonomisch ist die Sonderverwaltungsregion zwar auf dem Weg der Konsolidierung, doch muss sie schwierige Probleme meistern, um diesen Weg langfristig gehen zu können. Politisch wirkt sie angesichts der Widersprüche des politischen Systems gelähmt, was auf lange Sicht den erreichten Grad an Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Kultur kompromittieren kann. Letztlich droht Hongkong auf der gesellschaftlichen Ebene eine Polarisierung, die ohne konsequente sozialpolitische Anstrengungen der Regierung und ohne eine entsprechende ideologische Reorientierung der wichtigsten Parteien zu einer gefährlichen Destabilisierung des sozialen Friedens führen könnte. Schließlich muss beobachtet werden, wie konsequent die VR China an der von ihr immer wieder propagierten Formel festhalten wird, dass „Hongkong von Hongkongern„ regiert wird.

Page Top Next Item

Nach dem handover: Die institutionelle Paralyse des politischen Systems

Während der britischen Herrschaft zeichnete sich das Regierungssystem Hongkongs durch eine starke Exekutive und eines schwache Legislative aus. Zwar zeigte sich der seit 1992 amtierende letzte Gouverneur Chris Patten entschlossen, durch einen neuen konsultativen Politikstil und mit einer Reihe von Reformgesetzen in den wenigen Jahren vor dem handover Zeichen zu setzen und die Voraussetzungen für ein demokratischeres Hongkong zu schaffen. Doch die neue Hoheitsmacht ließ sich darauf nicht ein. Noch in der Nacht vom 1. auf den 2. Juli 1997 hob das von Beijing eingesetzte Übergangsparlament, der Provisional Legislative Council, die

[Seite der Druckausg.:5]

meisten der Patten-Gesetze auf. Vor allem das reformierte Wahlrecht fiel dieser Intervention zum Opfer. Denn keinesfalls sollte die Handlungsfähigkeit der neuen SVR-Regierung unter Tung Chee-hwa durch ein von chinakritischen Kräften beherrschtes Parlament und starke politische Parteien beeinträchtigt werden.

Damit scheiterte Patten mit seinem Plan, die Zahl der Stimmberechtigten in dem komplizierten Wahlsystem Hongkongs auch über 1997 hinaus deutlich zu erhöhen. Nach Maßgabe des 1990 verabschiedeten Grundgesetzes (Basic Law) für die SVR Hongkong sollen in den drei Urnengängen zwischen 1997 und 2007 die 60 Abgeordneten des Legislative Council nur maximal zur Hälfte direkt gewählt werden (1998: 20; 2000: 24; 2004: 30), während 30 Mandate aus indirekten Wahlen in sogenannten Funktionswahlkreisen (functional constituencies) hervorgehen, die wichtige Berufsgruppen vertreten. Der Rest der Sitze (1998: 10; 2000: 6) wird von einem speziellen Wahlkomitee (Election Committe) gewählt. Dessen Mitglieder entstammen bestimmten Sektoren aus Wirtschaft, Verwaltung und Gesellschaft Hongkongs, den Reihen der Abgeordneten des bisherigen Legislative Council, der lokalen Verwaltungsorgane Hongkongs sowie schließlich der Gruppe der Delegierten Hongkongs im Nationalen Volkskongress und der Politischen Konsultativkonferenz der VR China. Patten hatte die Wählerbasis in den Funktionswahlkreisen quasi auf die gesamte arbeitende Bevölkerung ausgedehnt und damit ein „verstecktes„ universales Wahlrecht eingeführt. Genau dies machte der Provisional Legislative Council unter der Anleitung Beijings sofort wieder rückgängig. Durch die gleichzeitige Einführung des corporate voting (eine Stimme pro Unternehmen innerhalb einer Branchenvertretung) bleibt das demokratische Prinzip one man, one vote in Hongkong somit zumindest während der ersten zehn Jahre chinesischer Oberhoheit ausgehebelt - wie schon jahrzehntelang unter den Briten vor der Ära Patten.

Für die Zeit ab 2007 eröffnet das Basic Law zumindest implizit die Möglichkeit der Einführung von Direktwahlen sowohl für den Posten des Chief Executive als auch für den Legislative Council. Zwar bedarf es dafür eines entsprechenden Votums von zwei Dritteln der Abgeordneten des Parlamentes sowie der Zustimmung des amtierenden Chief Executive, die ohne eine entsprechende Anweisung der chinesischen Zentralregierung nicht erteilt werden wird; aber immerhin eröffnen sich hier Möglichkeiten des politischen Lobbying und der öffentlichen Mobilisierung, die vor allem die demokratischen Parteien auszuschöpfen bestrebt sind. Sie kämpfen schon lange für die Abschaffung der Funktionswahlkreise und für allgemeine Wahlen aller Sitze des Legislative Council sowie für eine Volkswahl des Chief Executive - Maximalziele, die die strukturelle Schwäche der Legislative im Regierungssystem Hongkongs überwinden sollen, sich aber in den nächsten fünf bis zehn Jahren kaum werden erreichen lassen. Allerdings ist man sich wohl

[Seite der Druckausg.:6]

auch in Beijing darüber klar, dass die Stellung des Legislative Council gestärkt werden muss, um den immer spürbarer werdenden Reibungsverlusten im Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive entgegenzuwirken.

Dabei ist zu bedenken, dass sich das Selbstbewusstsein des Parlaments spätestens seit der Einführung von Teil-Direktwahlen 1991 stark verändert hat. Seitdem ist es in Hongkong zur Institutionalisierung eines Parteiensystems gekommen, das trotz des geringen Quorums direkt gewählter Mandate im Legislative Council eine zunehmende Dynamik entfaltet. Denn der Parteienwettbewerb hat Profilierungsinteressen freigesetzt, die der Regierung stark zu schaffen machen. Diese steht immer wieder im Kreuzfeuer der Kritik, vor allem seitens der Parteien des sogenannten demokratischen Lagers. Wichtigstes Kriterium für die Abgrenzung der einzelnen Parteien voneinander ist bisher ihre Nähe zur chinesischen Regierung. So unterscheidet man in Hongkong zwischen beijing-kritischen und beijing-freundlichen Parteien. Allerdings ist diese grundsätzliche Einteilung mittlerweile zu modifizieren. Gerade die letzten Parlamentswahlen im September 2000 haben gezeigt, dass Bewegung in das Parteienspektrum gekommen ist: Um neue Wählergruppen zu gewinnen, bemühen sich die einzelnen Gruppierungen um eine stärkere sozialpolitische Profilierung. Die ideologischen Gräben zwischen ihnen könnten sich dadurch zukünftig etwas einebnen.

Stärkste Partei im Legislative Council ist die Democratic Party (DP) unter Führung des charismatischen Rechtsanwaltes Martin Lee, die 1994 aus einem Zusammenschluss zweier Vorläuferorganisationen hervorging. Sie gilt als Partei der gebildeten Mittelklasse und der unteren Mittelschicht und trat bisher vor allem für Demokratie und Rechtstaatlichkeit sowie für die Sicherung der Autonomie Hongkongs nach 1997 ein. Dass diese inhaltliche Fixierung zukünftig nicht mehr ausreichen könnte, zeigten die letzten Parlamentswahlen deutlich an. So sank der Stimmenanteil der DP in den Direktwahlkreisen (geographical constituencies) von 42,6 auf 34,7 Prozent. Auch die kleineren Parteien des Beijing-kritischen Lagers - vor allem die von Emily Lau im August 1996 ins Leben gerufene Frontier-Partei und die von Christine Loh 1997 gegründete Citizens Party - büßten Stimmen ein; letztere konnte sogar überhaupt keinen Sitz im Legislative Council mehr erringen. Beide Gruppierungen zehrten bisher hauptsächlich von der Popularität ihrer beiden Führerinnen, die international bekannte Politikerinnen und Symbolfiguren der demokratischen Bewegung Hongkongs sind. Auch dies ist mittlerweile jedoch offenkundig zu wenig, um in der Parteienlandschaft Hongkongs bestehen zu können.

Eine der Hauptschwierigkeiten der beijing-kritischen Kräfte liegt darin, zu weit von den sozialen Problemen ihrer Wählerklientel entfernt zu sein. Diese sind im Gefolge der Asienkrise 1997/98 sehr viel brennender geworden als die Sorge um die Autonomie und Unabhängigkeit

[Seite der Druckausg.:7]

Hongkongs. Weil die VR China die Bestimmungen des Basic Law bisher nicht verletzt hat und zumindest verbal immer wieder die Unabhängigkeit Hongkongs in den vom Grundgesetz vorgezeichneten Grenzen zu bewahren beteuert, ist die Mobilisierungskraft der demokratischen Parteien offensichtlich gesunken. Hinzu kommt die ungenügende Bindung an die sozialen Bewegungen Hongkongs, die ihre Rolle als Gegengewicht zu den beijing-freundlichen, bisher vor allem an den Interessen der lokalen Wirtschaft orientierten Parteien deutlich stärken könnte.

Die pro-chinesischen Parteien haben bei den letzten Parlamentswahlen Boden gut gemacht, was vor allem auf das positive Abschneiden der 1992 als Vertretung festlandchinesischer Interessen in Hongkong gegründeten Democratic Alliance for the Betterment of Hong Kong (DAB) zurückzuführen ist. Sie konnte ihren Stimmenanteil deutlich verbessern und erreichte bei den letztjährigen Parlamentswahlen 29,7 Prozent (1998: 25,2 Prozent). Demgegenüber blieben die wesentlich geringeren Stimmenanteile der ebenfalls prochinesischen Hongkong Progressive Alliance und der wirtschaftskonservativen Liberal Party weitgehend konstant. Insgesamt hat sich damit das Gewicht im Legislative Council seit 1997 leicht zugunsten der beijing-freundlichen Parteien verlagert, wenn auch unter Berücksichtigung der parteilosen Abgeordneten keine zahlenmäßige Veränderung zwischen dem demokratischen (19 Sitze) und dem pro-chinesischen Lager (23 Sitze) eingetreten ist. Allerdings kommt es durch den Wahlmodus zur Bestimmung der Mandate aus den Funktionswahlkreisen zu einer erheblichen Ergebnisverzerrung, die die Democratic Party stark benachteiligt und die beijing-freundlichen Kleinparteien ebenso stark begünstigt. Vor allem letztere verfügen fast nur über die indirekten Mandate der functional constituencies.

Tabelle 1: Die Wahlen zum Legislativyuan 1998 und 2000 - Sitzverteilung*

Partei

1998

2000

beijing-kritisches Lager

17

15

- Democratic Party

13

12

- The Frontier

3

2

- Citizens Party

1

0

- Association for Democracy and People’s Livelihood

0

1

Unabhängige

20

22

- davon: beijing-kritische Vertreter

2

4

beijing-freundliches Lager

23

23

- Democratic Alliance for the Betterment of Hong Kong

9

10

- Liberal Party

9

8

- Hongkong Progressive Alliance

5

5

*unter Berücksichtigung der Nachwahlen im Dezember 2000 für einen Sitz

[Seite der Druckausg.:8]

Es wird sich zeigen, ob die erwähnte Ausweitung der Direktmandate bei den nächsten Parlamentswahlen 2004 zu einer Erstarkung des beijing-kritischen Lagers führen wird bzw. ob die Democratic Party ihren derzeitigen Abwärtstrend stoppen kann. Viel wird davon abhängen, ob die Bevölkerung weiter Vertrauen in das Autonomieversprechen Beijings gewinnt oder ob es hier zu Rückschlägen kommt. In diesem Fall dürften die demokratischen Kräfte an Unterstützung gewinnen. Anderenfalls werden sie sich auf der Ebene der Sachpolitik profilieren und hier mehr sozial- und wirtschaftspolitische Themen aufgreifen müssen. Diese Einsicht hat allerdings auch die DAB gewonnen, so dass die beiden stärksten Parteien in Hongkong ungeachtet ihrer ideologischen Differenzen vielleicht schon bald um dieselbe Wählerklientel ringen: die große Masse der Arbeiter und kleinen Angestellten. Festzuhalten bleibt, dass die dynamische Entwicklung des Parteiensystems und der daraus resultierende lebhafte Parlamentarismus im Widerspruch zur faktischen (Ohn-)Macht des Legislative Council stehen. Vor allem die wegen der Funktionswahlkreise letztlich unabänderliche strukturelle Minderheit des demokratischen Lagers birgt die Gefahr einer anhaltenden Lähmung der gesetzgebenden Arbeit des Parlaments. Wer die Mehrheit der Stimmen gewinnt und in einem gegenüber der Exekutive ohnehin schwachen Legislative Council nicht einmal die Mehrheitsfraktion bilden kann, wird umso heftiger mit den wenigen ihm zur Verfügung stehenden Waffen gegen den politischen Gegner und die Regierung ankämpfen.

Letztlich sind die Probleme des politischen Systems in Hongkong Ergebnis eines in das Basic Law eingebauten „Systemfehlers„. So hat der Chief Executive ähnlich weitreichende Vollmachten wie früher die britischen Gouverneure. Er besitzt das ausschließliche Recht der Gesetzesinitiative in Fragen der öffentlichen Ausgabenpolitik, der Arbeitsweise der Regierung und der Struktur des politischen Systems. Alle weiteren Gesetze, die vom Legislative Council eingebracht werden können, müssen vor Inkrafttreten seine Zustimmung finden. Die vom Chief Executive berufenen Mitglieder des Executive Council, einem Gremium ernannter Berater, sind dem Parlament formell genauso wenig verantwortlich wie der ihm unterstehende Civil Service mit seinen drei Hauptsekretariaten für Finanzen, Justiz und Verwaltung. Deren führende Köpfe, an erster Stelle der Chief Secretary for Administration als die Nummer zwei der Exekutive, fungieren faktisch als leitende Minister der SVR-Regierung. Die fehlende Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber den Parlamentariern, die politische Marginalisierung der letzteren in großen Bereichen des Gesetzgebungsprozesses, die als despektierlich wahrgenommene Behandlung des Legislative Council durch Tung Chee-hwa, schließlich ein zunehmender Parteienwettbewerb, der zu medienwirksamen Angriffen auf die Regierung provoziert, haben seit dem

[Seite der Druckausg.:9]

handover zu zahlreichen Patt-Situationen zwischen Exekutive und Legislative geführt. Immer wieder blockiert das Parlament Gesetzesvorlagen der Regierung. Die Vertreter des Civil Service sind folglich dazu gezwungen, ihre Pläne in langwierigen und zähen Verhandlungsprozessen mit den Abgeordneten durchzusetzen, also praktisch eine Lobbyisten-Funktion auszuüben. Der hochgerühmten Effizienz und dem Ansehen des Civil Service hat diese Entwicklung mindestens ebenso sehr geschadet wie der öffentlichen Wertschätzung für die Führungsqualitäten des amtierenden Chief Executive. Machtlosigkeit, Frustration und Profilierungsinteressen auf der einen Seite, Arroganz der Macht und traditionelles top-down-Denken auf der anderen Seite bilden mittlerweile eine Konstellation der Paralyse, aus der nur durch weitreichende institutionelle Reformen herauszukommen ist. Der in Verbindung mit der Asienkrise 1997/98 aufgetretene hohe Problem- und Handlungsdruck für die Regierung der SVR hat diese Notwendigkeit besonders deutlich werden lassen.

Auch das Verhältnis zwischen Tung Chee-hwa und dem Civil Service ist nicht ungetrübt geblieben. So versuchte Tung nach seiner Amtsübernahme, die überkommene Macht der Beamten durch eine Zuweisung ministerähnlicher Aufgaben an die von ihm berufenen Mitglieder des Executive Council zu schwächen. Er scheiterte mit diesem Plan jedoch kläglich, als seine Berater von jedem Informationszufluss aus den Verwaltungsabteilungen abgeschnitten wurden und auf eine Mauer der Kooperationsverweigerer stießen. Als Anson Chan, als erste Frau und erstmals aus den Reihen der einheimischen Chinesen 1993 von Chris Patten auf den Posten des Chief Secretary for Administration berufen, im Januar 2001 überraschend ihren Rücktritt ankündigte, schienen sich hartnäckige Gerüchte von einem Zerwürfnis zwischen ihr und Tung zu bestätigen. Frau Chan, die immer wieder als das „gute Gewissen Hongkongs„ bezeichnet wurde und in ihrer Person Unabhängigkeit und Kontinuität des Hongkonger Civil Service nach 1997 repräsentierte, gab zwar familiäre Gründe für ihre Entscheidung an. Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass die Auseinandersetzungen zwischen ihr und dem Chief Executive über die administrative Suprematie in der Sonderverwaltungsregion und wegen Meinungsverschiedenheiten in der Frage der richtigen Politik gegenüber der chinesischen Zentralregierung mindestens ebenso schwer gewogen haben. Zweifellos hätte Anson Chan große Chancen auf die Nachfolge Tung Chee-hwas, sollte sie dieses Amt anstreben. Mit ihr als Chief Secretary würde sich das Verhältnis zwischen dem Executive Council und dem Civil Service sicherlich entkrampfen, auch wenn sie kaum die Kandidatin Beijings wäre. Inzwischen gilt die Wiederwahl Tungs im nächsten Jahr jedoch als so gut wie sicher. Neuer Chief Secretary of Administration wurde im Mai 2000 der bis dato als Financial Secretary tätige Donald Tsang. Sein Verhältnis zu Tung Chee-hwa ist gut, was ihm bei kritischen Beobachtern sogleich den Ruf eines Ja-Sagers eingetragen hat. Er gilt als kom-

[Seite der Druckausg.:10]

petenter und integrer Beamter, verfügt aber (noch) nicht über das Ansehen und das Charisma seiner Vorgängerin. Allerdings gilt als sicher, dass Tsang bei erneuten Angriffen auf die Unabhängigkeit der ihm unterstehenden Behörden diese mit der gleichen Unnachgiebigkeit verteidigen wird wie dies Anson Chan getan hat.

Previous Item Page Top Next Item

Weiterhin Herrschaft des Rechts?

Formal gesehen blieb das Hongkonger Rechtssystem nach dem handover unangetastet. Den organisatorischen Aufbau behielt man bei, auch wenn einige Instanzen andere Namen erhielten. So wurde etwa der koloniale Supreme Court durch einen High Court ersetzt. Von besonderer Bedeutung war die im Basic Law verankerte Zusicherung eines letztinstanzlichen Gerichts für Hongkong, das mit Wirkung vom 1. Juli durch die Errichtung des Court of Final Appeal (CFA) geschafften wurde und an die Stelle des britischen Privy Council trat. Seine fünf Richter werden vom Chief Executive auf Lebenszeit ernannt. Die Autonomie Hongkongs hängt letztlich davon ab, wie weit die Autorität des CFA gegenüber dem Nationalen Volkskongress (NVK) in Beijing reicht. Diesem obliegt das Recht der Auslegung und der Änderung des Basic Law sowie die Entscheidung darüber, ob ein in Hongkong verabschiedetes Gesetz das Basic Law verletzt und daher außer Kraft zu setzen ist. Somit hat sich Beijing das letzte Wort in allen Fragen der rechtlichen Ausgestaltung des Modells „ein Land, zwei Systeme„ vorbehalten. Auch die Hongkonger Gerichte haben das Recht zur Auslegung des Basic Law. Berühren sie dabei jedoch Belange der Zentralregierung, so sollen sie vor der Urteilsfindung eine Interpretation der relevanten Bestimmungen durch den NVK einholen. Wann ein solcher Fall präzise eintritt, sagt das Basic Law allerdings nicht. Keine Verpflichtung, nicht einmal das explizite Recht besteht für die SVR-Regierung, den NVK in strittigen Rechtsfragen anzurufen; wohl aber kann sie ihm Änderungsvorschläge für Bestimmungen des Basic Law unterbreiten, sofern der Legislative Council und die Gruppe der Hongkonger NVK-Delegierten mit Zweidrittelmehrheit zustimmen.

Somit ist klar, dass die Unabhängigkeit der dritten Gewalt in Hongkong konditioniert ist und in beträchtlichem Masse von der politischen Sensibilität sowohl der Gerichte der Sonderverwaltungsregion als auch der chinesischen Regierung bzw. des NVK abhängt. Dies wurde schon kurz nach dem handover deutlich, als ein politischer Streit über die Auslegung von Artikel 24 des Basic Law eine handfeste Verfassungskrise heraufbeschwor und die Autonomie Hongkongs zur Disposition zu stellen drohte. Dabei ging es konkret um die Frage, ob die Kinder eines Hongkonger Elternteils mit permanentem Aufenthaltsrecht in der SVR dieses Recht ebenfalls auch dann automatisch besitzen, wenn es sich um nichteheliche oder

[Seite der Druckausg.:11]

adoptierte Kinder handelt oder wenn der betreffende Elternteil seinen Bleibestatus erst nach der Geburt des Kindes erworben hatte. Die SVR-Regierung hatte mit Blick auf die unüberschaubare Zahl ehelicher und nichtehelicher Nachkommen von Hongkonger Bürgern in der VR China verfügt, dass diese nur nach Vorlage einer offiziellen chinesischen Ausreiseerlaubnis überhaupt einen Antrag auf permanentes Aufenthaltsrecht in Hongkong stellen konnten. Dadurch war es ihr möglich, in Zusammenarbeit mit den chinesischen Behörden eine beiderseitig nicht gewünschte ungesteuerte Zuwanderung aus der VR China zu verhindern. Diese Praxis erklärte der CFA im Januar 1999 für unzulässig. Außerdem sprach er den Nachkommen auch dann ein permanentes Aufenthaltsrecht in der SVR zu, wenn ihre Eltern erst nach ihrer Geburt selbst ein solches Recht erworben hatten. Der CVA ging aber noch weiter: Er entschied, dass Hongkonger Gerichte Rechtsakte des NVK hinsichtlich ihrer Konformität mit dem Basic Law überprüfen können; dass das Basic Law letztinstanzlich vom CFA, nicht aber vom NVK ausgelegt wird, sofern sich der anhängige Rechtsstreit innerhalb der Grenzen der Autonomie Hongkongs bewegt; und das der CFA und nicht der NVK darüber entscheidet, wann letzterem ein Fall zu Klärung vorzulegen ist. Damit hatte das höchste Gericht alle Grauzonen des Basic Law für die Definition einer weitestgehenden rechtlichen Autonomie Hongkongs gegenüber der VR China genutzt.

Erwartungsgemäß stieß das Urteil auf den erbitterten Widerstand der Zentralregierung in Beijing, die eine Zurücksetzung des NVK gegenüber dem CFA auf keinen Fall hinzunehmen bereit war. Unter diesem Druck musste der Präsident des Gerichts bereits kurze Zeit später zu Protokoll geben, dass der konstitutionelle Teil des Urteils keinesfalls die Autorität des NVK in Fragen der Interpretation und Änderung des Basic Law infrage stelle. Man ruderte also zurück, obwohl der materielle Teil des Urteils dadurch nicht angetastet wurde. Die SVR-Regierung wiederum lehnte das Urteil aus sozial- und finanzpolitischen Gründen ab. Sie veranschlagte Kosten von 170 Mrd. HK-Dollar und malte das Schreckgespenst einer Migrationswelle von bis zu 1,7 Millionen chinesischen Zuwanderern an die Wand - allenfalls ein Drittel davon galt nach Expertenmeinung als seriöse Zahlenangabe. Dennoch verursachten diese Szenarien große Unruhe unter der Bevölkerung, so dass die SVR-Regierung sich ermutigt sah, den NVK - ohne eine explizite rechtliche Basis dafür besitzen - um eine Auslegung der strittigen Artikel 22 und 24 des Basic Law zu bitten. Sie berief sich dabei auf ihre allgemeine Verpflichtung zur korrekten Anwendung des Grundgesetzes und auf ihre Verantwortung für die Stabilität Hongkongs gegenüber der Zentralregierung in Beijing. Einige Monate später kassierte der NVK das Urteil des Court of Final Appeal, bestätigte die bisherige Aufnahmepraxis der SVR-Regierung und bestimmte, dass nur solche Kinder ein permanentes Aufenthaltsrecht in Hongkong besitzen, die zum Zeitpunkt ihrer Geburt zumindest einen Elternteil mit diesem Status haben.

[Seite der Druckausg.:12]

Dieser Entscheidung hat sich die Hongkonger Justiz in einer Reihe von Folgeprozessen gefügt und ist damit - so zumindest in den Augen vieler internationaler Beobachter - auf ganzer Linie „eingeknickt„.

Wurde durch diese Verfassungskrise die juristische Autonomie Hongkongs ernsthaft beschädigt? Deutlich gezeigt hat sich jedenfalls, dass die Autorität des Nationalen Volkskongresses den Hongkonger Gerichten eine unverrückbare Grenze setzt. Da die Sonderverwaltungsregion keinen verfassungsrechtlich garantierten Autonomiestatus besitzt, wäre alles andere jedoch mehr als verwunderlich. Das Basic Law räumt auch der Judikative lediglich eine „weitreichende„ Autonomie ein, die allerdings durch ein unkluges Verhalten sowohl seitens des CFA als auch der SVR-Regierung unnötig kompromittiert wurde. Das höchste Gericht hätte möglicherweise besser daran getan, den NVK vor seiner Urteilsfindung anzurufen, weil Fragen der Zuwanderung vom chinesischen Festland nach Hongkong immer auch Belange der Zentralregierung berühren. Stattdessen griff man sogar die Prärogative des NVK hinsichtlich des Basic Law an - ein Duell, das man nur verlieren konnte. Noch schwerer aber wiegt, dass die SVR-Regierung von sich aus den NVK anrief, ohne dazu gezwungen oder auch nur eindeutig berechtigt gewesen zu sein. Damit hat sie der eigenen Bevölkerung und der internationalen Öffentlichkeit demonstriert, dass sie die rechtliche Autonomie Hongkongs im Zweifelsfall geringer gewichtet als bestimmte politische Maßnahmen. Auf lange Sicht engt eine solche Haltung die Spielräume der gesetzlich garantierten Autonomie Hongkongs sicherlich ein. Immerhin kann man den Beijinger Behörden nicht vorwerfen, sich hier „außerkonstitutionell„ verhalten zu haben: Wäre der NVK nicht angerufen worden, hätte er sich wahrscheinlich nicht weiter eingemischt und mit der erwähnten beruhigenden Erklärung des Chief Justice seinen Frieden gemacht.

Es gab seit 1997 noch einige andere Fälle, in denen durch das Verhalten der Hongkonger Behörden die juristische Unabhängigkeit der Sonderverwaltungsregion von Beijing zumindest infrage gestellt wurde. So sah die Justiz von Ermittlungen gegen die Hongkonger Vertretung der offiziellen chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua ab, obwohl diese wahrscheinlich gegen Bestimmungen des personenbezogenen Datenschutzes verstoßen hatte. Zudem räumt ein 1998 verabschiedetes Gesetz den mehr oder minder offiziellen Vertretungen der VR China in Hongkong - neben dem Xinhua-Büro sind dies die Delegation des chinesischen Außenministeriums sowie die Außenstelle des regierungsamtlichen Hongkong und Macau-Büros - eine statutorische Sonderbehandlung bei der Anwendung von Gesetzen der SVR ein. Aufsehen erregte auch der Fall der Besitzerin des Hongkong Standard, Sally Aw, gegen die trotz einer Betrugsanzeige kein Verfahren eingeleitet wurde. Als Mitglied der Politischen Konsultativkonferenz in Beijing und wegen ihrer engen Beziehungen zum Chief Executive schien sie politisch unantastbar zu

[Seite der Druckausg.:13]

sein. Dennoch sind aus diesen und weiteren Fällen keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Es gibt bisher keine Anzeichen, dass die unparteiische Herrschaft des Rechts in Hongkong ernsthaften Gefahren ausgesetzt ist. Allerdings ist die Unabhängigkeit der Justiz beschädigt worden und es wird sich vielleicht schon bald zeigen, wie weit ihre Kraft bei der Sicherung der Autonomie der SVR reicht - vor allem mit Blick auf die politischen Freiheiten Hongkongs.

Previous Item Page Top Next Item

Demokratie und Menschenrechte

Vier Jahre nach dem Ende der britischen Kolonialherrschaft fällt ein Urteil über den Schutz der politischen Rechte und Freiheiten der Hongkonger Bürger verhalten positiv aus. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, auf welchem Weg sich die Sonderverwaltungsregion hier befindet: Hat sich die relativ liberale Regierungspraxis der Kolonialzeit in den Bestimmungen des Basic Law dauerhaft festschreiben lassen? Oder weisen die Meldungen der letzten Jahre über Einmischungsversuche der chinesischen Regierung in das Hongkonger Pressewesen, Selbstzensur in den Medien und Verschärfungen des Vereinigungs- und Demonstrationsrechts auf einen schleichenden Erosionsprozess beim Schutz von Demokratie und Menschenrechten hin?

Der Blick auf die geltende Gesetzeslage überzeugt dabei nur auf den ersten Blick. Zwar garantiert das Hongkonger Grundgesetz in seinem dritten Kapitel u.a. die uneingeschränkte Meinungs-, Vereinigungs- und Demonstrationsfreiheit sowie die Freiheit der Religionsausübung. Auch enthält das Basic Law eine Bestandsgarantie für die Bestimmungen der beiden UN-Menschenrechtspakte von 1966 (Pakt über bürgerliche und politische Rechte; Pakt über wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte), die Großbritannien 1976 auch für Hongkong ratifiziert hat. Allerdings wiesen wichtige Änderungen der Hongkonger Ausführungsgesetze zu diesen Pakten unmittelbar nach dem handover unmissverständlich darauf hin, dass die neuen Machthaber sich das politische Geschehen in der Sonderverwaltungsregion durch diese Vorgaben nicht einfach diktieren lassen wollten. So wurde die (erst 1991 verabschiedete) Bill of Rights Ordinance (BORO) ebenso geändert wie die Societies Ordinance (SO) und die Public Order Ordinance (PO).

Dabei spielten die Einschränkungen der BORO juristisch gesehen keine Rolle, weil die Kernbestimmungen der beiden auf Hongkong Anwendung findenden Menschenrechtspakte nach Maßgabe des Basic Law ohnehin nicht aufgehoben werden können. Die politisch motivierte Verabschiedung dieses Gesetzes durch die Briten war deshalb eher kontraproduktiv, weil sie die chinesische Seite provozierte und ihrem Anliegen zuwiderlief, den in Hongkong verbürgten

[Seite der Druckausg.:14]

Menschenrechtsschutz eher „geräuschlos„ in die Zeit nach dem handover hineinzutragen. Die Änderungen der beiden anderen Ordinances waren dagegen weitreichender. Sie führten einen kürzeren Zeitraum für die Registrierung neuer sozialer und „politisch tätiger„ Organisationen ein (SO) sowie eine polizeiliche Genehmigungspflicht von Demonstrationen (PO). Zwar wurde damit nur der Status quo ante der britischen Gesetzgebung vor den Reformen der 90er Jahre hergestellt. Doch es handelt sich hier um zwei Instrumente, mit denen die SVR-Regierung - und deshalb mittelbar auch die chinesische Führung - wirksam in die Hongkonger Innenpolitik eingreifen kann. Das gilt auch für das neu in die SO aufgenommene Verbot für politische Organisationen in Hongkong, aus Gründen der „nationalen Sicherheit„ Kontakte zu ausländischen Gruppierungen zu unterhalten. Damit soll nicht zuletzt der Gefahr einer finanziellen Unterstützung z.B. pro-demokratischer oder pro-taiwanesischer Kräfte von außen entgegengewirkt werden.

Dennoch: Von spürbaren Restriktionen bei der Registrierung von sozialer und politischer Organisationen kann bisher nicht die Rede sein. Selbst die in der VR China als „böser Kult„ für illegal erklärte und massiv verfolgte Falungong-Bewegung kann sich in Hongkong frei bewegen, da sie nach Auffassung der zuständigen Behörden ordnungsgemäß registriert ist und durch ihr Handeln geltende Bestimmungen nicht verletzt. Allerdings nähren jüngere Äußerungen des Chief Executive Tung Chee-hwa, bei Falungong handele es sich möglicherweise um einen „bösen Kult„, den Verdacht, dass die SVR-Regierung in dieser Frage unter Druck steht und ihre bisherige Haltung vielleicht bald aufgeben muss. Dies ist vor allem dann wahrscheinlich, wenn die Bewegung Hongkong weiter als Plattform einer teilweise sehr offensiven Kritik an der chinesischen Unterdrückungspolitik nutzt. Von dem Konflikt um Falungong geht noch eine andere Gefahr aus, der die SVR-Regierung bisher erfolgreich aus dem Weg gegangen ist. So verlangt Artikel 23 des Basic Law, dass Hongkong Gesetze zur Regelung verschiedener Vergehen gegen die Zentralregierung erlässt, vor allem Landesverrat, Subversion, Sezession und Diebstahl von Staatsgeheimnissen. Nicht nur die Rechtspraxis in der VR China hat gezeigt, dass solche Gesetze als Generalklauseln für ein pseudo-legales Vorgehen gegen politische Gegner oder Gruppen dienen. In den Augen der internationalen Öffentlichkeit wäre ein entsprechendes Gesetz der Hongkonger Regierung jedenfalls alarmierend.

Derweil ist auch die vielgerühmte Pressefreiheit Hongkongs durch verschiedene Episoden in den letzten Jahren vor Schaden nicht verschont geblieben. Die Entlassung einiger unbequemer, China-kritischer Journalisten, scharfe Kritik hoher kommunistischer Kader an der Berichterstattung über bestimmte sensible Themen, vor allem aber Anzeichen einer Selbstzensur unmittelbar vor und nach dem handover haben gezeigt, dass in Sachen Freiheit der Meinungs-

[Seite der Druckausg.:15]

äußerung nicht alles in Hongkong geht. Printmedien, die mit der Democratic Party sympathisieren und damit unter der besonderen Beobachtung der VR China stehen, sind durch das Ausbleiben von Werbekunden in Schwierigkeiten gekommen oder mussten gar - wie etwa der Eastern Express - ihr Erscheinen einstellen. Da es sich bei diesen Kunden meistens um große Unternehmen mit starkem Investitionsengagement und zahlreichen persönlichen Beziehungen zur chinesischen Führung handelt, ist ihr Verhalten natürlich wenig verwunderlich. Auch dies ist eine Form der Selbstzensur. Generell gilt: Offene Kritik an der chinesischen Führung (vor allem in Menschenrechtsfragen), Angriffe auf das Modell „ein Land, zwei Systeme„ und Sympathien für die politische Souveränität bzw. Unabhängigkeit Taiwans oder Tibets sind Tabus, deren Nichtbeachtung zu scharfen Reaktionen aus Beijing führt.

Insgesamt ist der Kern der Pressefreiheit Hongkongs bisher unangetastet geblieben. Für sie gilt dasselbe wie für die Existenzberechtigung politischer Parteien und die Unabhängigkeit der Justiz: Es liegt nicht im Interesse der chinesischen Regierung, durch substantielle Einschränkungen der bisher geübten Praxis das internationale Vertrauen in die politischen Institutionen des Finanz- und Dienstleistungsstandortes Hongkong zu untergraben. Allerdings gibt es Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Diese können natürlich jederzeit enger gezogen werden, sollte sich dies für die VR China aus innenpolitischen Gründen als notwendig erweisen. Die Befürchtungen der Skeptiker, Meinungs- und Vereinigungsfreiheit vertrage sich nicht mit dem Machtanspruch eines autoritären Systems, ist deshalb nicht unbedingt falsch. Denn es wird abzuwarten sein, wie lange die anderen Provinzen Chinas noch zuschauen, wie sich in Hongkong ein System unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei etabliert, das um so vieles liberaler sein darf als der Rest des Landes.

Previous Item Page Top Next Item

Wirtschaft: Auf dem Weg zur world class city?

Schon bald nach dem Ausbruch der asiatischen Währungs- und Finanzkrise Mitte 1997 in Thailand wurde auch Hongkong in Mitleidenschaft gezogen. Zwar konnten erste Angriffe der großen Hedge-Fonds auf den Hongkong-Dollar im Oktober 1997 erfolgreich abgewehrt werden. Allerdings beschleunigte sich dann unter dem Eindruck der Krise in den Nachbarstaaten der Zusammenbruch des Hongkonger Immobilienmarktes, der seit den 80er Jahren ähnlich spekulativ aufgebläht war wie in vielen anderen Ländern der Region. Mit ihm stürzte einer der wichtigsten Wirtschaftszweige der SVR in eine tiefe Krise. 1998 sank das inländische Wirtschaftswachstum um mehr als fünf Prozent ab, während gleichzeitig die Arbeitslosigkeit um 2,5

[Seite der Druckausg.:16]

Prozent anstieg. Schließlich geriet der Hongkong-Dollar, seit 1983 fest an den US-Dollar angebunden, in der zweiten Jahreshälfte 1998 erneut ins Fadenkreuz der internationalen Devisenspekulation. Die SVR-Regierung trat dem Abwertungsdruck mit aller Macht entgegen. Großes Aufsehen erregte dabei eine unerwartete Maßnahme der Hongkong Monetary Authority. Sie setzte im August und September insgesamt über 15 Mrd. US-Dollar zum Ankauf von Aktien und Terminkontrakten ein, um den Kurs der eigenen Währung zu stützen. Zwar gelang dieses Unterfangen leidlich gut. Doch waren hier zusammen mit anderen fiskal- und kreditpolitischen Maßnahmen staatliche Eingriffe in die lokalen Finanzmärkte erfolgt, die das internationale Anlegervertrauen in den Hongkonger „Minimalstaat„ beschädigten und heftige Kritik auslösten.

Trotzdem konnte sich die Wirtschaft seit der Jahresmitte 1999 wieder erholen. Als wichtigste Gründe sind hier vor allem die zu diesem Zeitpunkt noch florierende US-Konjunktur und die gleichzeitig anziehende Nachfrage in der VR China zu nennen. Hongkong konnte sich somit aus der Krise herausexportieren und erzielte im Jahr 2000 ein Wirtschaftswachstum von 10,5 Prozent! Damit war die SVR in diesem Jahr die zehntgrößte Exportnation der Welt mit einem Anteil von 3,2 Prozent an den internationalen Gesamtausfuhren. Diese Zahlen werden angesichts der sich deutlich abzeichnenden Rezession in den USA in den nächsten Jahren kaum zu halten sein. Doch auch unabhängig davon steht der Hongkonger Wirtschaft eine harte Zeit bevor. Dies lässt sich nicht zuletzt am unverändert kritischen Zustand des Immobiliensektors ablesen, der annähernd 50 Prozent des Hongkonger BSP ausmacht. Zwar sind die Preise seit den Spitzenzeiten vor der Asienkrise um rund 50 Prozent gefallen; für die große Mehrheit der Bevölkerung ist Wohneigentum aber immer noch zu teuer. Abgesehen davon haben viele Besitzer große Schwierigkeiten, ihre Immobilien zu bezahlen: Da der Umfang der Hypothekenkredite an den tatsächlichen Eigentumswert gebunden ist und diesen ohnehin nicht vollständig abdeckt, erhalten die Käufer seit dem Zusammenbruch des Marktes weniger Kredit zur Finanzierung ihrer faktisch entwerteten, aber auf der Basis der alten Kaufverträge überaus teuren Objekte. Da die Hongkonger ihr Ausgabeverhalten schließlich im wesentlichen am Index der Immobilienpreise ausrichten, trägt die Misere an diesem Markt erheblich zu den schon länger zu beobachtenden deflationären Tendenzen in Hongkong bei.

Tatsächlich hat die private Binnennachfrage trotz umfangreicher konjunkturpolitischer Maßnahmen der Regierung ihr Niveau von 1997 noch nicht wieder erreicht. Deflation zeigt auch der seit 1999 negative Index der Konsumgüterpreise an. Dies und ein sich abzeichnender drastischer Rückgang des Exportgeschäfts lässt die Experten für das Jahr 2001 lediglich ein Wirtschaftswachstum zwischen 1-3 Prozent erwarten.

[Seite der Druckausg.:17]

Hongkong: Wichtige Wirtschaftsindikatoren 1997-2001
(Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in %)


1997

1998

1999

2000

2001

BSP-Wachstum

5,0

-5,3

3,0

10,5

2,51

Preisindex für Konsumgüter

5,7

2,8

-4,0

-3,8

-1,63

Privater Verbrauch

6,2

-7,4

0,7

5,4

2,82

Exporte

4,0

-10,9

-9,5

6,1

-13,13

Importe

5,1

-11,5

-2,5

19,0

0,73

Arbeitslosenquote

2,2

4,7

6,3

5,0

4,63

Devisenreserven (in Mio.$)

92,804

89.601

96,236

107,542

--

1Prognose
21. Quartal
3Januar-Juni

(Quelle: Census and Statistics Department, Hong Kong; Economist Intelligence Unit)

Die große Bedeutung des Immobiliensektors für die Hongkonger Wirtschaft verweist bereits auf strukturelle Verzerrungen, die durch den immer kleiner werdenden verarbeitenden Sektor bei gleichzeitigen Defiziten im Bereich der Entwicklung einer leistungsfähigen High-tech-Industrie noch deutlicher werden. Durch eine systematische Strategie der Auslagerung ihrer Produktionslinien nach Festlandchina trägt die Industrie Hongkongs heute nur noch mit ca. 15 Prozent zum BSP bei; beim verarbeitenden Sektor sind es nur noch knapp 6 Prozent. Diese Entwicklung hat das Angebot auf dem Arbeitsmarkt insbesondere für gering ausgebildete Kräfte beträchtlich verknappt - ein Problem, das sich durch die Zuwanderung aus der VR China in die SVR in den nächsten Jahren noch erheblich verschärfen dürfte. Zwar hat der gleichzeitig stark gewachsene Servicesektor, der heute einen Anteil von rund 85 Prozent des BSP erwirtschaftet, einen erheblichen Teil dieses Potentials absorbiert. Aber gerade seine dynamische Entwicklung hat die Fehlentwicklungen auf dem Immobilienmarkt enorm begünstigt, weil sich ein großer Teil der Aktivitäten in diesem Sektor auf diesen Wirtschaftszweig konzentriert.

Nicht zuletzt deshalb ist man sich allenthalben einig, dass die Sonderverwaltungsregion ohne eine starke industrielle Basis auf hohem technologischem Niveau ihre Zukunft nicht sichern kann. So verfolgt die SVR-Regierung das Ziel, die Wirtschaftsstruktur zu diversifizieren und dabei vor allem die Bereiche Informationstechnologie und Telekommunikation politisch und finanziell zu fördern. Es geht ihr darum, Hongkong zu einem internationalen Zentrum für Innovation, Technologie und wissensbasierte Industrien zu machen. Besonders aufmerksam muss man in diesem Zusammenhang das Cyberport-Projekt der SVR-Regierung verfolgen. Es handelt sich dabei um die Errichtung eines Gebäudekomplexes, in dem ab 2003 ca. 200 Unternehmen aus dem IT-Sektor eine komplette Infrastruktur für Forschung, Entwicklung und Präsentation zur Ver-

[Seite der Druckausg.:18]

fügung gestellt wird. Letztlich soll hier die größte digitale Stadt Asiens entstehen - ein Ziel, das angesichts der Nähe Hongkongs zum chinesischen Markt, einer wachsenden Zahl hochqualifizierter IT-Experten in der VR China sowie der Attraktivität des liberalen Rechts- und Wirtschaftssystems der SVR durchaus realistisch ist. Das Interesse an diesem Projekt scheint groß zu sein. So haben u.a. Cisco, IBM, Hewlett Packard und Microsoft einen letter of intent hinterlegt und gehören möglicherweise zu den ersten, die sich im Cyberport etablieren. Eine weitere Maßnahme der SVR-Regierung war die Einrichtung eines Growth Enterprise Market (GEM) an der Hongkonger Börse im September 1999, mit dessen Hilfe jungen Technologieunternehmen die Kapitalbeschaffung erleichtert werden soll. Nicht zuletzt vom Erfolg dieses Politikansatzes hängt es ab, ob Hongkong seine strukturellen Probleme lösen wird. Positiv wiegt dabei die volle Unterstützung der VR China, die Hongkong im erneuten Krisenfall zweifellos den Rücken stärken wird - so wie zuletzt anläßlich der Asienkrise mit der Entscheidung, den Renminbi mit Rücksicht auf die wirtschaftliche Lage in der SVR nicht abzuwerten.

Auf der konjunkturellen Seite dürfte der anstehende WTO-Beitritt der VR China von großem Vorteil für Hongkong sein, verspricht er der SVR doch wichtige Wachstumsimpulse im Dienstleistungssektor. Denn es steht zu erwarten, dass festlandchinesische Unternehmen mit Weltmarktambitionen noch stärker auf die Erfahrungen der Hongkonger Finanzdienstleister und Banken zurückgreifen werden. Abgesehen davon wird Hongkong natürlich von der zu erwartenden Intensivierung des chinesischen Außenhandels profitieren. Schon jetzt wickelt Hongkong etwa 30 Prozent seines Exportgeschäfts mit der VR China ab; bei den Re-Exporten, also dem Handel mit vornehmlich auf dem Festland produzierten bzw. veredelten Waren, die von dort zurück nach Hongkong gelangen und dann in Drittländer weiterexportiert werden, waren es sogar 35 Prozent. Mit einem Anteil von knapp 40 Prozent war die VR China am Jahresende 2000 der mit Abstand größte Handelspartner Hongkongs vor den USA (15 Prozent) und der EU (12 Prozent). Zwar wird Hongkong nach dem WTO-Beitritt der VR China gegen mehr internationale Wettbewerber auf dem chinesischen Markt antreten müssen, die ebenfalls kostengünstig produzieren und exportieren wollen; aber zumindest absolut gesehen wird sich der Anteil an diesem Kuchen weiter vergrößern und die wirtschaftliche Integration Hongkongs mit dem chinesischen Festland zu beiderseitigem Vorteil vorantreiben. Dies dürfte die negativen Folgewirkungen einer WTO-Mitgliedschaft der VR China für Hongkong - neben dem verstärkten internationalen Wettbewerb vor allem der Verlust der lukrativen Brückenfunktion durch dann entstehende direkte Handels- und Transportverbindungen zwischen Taiwan und dem chinesischen Festland - wohl kompensieren.

[Seite der Druckausg.:19]

Previous Item Page Top Next Item

Gesellschaft: Stabiles oder schwaches Gemeinwesen?

Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit Hongkongs kann ohne einen Blick auf die soziale Problemlage in der SVR nicht beantwortet werden. Diese hat sich in den letzten Jahren eindeutig verschärft, auch wenn darüber in den westlichen Medien so gut wie nie berichtet wird. Am ehesten hat sich hierzulande noch das Bild der Käfigmenschen eingeprägt - jener wohnungslosen Rentner und ökonomisch Marginalisierten, die sich in enge, übereinander gestapelte Drahtverschläge in dunklen Hinterhäusern einmieten. Sie stellen jedoch nur die unterste Stufe einer Armutshierarchie dar, die eine immer größere Bevölkerungsgruppe umfasst. Schon vor der Asienkrise, als Hongkong gemessen am BSP pro Kopf weltweit auf dem 4. Platz stand, lebten 600.000 Menschen - etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung - unterhalb der Armutsgrenze. Dieser Anteil hat sich bis 1999 auf 15 Prozent erhöht und ist ungeachtet der ökonomischen Erholung im Jahresverlauf 1999/2000 nicht gesunken. Dem steht auf der anderen Seite eine enorme Einkommenskonzentration gegenüber: Die reichsten 20 Prozent der Hongkonger vereinigen heute rund 50 Prozent des gesamten Einkommens auf sich und profitierten in den 90er Jahren von einem realen Einkommenszuwachs von knapp 30 Prozent. Die ärmsten 20 Prozent erreichen demgegenüber lediglich gut vier Prozent aller Einkommen und haben in der vergangenen Dekade eine fast 30-prozentige Entwertung ihrer Löhne und Gehälter hinnehmen müssen. Die 200.000 reichsten Hongkonger Haushalte verdienen derzeit mehr als das 23-fache der 200.000 ärmsten Familien.

Zudem werden mehr als 90 Prozent der Güter des täglichen Bedarfs von weniger als zehn Familienunternehmen bzw. Großkonzernen kontrolliert. Ein besonders prominentes Beispiel ist der Tycoon Li Ka-shing, einer der reichsten Männer der Welt. Sein gewaltiges Firmenimperium kontrolliert mit einem Wert von knapp 170 Milliarden US-Dollar rund ein Viertel des Hongkonger Aktienmarktes. Diese Überkonzentration von Reichtum und ökonomischer Verfügungsgewalt in den Händen einer kleinen Wirtschaftselite, die zudem eng mit der politischen Klasse Hongkongs verbandelt ist, ruft bereits seit einigen Jahren internationale Besorgnis hervor. So verabschiedete zum Beispiel das Europäische Parlament im September 2000 eine Erklärung, in der es die Monopolisierung der Hongkonger Wirtschaft rügte und neue Anti-Kartellbestimmungen einforderte.

Derweil hält die SVR-Regierung an einem überaus restriktiven sozialpolitischen Kurs fest. Sie finanziert nur eine rudimentäre Sozialversicherung. Ebenso zurückhaltend ist sie bei arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und berufsqualifizierenden Programmen. Grund dafür ist - abgesehen von der hohen Kostenbelastung - die Logik des „Minimalstaates„, der die soziale Absicherung der Bevölkerung im wesentlichen den

[Seite der Druckausg.:20]

Familien überlassen und allenfalls Chancengleichheit bei Ausbildung und Arbeitssuche garantieren will. Deshalb lehnt die Regierung auch einen gesetzlichen Mindestlohn ab. Allerdings hat diese Politik in den letzten Jahren zu einer drastischen Verschlechterung der Lebenssituation der unteren Einkommensschichten geführt, die durch die anhaltende Verlagerung der arbeitsintensiven Industriezweige nach Südchina und die gleichzeitige Zuwanderung geringqualifizierter Kräfte aus der VR China enorm unter Druck geraten sind. Somit spitzt sich in Hongkong derzeit ein gesellschaftlicher Konflikt zu, dessen politische Sprengkraft durch die Konzentration der nationalen und internationalen Aufmerksamkeit auf die Einhaltung des chinesischen Autonomieversprechens einstweilen noch überdeckt wird. Allerdings nehmen sich immer mehr Nichtregierungsorganisationen und allmählich auch die politischen Parteien der sozialen Frage an. Damit droht der SVR-Regierung Ungemach, denn eine Aufheizung des sozialen Klimas hätte unmittelbare Auswirkungen auf das internationale Anlegervertrauen. Der Strukturwandel Hongkongs muß deshalb von einer entschiedenen und mutigen Sozialpolitik begleitet werden. Sollte die Regierung weiterhin nur die Interessen der Unternehmer und der mit fürstlichen Gehältern ausgestatteten staatlichen Angestellten im Blick haben, könnte dies ihre innenpolitische Position weiter schwächen.

Previous Item Page Top

Ausblick

Hongkong hat die ersten vier Jahre als chinesische Sonderverwaltungsregion relativ gut überstanden, obwohl die Startbedingungen durch die Asienkrise 1997/98 alles andere als optimal waren. Die politischen Institutionen sind trotz der Verfassungskrise um die Frage des Einwanderungsrechts für chinesische Staatsbürger stabil geblieben. Meinungs- und Organisationsfreiheit sind trotz offensichtlicher Fälle von selbstauferlegter Zensur und ungeachtet kritischer Einwürfe aus Beijing weiterhin gegeben. Insgesamt hält sich VR China an ihre Vorgabe, dass „Hongkong von Hongkongern„ regiert werden soll. Allerdings hat der Blick auf das politische System klar gemacht, dass die wechselseitige Paralyse von Exekutive und Legislative für die zukünftige Autonomie Hongkongs ebenso problematisch ist wie eine unnötige Einschaltung des Nationalen Volkskongresses bei strittigen Fragen zwischen Regierung und Justiz. Schließlich ist die Hongkonger Wirtschaft trotz ihrer scheinbaren Erholung im vergangenen Jahr alles andere als über den Berg. Der erfolgreiche Wandel hin zu einem internationalen Hochtechnologie- und Dienstleistungszentrum ist zwingende Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit Hongkongs, nicht zuletzt mit Blick auf die konkurrierenden chinesischen Metropolen Shanghai und Kanton. Aber auch die soziale Frage darf die Regierung nicht weiter ignorieren, will sie nicht durch eine Politisierung der großen Masse der geringverdie-

[Seite der Druckausg.:21]

nenden Lohnempfänger in Schwierigkeiten geraten.

Besonders fürchten muss die SVR-Regierung eine länger anhaltende Rezession. Dann nämlich dürfte der Druck auf sie spürbar steigen - zum einen aus den Reihen eines mit seiner weitgehenden Einflusslosigkeit unzufriedenen Legislative Council, dessen demokratische Kräfte dann noch entschiedener die Gesetzgebung der Regierung Tung Chee-hwa bekämpfen würden; zum anderen durch eine politisierte Öffentlichkeit, die die Legitimität dieser Regierung vor allem an ihren wirtschaftlichen Erfolgen misst und bei negativen Wachstumszahlen die mächtige Allianz aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung zukünftig noch stärker attackieren dürfte. All dies liefe den Stabilitätswünschen der chinesischen Regierung entgegen und könnte ihre zunehmende Intervention in Hongkong provozieren - sehr zum Nachteil der Autonomie und des erreichten Grades an Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in der SVR.

Der wirtschaftliche Zustand Hongkongs ist neben der Reformfähigkeit seiner Regierung natürlich von der internationalen und der chinesischen Konjunktur abhängig. Es war nicht zuletzt die chinesische Nachfrage nach Investitionen und Reexporten aus Hongkong, die der SVR-Regierung aus den Untiefen der Asienkrise herausgeholfen hat. Sie ist auch dafür verantwortlich, dass die gegenwärtige Rezession in den USA nicht in dem Maße auf Hongkong durchschlägt wie etwa auf die Volkswirtschaften Südkoreas, Singapurs oder Taiwans. Deshalb wird zukünftig eine wichtige Rolle spielen, dass die chinesische Wirtschaft durch die dynamische Entwicklung ihrer Märkte die Exportabhängigkeit Hongkongs von den USA und Europa weiter reduzieren wird und damit die Anfälligkeit der SVR für weltkonjunkturelle Abschwünge zumindest erheblich abfedern kann. Gleichzeitig wird sich die wirtschaftliche Integration Hongkongs mit China dadurch weiter vertiefen, was vor allem für die Entwicklung des chinesischen Hinterlandes von Hongkong von großer Bedeutung ist.

Es bleibt die Frage nach der langfristigen politischen Ausstrahlungskraft Hongkongs auf die VR China. Welchen Einfluss auf die Entwicklung im Mutterland hat die Tatsache, dass mit der neuen Sonderverwaltungsregion nicht nur eine kapitalistische Enklave geschaffen wurde, sondern dass mit Blick auf die Pressefreiheit, die Unabhängigkeit der Justiz sowie einen lebendigen Parteienpluralismus und Parlamentarismus durchaus auch von einer „Sonderpolitikzone„ gesprochen werden kann? In der Tat liefert Hongkong reichhaltiges Anschauungsmaterial für die politischen Strategen in Beijing, wie etwa ein System der Gewaltenteilung auf chinesischem Boden funktioniert. Auch könnte das Modell Hongkong die Kommunistische Partei zukünftig stärker an die Idee des Föderalismus gewöhnen, in dem viele Beobachter eine unabweisbare Notwendigkeit für die Modernisierung des politischen Systems der VR China sehen. Schließlich ist auffällig, wie viele

[Seite der Druckausg.:22]

Delegationen chinesischer Provinzen in den letzten Jahren Hongkong besucht haben, um die genaue Funktionsweise des Modells ‘ein Land, zwei Systeme’ zu studieren. Zwar darf man deshalb die unmittelbare Einwirkung dieses Modells auf das kontinentale China nicht überschätzen. Sollten sich die dortigen Machthaber jedoch dazu entschließen, das politische System der VR China weiter zu öffnen und vor allem den Provinzen mehr Autonomie zuzugestehen, so dürfte die in Hongkong geübte Praxis die entsprechende Entscheidungsfindung in Beijing zumindest erheblich erleichtern.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2001