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3. Das strukturelle Problem: Krise des „japanischen Modells"?

Wissenschaftliche, vor allem aber journalistische Beobachter identifizieren die gegenwärtige Krise Japans als "Modellkrise": Ein in der Vergangenheit äußerst erfolgreiches institutionelles Arrangement hat sich unter den Bedingungen der Globalisierung und des intensivierten internationalen Wettbewerbs in ein Wachstumshindernis verwandelt. Dabei wird das "japanische Modell" meist als eine Summe von Abweichungen vom angloamerikanischen Standardmodell gekennzeichnet. Es wird ein Zwang zur Konvergenz angenommen, dem sich Japan aber aus verschiedenen Gründen - in erster Linie unter dem Druck mächtiger Partikularinteressen - zu entziehen versucht.

Wie immer man das "japanische Modell" im Detail definiert (derartige Definiionsversuche füllen Bibliotheken), sein zentrales Charakteristikum liegt darin, daß staatliche Regulierungen und private Managementpraktiken eine Situation herbeigeführt haben, in der zu viel Kapital und zu viele Arbeitskräfte in suboptimalen Anwendungen - in Anwendungen, die im internationalen Vergleich niedrige Erträge abwerfen - gebunden sind. Die potentielle Wachstumsrate ist m.a.W. niedrig oder negativ. Diese setzt sich zusammen aus der Wachstumsrate des Arbeitskräfteeinsatzes (bzw. der Höherqualifikation der Arbeitskräfte), der des Kapitaleinsatzes und der der Totalen Faktorproduktivität, die die Effizienz des Arbeits- und Kapitaleinsatzes widerspiegelt.

Da das Problem Japans im ineffizienten Einsatz von Arbeit und Kapital liegt, besteht die Lösung im Abbau von Regulierungen und der Durchsetzung der Kapitalmarktdisziplin, die zur Zeit aufgrund unangemessener Managementpraktiken von den Unternehmen abgefedert wird. Deregulierung und Kapitalmarktdisziplin vorausgesetzt, werden die Unternehmen ihre Ressourcen in die Betätigungen lenken, die die höchsten Erträge abwerfen - oder sie werden bankrott gehen, neue Unternehmen werden an ihre Stelle treten und neue Produkte und Dienstleistungen anbieten. Eine expansive Geld- und Fiskalpolitik würde diesen notwendigen Prozeß "kreativer Zerstörung" nur unterminieren und ein artifizielles Umfeld schaffen, in dem nicht mehr effiziente Aktivitäten überleben können. Sie würde den notwendigen Strukturwandel künstlich verlängern.

Natürlich ist dieses Argument nicht abwegig. Aufgrund der "lebenslangen Beschäftigung" (die freilich in der Auflösung begriffen ist), der engen, nicht marktmäßigen Beziehungen zwischen den Unternehmen und ihren Zulieferern, Abnehmern und Kreditgebern sowie zwischen Management, Belegschaften und formellen Eignern sind Produktionsfaktoren stärker als in anderen Volkswirtschaften "festgelegt". Dieselben Mechanismen, die die wirtschaftlichen Erfolge Japans in der Vergangenheit erklären, haben auch die Herausbildung einer dualistischen Wirtschaftsstruktur befördert, d.h. das Nebeneinander eines Segments hocheffizienter exportorientierter Großunternehmen und eines Segments wenig effizienter, vor internationaler Konkurrenz geschützter Unternehmen meist kleiner oder mittlerer Größenordnung. Der Schutz nicht-effizienter Aktivitäten durch staatliche Regulierungen oder durch Konventionen verzögert in der Tat notwendige Anpassungen und führt in der Tendenz zu einer rückläufigen potentiellen Wachstumsrate. Dasselbe Argument würde freilich auch für andere Länder gelten, ohne daß eine rückläufige potentielle Wachstumsrate in jedem Fall mit einer schweren Depression einherginge. Was Japan angeht wurde ein Rückgang der potentiellen Wachstumsrate bereits Anfang der 80er Jahre registriert - auf eine Größe, die zwischen 2 und 3 Prozent liegt. Es gibt keine Hinweis, daß die potentielle Wachstumsrate seit Beginn der 80er Jahre zurückgegangen ist. Auf keinen Fall liegt sie bei Null oder ist negativ. Also gibt es eine Differenz zwischen potentieller und wirklicher Wachstumsrate und damit Spielraum für makroökonomisches Nachfragemanagement.

Das Gegenargument, die makroökonomische Steuerung unterminiere die Selbstheilungskräfte des Marktes, gleicht der anläßlich eines Großbrandes erhobenen Forderung, sofort die Feuerwehr abzuschaffen, da deren Existenz die präventive Brandbekämpfung beeinträchtigt habe. Selbst wenn die Marktkräfte "langfristig" eine Selbstheilung herbeiführen sollten, wären die in der Zwischenzeit anfallenden Kosten der "kreativen Zerstörung" gewaltig. Wenn sich die Krise Japans - u.a. wegen des Verzichts auf makroökonomische Steuerung - nicht zu einer, sondern zu "der" Großen Depression (mit großem "G") auswächst, wären die Folgewirkungen nicht mehr kalkulierbar. Und wenn die japanische Wirtschaft wie 1998 in jedem Jahr wirtschaftliche Werte in der Größenordnung des thailändischen Sozialprodukts vernichtet, wäre dies für das Land, die Region und die Welt ein extrem hoher Preis. Insofern gibt es durchaus eine Parallele der derzeitigen japanischen Krise und der von ihr wiederbelebten Diskussion zur Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre. Auch in den 30er Jahren wandten sich prominente Wirtschaftswissenschaftler wie Hayek und Schumpeter (die sogenannten "Liquidationisten") gegen staatliches Nachfragemanagement, damit die kathartische oder kreativ-destruktive Wirkung der Krise nicht unterlaufen werde - unter dem Gesichtspunkt der reinen Marktwirtschaft korrekt, aber unter impliziter Inkaufnahme "der" Großen Depression - einschließlich ihrer politischen Konsequenzen.

Dies alles soll nicht heißen, daß Deregulierung und Strukturreformen nicht notwendig wären. Es muß jedoch genau abgewogen werden zwischen den langfristig expansiven und den kurzfristig kontraktiven Folgen derartiger Reformen. Direkt und absehbar kontraktiv wirkende Reformen sollten zum gegenwärtigen Zeitpunkt vermieden werden. Noch viel schädlicher allerdings ist die Reform- und Deregulierungsdiskussion, wie sie derzeit geführt wird. Diese Diskussion hat in der Praxis eher magere Ergebnisse gebracht, die generelle Unsicherheit aber deutlich verstärkt. Zweitens müßten sich Reformen auf die Bereiche konzentrieren, die für die Krisenüberwindung besonders wichtig sind. Wenn die Krise, wie dargelegt wurde, auf das Sparverhalten der Haushalte und dieses auf als neu wahrgenommene soziale Risiken zurückgeht, müßte das Ziel von Reformen in der partiellen Entprivatisierung sozialer Risiken liegen. Das heißt nicht unbedingt, daß Sozialleistungen in Japan generöser verteilt werden sollten. Es geht weniger um deren Höhe als um die Sicherheit, mit der die Arbeitnehmer im Falle des Eintritts sozialer Risiken auch automatisch öffentliche Sozialleistungen erwarten können. Auf diese Weise würden Sozialleistungen als automatische Stabilisatoren wirken, die das staatliche Nachfragemanagement entlasten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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