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Ein Ministerpräsident des ganzen Volkes?

Das Wahlergebnis vom 17. Mai macht deutlich, daß Baraks Erfolg keineswegs ein Sieg der Linken war, denn Netanjahus gescheiterte Regierungskoalition kam auf genau die Hälfte aller Parlamentssitze. Für Barak war deshalb schon in der Wahlnacht klar, daß er für eine regierungsfähige Mehrheit Stimmen von den Rechten und Religiösen brauchen würde. Daher seine versöhnliche Botschaft auf dem symbolträchtigen Rabin-Platz in Tel Aviv, wo im November 1995 sein großes Vorbild Jitzhak Rabin von einem jüdischen Fanatiker ermordet wurde. Dieser hatte zuletzt mit einer Minderheitsregierung und Duldung durch die arabischen Parteien seine Friedenspolitik durchzusetzen versucht und sah sich einem permanenten Druck der Straße ausgesetzt, der mit haßerfüllten Tiraden gerade auch des damaligen Oppositionsführers Netanjahu verbunden war und schließlich zu seiner Ermordung führte. Barak hat diese Lektion verstanden und strebt deshalb die Einbindung von Teilen der Rechten und Religiösen an.

Dieses taktische Ziel ist aber mit einem längerfristigen, strategischen Ziel gekoppelt. Seitdem die Awoda 1977 erstmals nach fast 30 Jahren Regierungszeit die Wahlen verloren hatte, sieht sie sich einem grundlegenden Dilemma gegenüber: aufgrund der demographischen Entwicklung ist sie nicht mehr mehrheitsfähig. Orientalische (sephardische) Juden und Orthodoxe (zum Teil überschneidet sich dies) haben wesentlich höhere Geburtenraten als die säkularen aschkenasisch-europäischen Juden. Wählerstimmen bei den Orthodoxen zu holen, ist für die Linke aussichtslos; in diesem sich rasch ausbreitenden Milieu gilt ausschließlich das Wort der Rabbiner. Bei den orientalischen Juden, die aus den arabischen und nordafrikanischen Ländern stammen, ist ein tiefsitzendes Mißtrauen gegenüber dem linken Establishment vorhanden, das als Träger des Staatsaufbaus in den fünfziger Jahren die damaligen Neueinwanderer als kulturell minderwertig behandelte und sie mit zum Teil drakonischen Maßnahmen zu „richtigen" Israelis erziehen wollte. Diese Behandlung haben selbst deren Nachkommen in der mittlerweile dritten Generation nicht vergessen und deshalb seit über zwanzig Jahren konsequent für anti-linke Parteien gestimmt, zunächst überwiegend für den nationalistischen Likud, nunmehr immer stärker für die religiöse Schas.

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Werben um die Sepharden

Barak hat schon als Oppositionsführer dieses Dilemma erkannt und mit häufigen Besuchen in den ärmlichen Vorstädten und den „Entwicklungsstädten" im Süden, in denen die meisten orientalischen Juden leben und wo die Arbeitslosigkeit am höchsten ist, um diese Bevölkerungsschicht geworben. Er entschuldigte sich bei einem dieser Besuche sogar öffentlich für die schlechte Behandlung der Sepharden durch das damalige Establishment – und handelte sich prompt heftige Kritik von seinem Vorgänger Peres ein, der als Urgestein dieses Establishments keinerlei Anlaß zur Selbstkritik sah. Doch Baraks Strategie zielt weiter: er weiß, daß selbst er, der zweite Mr. Security, mit dem Thema Frieden und Sicherheit keine Mehrheit erzielen kann, ist doch auf diesem Feld die Rechte nicht zu schlagen. Er stellte deshalb im Wahlkampf neben seiner militärischen Vergangenheit vor allem wirtschafts- und gesellschaftspolitische Themen in den Vordergrund, die den Nöten und Bedürfnissen der orientalischen Juden entsprechen, gehören diese doch überwiegend zu den sozial benachteiligten Schichten der israelischen Bevölkerung. Als unermüdlicher und charismatischer Prediger hat sich in diesem Milieu dabei der Geschichtsprofessor und Ex-Diplomat Schlomo Ben-Ami bewährt, der – selbst aus Marokko stammend – im Vorfeld der Wahlen von den Parteimitgliedern überraschend auf den ersten Platz der Awoda-Liste gewählt wurde.

Daß es Barak ernst ist mit seinen Wahlversprechen und er längerfristig denkt, zeigt sich daran, daß sich von seinen zehn Leitlinien der Regierungspolitik sieben mit Wirtschaft und Gesellschaft befassen. So versprach er u. a. eine Umschichtung des Haushalts zugunsten der unteren Einkommensschichten, die Schaffung von 300 000 Arbeitsplätzen, eine Reform des Gesundheitswesens, freie Erziehung und Bildung vom Kindergarten bis zur Universität, gleiche Chancen für Frauen und Gleichbehandlung von Minderheiten und vieles mehr. Der neue Regierungschef weiß, daß er nur so Chancen auf eine Wiederwahl in vier Jahren hat, auch wenn diesmal nur die wenigsten Stimmen aus dem sephardischen Lager kamen und ihn die „Russen" (wie sie in Israel salopp genannt werden) letztlich vor dem demographischen Dilemma bewahrten. Die massive Einwanderung aus der früheren Sowjetunion in der ersten Hälfte der neunziger Jahre, als eine knappe Million Menschen nach Israel kam, konnte den demographischen Trend aber nur vorübergehend stoppen, denn inzwischen ist der Zustrom weitgehend versiegt. Außerdem sind die „Russen" von Haus aus nicht gerade begeisterte Linke und Friedensfreunde, wie sich an ihrem Wahlverhalten vor vier Jahren gezeigt hatte.

So hängt die strategische Mehrheitsfähigkeit der israelischen Linken in der Tat davon ab, ob sie in der Lage ist, in die sephardischen Wählerschichten von Likud und Schas einzubrechen. Dazu bedarf es aber noch einer weiteren Voraussetzung: Barak muß möglichst rasch den Rücken in friedenspolitischer Hinsicht frei bekommen, um sich im zweiten Teil seiner Amtszeit ungestört den oben genannten Themen widmen und darauf aufbauend einen Wahlkampf führen zu können, in dem die Themen Frieden und Sicherheit keine Rolle mehr spielen. Am besten wäre natürlich eine umfassende Friedensregelung sowohl mit Palästinensern als auch mit Syrien/Libanon; zur Not würde aber auch der auf den ersten Blick einfacher erscheinende syrische „track" ausreichen, um ihm das Image eines Friedensbringers zu verschaffen. Nicht zu vergessen ist außerdem, daß Barak auch mit dem Anspruch angetreten ist, die tiefe Kluft zwischen religiösen und säkularen Israelis zu beseitigen. Ein Ministerpräsident für das ganze Volk, wie er es in der Wahlnacht formulierte. Und dazu gehört schließlich auch, die ökonomischen Voraussetzungen für sein Reformprogramm zu schaffen, das beim gegenwärtigen Zustand der israelischen Wirtschaft wohl kaum umzusetzen ist.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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