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3. Leistungen und Defizite des Systems

Die Auseinandersetzungen um Finanzverfassung und Finanzausgleich waren immer heftig, langwierig und schwierig. Der Parlamentarische Rat hinterließ bekanntlich ein Provisorium. In den 50er Jahren konnten Finanzausgleichsregelungen meist erst nach Abschluß des Haushaltsjahres verabschiedet werden. Die Finanzreform von 1955 erfüllte die in sie gesetzten Erwartungen nicht. Eine neue Finanzreform kündigte Bundeskanzler Adenauer in seiner letzten Regierungserklärung 1961 an, erst 1969 wurde sie verabschiedet. Beide Finanzreformen sanktionierten und systematisierten eher längerfristige Entwicklungen, als daß sie Weichen neu gestellt hätten: Wesentliche Kehrtwenden haben nicht stattgefunden. Nimmt man die Auseinandersetzungen und Entwicklungstendenzen der 80er und 90er Jahre hinzu, so sind zwei Feststellungen sicherlich nicht ganz falsch: erstens, gibt es kaum ein konfliktreicheres und schwieriger zu befriedendes Politikfeld in der deutschen Innenpolitik, und zweitens, trotz hoher Konfliktintensität und trotz zahlreicher Anpassungsleistungen ist die Entwicklung insgesamt relativ gradlinig und moderat verlaufen.

Ungeachtet konfliktreicher Auseinandersetzungen und wenig struktureller Änderung wird man der Finanzverfassung und dem Finanzausgleichsystem Leistungen nicht absprechen können. Vor der deutschen Einheit hatte die Bundesrepublik als Bundesstaat einen Grad an Homogenität der Versorgung mit öffentlichen Gütern erreicht wie nur wenige vergleichbare unitarische Staaten. Durch die Instrumente der Finanzverfassung wurde verhindert, daß schwache Regionen wirklich arm und von der wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt wurden. Auch beim Aufbau der neuen Länder hat sie sich in wesentlichen bewährt. Die Finanzverfassungsreform von 1969 hat sich entgegen vielfach anderen Erwartungen als geeignete Grundlage zur Einbeziehung der neuen Länder in die Finanzverfassung des Grundgesetzes erwiesen. Läßt man einmal die politischen Ankündigungen während des Vereinigungsprozesses außer acht und erinnert sich statt dessen an die reale Ausgangslage 1990, dann hat sich angesichts des Erreichten – bei allen Problemen und Fehlern im Detail – die föderative Strategie vermutlich als effizienter erwiesen als mögliche zentralistische Alternativen. Die politische Stabilität der Bundesrepublik ist zu einem nicht geringen Teil auf diese Leistungsfähigkeit der Finanzverfassung zurückzuführen.

Gleichwohl hat das System aus ökonomischer Sicht falsche Anreize entwickelt. Es erlaubt dem Bund, seine politischen Ziele auf Kosten der Länder zu verfolgen. Die Umsatzsteuerverteilung zwischen Bund und Ländern nach dem Deckungsquotenverfahren prämiert das Schuldenmachen. Die Abschöpfungs- und Auffüllungsquoten im horizontalen Ausgleich bieten wenig Anlaß, sich um eine Erhöhung der Steuererträge zu bemühen, und schließlich besteht die Gefahr, daß die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil von 1992 zur extremen Haushaltsnotlage als ein Freibrief für eine Ausweitung der Verschuldung interpretiert wird. Im Verhältnis der Länder untereinander bestehen insbesondere für die kleineren - gemessen an den Maßstäben des Finanzausgleichssystem - schwächeren Länder Anreize zum "Trittbrettfahren". Die Geschichte des bundesstaatlichen Finanzausgleich kennt zahlreiche Beispiele, in denen kleine und schwache Länder ihre Stimmen im Bundesrat regelrecht "verkauften". Der Modernisierungsdruck ist für kleine Länder, deren Finanzkraft in erster Linie von ihrer Stellung im Finanzausgleichsystem abhängt, geringer als in anderen Ländern.

Es läßt sich kaum ernsthaft von der Hand weisen, daß die Kritik an Fehlanreizen gerechtfertigt ist. Allerdings verzerren die modelltheoretischen Betrachtungen die tatsächlichen Handlungsmotive von Politik und Verwaltung in Bund und Ländern in einer Weise, die zu Fehlschlüssen führt. Handlungsleitend für den Politiker sind weniger Erwägungen über zukünftige Steuereinnahmen als vielmehr politische Anreize, legitimatorische Gesichtspunkte, Ressort- und andere Interessen, konkret beispielsweise die Schaffung von Arbeitsplätzen. Neue Arbeitsplätze sind nicht nur ein Werbeargument des Stimmen maximierenden Politikers im Wahlkampf, sondern sie tragen sowohl zum Wirtschaftswachstum in der Region und damit zur Stärkung der regionalen Steuerkraft als auch zu einer Senkung der öffentlichen Ausgaben, insbesondere der Sozialausgaben, bei. Zwar fehlen dem Finanzausgleichssystem zweifellos Anreize zur Stärkung der Steuerkraft, aber die vorhandenen politischen Anreize haben eine – wenn man so will – nicht intendierte positive Nebenwirkung zugunsten der regionalen Wirtschafts- und Steuerkraft.

Gegen das bestehende Finanzausgleichsystem wird zudem eingewandt, daß sich die Strukturen zwischen armen und reichen Ländern kaum verändert hätten. Tatsächlich aber konnten immerhin drei Länder während der letzten 50 Jahre ihre Position deutlich verbessern: Bayern, das in den 50er und 60er Jahren „reichste" unter den armen Ländern, stieg in die Liga der „reichen" Länder auf. Schleswig-Holstein, in den 50er Jahren das mit weitem Abstand schwächste Land, hat heute etwa den Durchschnitt erreicht. Bei den „reichen" hat sich Hessen merklich verbessert und nimmt seit geraumer Zeit unter den Flächenländern deutlich die Spitzenposition ein.

Mit dieser Entwicklung ging die Konzentration der Lasten des Länderfinanzausgleichs auf immer weniger Länder einher. Im Jahr 1970, als die Finanzreform von 1969 in Kraft trat, teilten sich vier Länder – Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen – die Einzahlungen relativ gleichmäßig. Zum Ende der alten Bundesrepublik waren es im wesentlichen noch zwei: Baden-Württemberg und Hessen. In der neuen Bundesrepublik sind es fünf von nun sechzehn, die seit 1995 regelmäßig Beiträge leisten. Es sind die vier, die sich bereits 1970 die Lasten des Länderfinanzausgleichs teilten, hinzugetreten ist Bayern. In diesem Bereich haben sich die Verhältnisse in den letzten 30 Jahren also nur in einem geringen Maß geändert. Damit wurde eines der Ziele der Finanzreform von 1969, nämlich eine Angleichung der Leistungsfähigkeit der Länder, nicht in dem erhofften Maß erreicht. Angesichts des Verhältnisses von fünf Zahler- und zehn Empfängerländern besteht heute die Gefahr, daß auf Dauer die Balance zwischen zahlenden und empfangenden Ländern gestört wird: Durch ein Verteilungssystem, das von einer Seite dominiert wird, könnten sich unerwünschte Schieflagen zu Lasten der – in diesem Fall ausgleichspflichtigen – Minderheit herausbilden.

Strategisch steckt der Finanzausgleich in einem Dilemma: einerseits soll er die negativen Folgen unterschiedlicher Leistungskraft abfedern, andererseits aber ist er nicht in der Lage, deren Ursachen wirkungsvoll zu beheben: Den finanzstarken Ländern bleibt auch nach horizontalem Finanzausgleich ein finanzieller Vorteil gegenüber den schwächeren, der es ihnen grundsätzlich erlaubt, ihren Vorsprung zu bewahren oder auszubauen. Tendenziell steigt damit der notwendige finanzielle Einsatz, um die Kluft zwischen den leistungsstarken und leistungsschwachen Ländern zu schließen. Zunehmend wird die horizontale Umverteilungsmasse nicht aus den Steuereinnahmen der ausgleichspflichtigen Länder, sondern aus dem Steueraufkommen des Bundes aufgebracht (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1: Steuereinnahmen der Länder und Gemeinden, LFA und BEZ

Jahr

Steuereinnahmen
Länder und Gemeinden

Länderfinanz-
ausgleich

In % der Steuer-
einnahmen

BEZ (ohne Haushalts-
sanierung HB u. SL

In % der Steuer-
einnahmen

Summe

1980

178156,2

2191,3

1,2 %

1366

0,8 %

2,0 %

1989

265624,4

3515,1

1,3 %

2657

1,0 %

2,3 %

1994

326775,3

2906,0

0,9 %

3847

1,2 %

2,1 %

Berechnet nach: Finanzbericht 1999, S. 152ff.; 254ff. Angaben in Mio. DM, für 1994 wurden nur die westdeutschen Länder berücksichtigt.

Mit der Einbeziehung der neuen Länder in die Finanzverfassung des Grundgesetzes zum 1.1.1995 hat sich zwar formal wenig an den Strukturen geändert, materiell ist jedoch der horizontale Ausgleich zu einer der wichtigsten Schienen des finanziellen West-Ost-Transfers geworden. Von dem Umschichtungsvolumen in Höhe von 11.934 Mio. DM im Länderfinanzausgleich des Jahres 1997 sind lediglich 1351 Mio. DM (12,8 %) in die finanzschwachen alten Länder geflossen. Von den – neu gestalteten – Fehlbetrags-BEZ 34,3 % (1794 von 5227 Mio. DM). Für die alten finanzschwachen Länder, die – bezogen auf den Einwohner – aufgrund der Tarifstrukturen teilweise stärker belastet wurden als die finanzstarken Länder, ist der horizontale Ausgleich zu einer Restgröße geworden. Die besonders akute Finanzmisere der alten „armen" Länder hat auch damit zu tun. Angesichts dieser Zahlen könnte die von den Ländern Baden-Württemberg und Bayern mit ihren Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht angestrebte Absenkung des Ausgleichsniveau, wenn sie substantielle Auswirkungen haben sollte, nur entweder zu Lasten der neuen Länder oder des Bundes gehen.

Es wird für die schwachen Länder trotz des gegenwärtig formal hohen Ausgleichniveaus immer schwieriger, wenn nicht unmöglich, ihren Aufgaben in gleicher Weise wie in den anderen ohne eine übermäßige Verschuldung gerecht zu werden. Es bleibt das Problem, daß die strukturschwachen und altindustrialisierten Länder über weniger Mittel zur Modernisierung und Entwicklung ihrer wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verfügen als die reicheren Länder, denn sie müssen tendenziell größere bundesstaatlich begründete Lasten, z.B. im Sozialbereich, tragen (vgl. Tabelle 2).

Tabelle 2: Sozialhilfe- und Wohngeldausgaben der Länder in DM pro Einwohner

Land

Sozialhilfe 1997
pro EW in DM

Wohngeld 1997
pro EW in DM

Baden-Württemb.

351

25

Bayern

333

24

Berlin

1022

73

Brandenburg

293

42

Bremen

1098

95

Hamburg

1004

90

Hessen

569

44

Mecklenburg-V.

323

49

Niedersachsen

538

51

NRW

567

53

Rheinl.-Pfalz

451

35

Saarland

551

51

Sachsen

212

41

Sachsen-Anhalt

311

45

Schleswig-Holst.

598

57

Thüringen

247

38

Deutschland

472

44

Quelle: StBA, Statistik der Sozialhilfe, Ausgaben und Einnahmen 1997, S. 16; Bundesfinanzministerium, eigene Berechnungen, Wohngeld nur Länderanteil (50%).

So streuten 1997 die Auswendungen für Sozialhilfe in den alten Flächenländern zwischen 333 DM pro Einwohner in Bayern und 598 DM in Schleswig-Holstein; die Stadtstaaten lagen zwischen 1000 und 1100 DM. Die neuen Länder haben derzeit - noch - deutlich niedrigere Aufwendungen zu tragen. Bei dem Landesanteil am Wohngeld besteht, wenn auch auf niedrigerem Niveau, eine ähnliche Situation: Bayern und Baden-Württemberg hatten 1997 mit 24 bzw. 25 DM pro Einwohner die niedrigsten Lasten. Unter den Flächenländer hatten Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein mit gut 53 bzw. 57 DM die höchsten Lasten zu tragen. Deutlich übertroffen wurden diese Belastungen durch die der Stadtstaaten: Berlin lag bei 73 DM, in Hamburg und Bremen waren es 95 bzw. 90 DM je Einwohner. Für die besonders belasteten Länder tut sich ein Teufelskreis auf: Höhere Lasten, höhere Verschuldung und geringere Investitionen erlauben es ihnen nicht, sich „am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen".

Die Kritik an der Verfestigung der Strukturen übersieht, daß grundlegende Veränderungen der Wirtschaftsstärke der Länder mittels der Instrumente des Finanzausgleichs nicht zu erreichen sind. Hier spielen eher andere Faktoren eine Rolle, die bestenfalls zum kleineren Teil von der Landespolitik zu beeinflussen sind. Ein an der Peripherie gelegenes Land ohne nennenswerte Wachstumszentren wird kaum in der Lage sein, sich zu einer wirtschaftsstarken Region zu entwickeln. Im Unterschied zu den Zielvorstellungen von 1969 sollte wohl akzeptiert werden, daß Unterschiede in der regionalen Wirtschaftskraft, die oftmals historisch oder geographisch bedingt sind, in einem gewissen Maß hingenommen werden müssen, allerdings ohne solche Regionen verkümmern zu lassen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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