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Die drei Dimensionen der Krise oder: War die Krise vorhersehbar?

Das erwöhnte Fehlen eines allgemein überzeugenden Erklärungsmusters zur Entstehung und zu den Begleitumständen der Asienkrise(n) soll erneut betont werden, weil nach dem Ausbruch der Krise ein schleichender Prozeß der "Legendenbildung" zu beobachten war. Nach und nach hat die Zahl derjenigen zugenommen, die schon immer gewußt haben wollten, daß es in Asien so kommen müsse, wie es gekommen ist. Dem hält der Autor nachdrücklich entgegen, daß die eruptionsartige Krisenentwicklung in Ostasien von niemandem vorhergesehen wurde, weder in den verschiedenen Außen- und Wirtschaftsministerien der Welt noch in der internationalen Finanzgemeinschaft oder den sogenannten "risk rating agencies", noch in den Unternehmensverbänden und auch nicht in den Asienwissenschaften. Es scheint daher wenig zweckdienlich, wenn verschiedene Beobachter jetzt zum Zeichen ihrer früheren "Nachdenklichkeit" auf einzelne verstreute Aussagen verweisen, die ihnen in die üblichen Lobgesänge geraten waren. Aussagen, aus denen für die Analyse keine Schlußfolgerungen gezogen werden, sind eben keine echten Aussagen.

Bis heute gibt es drei unterschiedliche "Lager", die sich hinsichtlich der Ursachen und der Schuldzuweisungen für die Krise mehr oder weniger unversöhnlich gegenüberstehen. Das erste Lager erklärt die Geschehnisse mit Hilfe von "nonsense"-Ideen, so z.B. westliche Konspirationen zur Unterwerfung Asiens. Der prominenteste Repräsentant dieser Richtung dürfte wohl Malaysias Ministerpräsident Mahathir sein. Der Autor ist kein Psychoanalytiker. Er fühlt sich deshalb nicht befähigt, auf diese Vorstellungen näher einzugehen. Im zweiten Lager finden sich vor allem Beobachter, die in erster Linie die internationale Finanzwelt bzw. die Instabilität des globalen Finanzsystems für den Krisenausbruch verantwortlich machen, also nur einen relativ geringen Teil der Schuld auf der asiatischen Seite ansiedeln wollen. Im dritten Lager haben sich diejenigen gesammelt, die vor allem ein systembedingtes Mißmanagement der meisten nordost- und südostasiatischen Regierungen beklagen, also im wesentlichen ein Versagen der dortigen Ordnungspolitik diagnostizieren. Die Hauptargumente dieser Richtung sind oben bereits unter dem Stichwort "sechs Todsünden" aufgelistet worden.

Unabhängig von der Frage, welche Erklärungen man für überzeugender hält. Tatsache ist: Die Krise(n) war(en) nicht vorhersehbar, schon allein deswegen nicht, weil sie nicht unvermeidlich war(en). Das bedarf einer Begründung, in deren Folge die verschiedenen Ebenen bzw. Dimensionen der Krise beleuchtet werden, die den Erklärungszusammenhang so komplex wirken lassen.

Auf der unteren Ebene der einzelnen Länder hat die Krise eine jeweilige nationale Dimension. Hier sind die internen Ursachen angesiedelt, die zur Auslösung der negativen Entwicklungsabläufe beigetragen haben. Sie variieren von Land zu Land. Von dieser Perspektive her handelt es sich also um mehrere Krisen in Asien, deren Lösungen partiell unterschiedlicher politisch-wirtschaftlicher Reformmaßnahmen und Programmschwerpunkte bedürfen. Gewisse volkswirtschaftliche Fehlentwicklungen auf dieser Ebene waren vorhersehbar und sind vorhergesehen worden. Sie wurden auch vom Autor in mehreren früheren Beiträgen kritisch angesprochen. Er war allerdings davon ausgegangen, daß genügend Zeit zur Verfügung stehe, sich auf die Bewältigung der Probleme einzustellen. Ein Irrtum, wie man heute weiß!

Der Fehlschluß wird erklärlich, wenn man die zweite große Krisenebene bzw. -dimension in Betracht zieht. Die wirtschaftlichen, insbesondere industriellen Verflechtungstendenzen in der ostasiatischen Region hatten sich seit 1987/88 ständig weiter beschleunigt. Das ist keine neue Erkenntnis. Seit Jahren standen die Diskussionen um die großen intraregionalen "Investitionsoffensiven" und die Herausbildung transnationaler Produktionsnetzwerke im Mittelpunkt zahlreicher Abhandlungen. Was jedoch in dem allgemein euphorisch eingefärbten Diskussionsklima völlig ausgeblendet blieb, das waren Szenarien zu den schwerwiegenden potentiellen Implikationen solcher regionalen Verflechtungserscheinungen im Falle gravierender negativer Einflüsse von außen. Diese Verflechtungserscheinungen haben entscheidend dazu beigetragen, die örtlichen Krisen auf der regionalen Ebene zu einer einzigen zu bündeln (sogenanntes "contagion"-Argument).

Mitte 1997 erfolgten dann - nahezu ohne Vorwarnung - die negativen "Einschläge" von außen. Sie verliehen der Krise eine dritte Ebene bzw. Dimension, die globale Dimension. Gleich ob internationale Währungsspekulanten, japanische und westliche Bankkonzerne oder örtliche Finanzinstitute, die Finanzwelt "aktivierte" die Krise in Asien, ein Sachverhalt, den die Financial Times vom 6. Januar 1998 unter dem Titel "Why banks are dangerous" polemisch-kritisch "sezierte": "Eine wichtige Lehre aus der asiatischen Krise ist, daß die internationalen Kapitalströme die wirtschaftliche Stabilität bedrohen können." Wie das zu verstehen ist, machte die International Herald Tribune vom 10. Januar 1998 klar. Unter der Überschrift "Financial Community Contributed to the Mess, Too" hieß es: "Die Finanzherde flüchtete im Juli voll Panik (stampeded) von den asiatischen Märkten und trampelte in ihrem unkontrollierbaren Gedränge ganze Volkswirtschaften nieder... Das ist die psychologische Dimension, die man verstehen muß. Die gewaltigen Kapitalströme schufen in den Köpfen der Investoren ein Finanz-Asien, das nichts mit den tatsächlichen nationalen Bedingungen und politischen Strukturen gemein hatte, in die das Geld floß. Asien wurde zum Eldorado."

Im Verlaufe des Jahres 1998 hat die Zahl derjenigen eindeutig zugenommen, die überzeugt sind, daß die Krise in Asien ohne das zerstörerische Wirken sogenannter "animal spirits" nicht zu erklären ist. Der Terminus - geprägt von Keynes im Klima der großen Depression - bezieht sich auf das vermeintlich grundlegende psychische Reaktionsmuster internationaler Finanzakteure, das - wie die Kritiker vermuten - "binärer Natur" sei, also nur zwei Reaktionen kenne: Angriff oder (panikartige) Flucht. Mit anderen Worten: Was in Asien in erster Linie passierte, war nach Ansicht dieser Beobachter das Werk einer sich selbst verstärkenden Finanzkrise, ausgelöst durch eine defekte Panik-Logik, die allen Finanzkrisen innewohnt. Alle anderen Vorgänge seien nur sekundäre Folgeerscheinungen gewesen. Der wohl prominenteste Repräsentant dieser Argumentationsrichtung ist der renommierte Harvard-Ökonom Jeffrey Sachs.

Die globale Dimension läßt die Asienkrise in einer neuen Perspektive erscheinen, die bisher - wegen ihrer Neuartigkeit - noch immer nicht hinreichend analysiert worden ist. Sie stellt möglicherweise die größten Herausforderungen an das weltwirtschaftliche Ordnungsvermögen, und sie zeigt, wie institutionell unfertig die globale Ordnung ist, wie leicht sie in Teilen oder gänzlich aus der Balance geraten kann. Der Autor ist davon überzeugt, daß es sich bei der Asienkrise um den ersten Präzedenzfall eines völlig neuen Typus von Krise handelt, der sein Entstehen dem großen weltwirtschaftlichen Trend zur Globalisierung zu "verdanken" hat.

Im Bereich der globalen Finanzen ist dieser Trend am weitesten fortgeschritten. Zur Zeit beläuft sich der Tagesumsatz des kurzfristigen Kapitals, das elektronisch um den Erdball kommuniziert wird, auf eine nahezu unvorstellbare Größenordnung von 1.300 Milliarden US-Dollar, wohlgemerkt: pro Tag. Grundmerkmal dieses Geldes ist es, höchst abstrakt zu sein, und je abstrakter Geld ist, desto vergänglicher ist es, was unter anderem die hohen Panikneigungen der Beteiligten verständlich macht. Dennoch: Wesentlicher erscheint, daß die Logik der Situation alle Akteure dazu zwingt, permanent nach Möglichkeiten zu suchen, die auch nur den geringsten Gewinn versprechen, und zugleich ein Höchstmaß an "Fluchtwegen" offenzuhalten. Durch diesen unablässigen Situationsdruck bedingt, hat sich die internationale financial community im Verlaufe der Jahre offensichtlich in eine immer problematischer werdende Konstellation hineinmanövriert. In ihrem eigenen Jargon: Der Selbstlauf der gewaltigen "cyberspace"-Kapitalien blies nach und nach eine riesige bubble auf, die 1997 schließlich an ihrer schwächsten Stelle platzte, und diese Stelle war Ostasien. Wenn das so ist, muß in Zukunft mit der Möglichkeit der Entstehung weiterer "Asienkrisen" an anderen "schwachen Stellen", auch außerhalb Asiens, gerechnet werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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