FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:

II. Strukturmerkmale der Ministerien – Konsequenzen für die Qualität ihrer Leistungen



[Seite der Druckausg.: 19]


II. Strukturmerkmale der Ministerien – Konsequenzen für die Qualität ihrer Leistungen




1. Zu den Aufgaben von Ministerialverwaltungen



1.1 Was tun Ministerialbeamte * – Schlaglichter
* [ Hier wird vornehmlich auf die politiknahen Aufgaben Bezug genommen. Es gibt selbstverständlich einen beträchtlichen Anteil von Beamten, welche vor allem Vorleistungen für die geschilderten Ministerialbeamtentätigkeit erbringen, so z. B. Beamte im EDV-Referat, im Inneren Dienst oder im Organisationsreferat. ]


Während die Vollzugsverwaltung routinemäßig Genehmigungen erteilt, Parksünder aufschreibt, Kraftfahrzeuge registriert, Wohngeld auszahlt oder Steuern nach festen Regeln erhebt, erfordert politiknahes Arbeiten in Ministerien eine Vielzahl von Entscheidungen und eigenen Wertungen. Ein Ministeriumsbeamter formuliert in einer angenommenen Zeitperiode z. B. den Text einer Antwort auf eine Kleine Anfrage im Bundestag. Er (das „er" kann man natürlich auch durch „sie" ersetzen) entwirft Ministerschreiben, die sich an Verbände, Abgeordnete oder auch einzelne Bürger richten. Er reagiert selbst auf zahlreiche Anfragen aus der Öffentlichkeit in eigener Verantwortung. Er kommuniziert mit Wissenschaftlern und Interessenvertretern. Er bereitet Verhandlungen zwischen Bund und Ländern vor, nimmt an entsprechenden Koordinierungs- und Abstimmungssitzungen teil und wird in Ressortverhandlungen entsandt. Er begleitet den Minister zu Kongressen und Veranstaltungen, beurteilt Projekte in seinem Arbeitsfeld, liest Tages- und Fachzeitschriften und andere Publikationen, verfolgt die Rechtsprechung oder die Meinungen von Verbänden in seinem Fachgebiet und muß sich schließlich über allgemeine politische Vorgänge auch in Randbereichen seiner Arbeit informieren, um aus den generellen Informationen und Erkenntnissen autonome Folgerungen für die Strategien des Ministeriums zu ziehen.

Nicht zu vergessen ist, daß Ministerialbeamte viel Zeit in Ausschüssen des Parlaments und in Arbeitsgruppen der Fraktionen verbringen, wobei sie ad hoc auf Fachfragen sachverständig reagieren und die Linie ihres Ressorts selbständig artikulieren und vertreten sollten. Produkte ihrer Arbeit sind:

  • rasch abrufbares Wissen über ein Fachgebiet sowie dessen Aufbereitung,
  • Analysen, Berichte und Bewertungen über Sachfragen einschl. der jeweiligen politischen Implikationen,
  • Formulierung von Vorschlägen zum Handeln des Ministeriums und zur Weiterentwicklung der Ministeriumsstrategie,
  • Vorbereitung von Gesetzen und Programmen,
  • Weichenstellungen zum Vollzug neuer Politiken und neuer Vorschriften,
  • Ergänzung und Ausgestaltung bestehender Regelungen durch Erlasse, Rundschreiben oder Richtlinien,
  • Bewilligung von Geld für verschiedene Zwecke – von Forschungsvorhaben bis hin zu Technologieprogrammen.

Dabei formulieren Ministerialbeamte immer wieder Texte, Texte und nochmals Texte. Ministerien sind die „Schreibstuben der Nation" für unterschiedlichste Aufgaben und Gelegenheiten.

Allein die Beschreibung macht deutlich, wie schwer es ist, die Qualität der Leistungen und die Effizienz zu beurteilen. Vor allem ist im Einzelfall schwer abzuschätzen, ob der Aufwand, der etwa für die Informationsbe-

[Seite der Druckausg.: 20]

schaffung betrieben wird, sich jeweils lohnt, ob das Wissen, das ständig aktualisiert und weiterentwickelt wird, auch tatsächlich in der Detailliertheit gebraucht wird, oder ob sich die entsprechenden Bemühungen nicht im entscheidenden Augenblick als hoffnungslos unangemessen erweisen, wenn ad hoc wichtige politische Fragen auf der Grundlage möglichst zeitnaher und realistischer Informationen betrachtet werden sollen.

Natürlich können auch in privaten Unternehmen große Arbeitsfelder nicht nach dem Schema eines profit centers bewertet werden. Die Formulierung von Optionen einer allgemeinen Unternehmensstrategie läßt sich in ihrem Nutzen genauso wenig in DM-Beträgen kalkulieren wie die Formulierung einer Richtlinie für ein Programm. Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten sind in ihren Erfolgen und Verwertungsaussichten oft nur schwer zu beurteilen. Allerdings spürt man in Unternehmen immer und überall die Gegenwart des Wettbewerbs. Die Erfahrungen haben gezeigt, daß selbst die „flag ships" deutscher Industrie – Daimler und VW – unter Wettbewerbsdruck geraten können. Eine Arbeitsplatzgarantie gibt es nirgends. Keine noch so ausgeprägte Haushaltskrise konnte bisher auch nur annähernd vergleichbare Anpassungsmaßnahmen erzwingen wie sie in Unternehmen innerhalb kurzer Fristen durchgesetzt wurden. In Ministerien werden Optimierungszwänge von den Beteiligten nur sehr indirekt erlebt. Dabei spielt natürlich auch der Beamtenstatus eine Rolle. Solche existentiellen Unterschiede sind jeweils in Rechnung zu stellen.

1.2 Zur Funktionsbestimmung – Entscheidungsvorbereitung und Vollzug



1.2.1 Mehr als Vollzug

Trotz aller Unschärfen in der Praxis bleibt die Aufgabenteilung deutlich. Die Politik entscheidet, die Ministerialverwaltung berät und vollzieht, wobei bei den Bundesministerien der Vollzug eher im Sinne von Weichenstellungen und Richtlinienformulierungen zu erfüllen ist. Dabei sind die Übergänge natürlich fließend. Die Steuerabteilung im Finanzministerium verfügt über erhebliche Entscheidungskompetenz, wenn es darum geht, zusammen mit der Länderfinanzverwaltung Erlasse zu formulieren, d. h. die abstrakten gesetzlichen Formulierungen auf Einzelfälle anwendbar zu machen. Die Finanzbauverwaltung realisiert Bauten des Bundes nach streng geregelten Verfahren. Wie man an spektakulären Einzelprojekten nachvollziehen kann, erhalten allerdings auch Vollzugsentscheidungen in Grenzfällen eine extrem politische Bedeutung (Schürmann-Bau, Plenarsaal des Bundestages).

Ministerien verfügen über viel Geld, das in unterschiedlichen Programmen für Unternehmen, Länder, öffentliche Einrichtungen oder private Haushalte bewilligt und vergeben wird. Dabei geht es vielfach nicht um einfache Bewilligungen nach feststehenden Regeln, wie sie etwa bei den Bewilligungen von Sozialhilfe oder Wohngeld anfallen. Bewilligungen auf der Ministeriumsebene werden mit erheblichem Ermessensspielraum vorgenommen. Vielfach sind eigene Analysen vorzunehmen, Bemessungskriterien ad hoc zu entwickeln und Entscheidungskriterien zu formulieren. Gerade wegen dieser fließenden Übergänge zwischen politischer Entscheidung und Vollzug ist es oft nicht einfach zu entscheiden, welche Leistungen als so politisch angereichert gelten, daß sie in Ministerien erbracht werden müssen, und welche Verwaltungsleistungen auf nachgeordnete Behörden oder Umsetzungsagenturen verlagert werden können.

1.2.2 Unterschiede zwischen Ressorts

Dabei gibt es zwischen den Ressorts erhebliche Unterschiede. Im BMWi, im Bereich der Gemeinschaftsaufgabe regionaler Strukturpolitik, genauso wie im BMBau bei Vergabe von Finanzhilfen für den sozialen Wohnungsbau an die Länder besteht keine Bundeskompetenz für Einzelbewilligungen. Hier werden Bundesmittel im Rahmen von gesetzlich und politisch festgelegten Kriterien auf die Länder verteilt. Die Rolle der Bundesministerien konzentriert sich auf die Begründung und Vereinbarung von Kriterien und die Festlegung von Programmstrukturen. Im BMBF gibt es demgegenüber eine Vielzahl von Fördermaßnahmen im Rahmen von Techno-

[Seite der Druckausg.: 21]

logieprogrammen oder bei der Humanisierung des Arbeitslebens. Bewilligungen werden nach unterschiedlichen Zielen im Hinblick auf unterschiedliche Wirkungen in eigener Regie abgewickelt. Eine solche Durchführung von Bundesprogrammen eröffnet andere Ermessensspielräume als die Vergabe von Bauaufträgen in Kommunen oder im Straßenbau. Angesichts der Vielfalt der Einzelentscheidungen, der Instrumente und Maßnahmen können die Minister und Staatssekretäre oft nur die großen Projekte selbst zur Kenntnis nehmen. Die Masse von Einzelentscheidungen wird von Beamten im Rahmen grober Programmvorgaben gefällt.

1.2.3 Beratung, Formulierung und Umsetzung in der Gesetzesarbeit

Eine spezielle Aufgabe besteht darin, Gesetzgebungsprozesse inhaltlich und formal vorzubereiten und zu begleiten. In einer Frühphase sind jeweils Informationen zu verarbeiten, Interessenlagen zu analysieren, Bewertungen über Defizite staatlichen Handelns vorzunehmen und Wirkungsanalysen möglicher Regelungen im voraus durchzuspielen. Gestützt auf solche Analysen sind dann Gesetze als juristische Texte zu formulieren, die eine möglichst einfache Handhabbarkeit erlauben, verständlich sind und keine Rechtsunsicherheit schaffen. Gerade die Gesetzesvorbereitung ist eine spezielle Kunst. Als besonders schwierig erweist es sich, die jeweils unterschiedlichen politischen Interessen und Wertungen in Gesetzesparagraphen zu gießen. In der Regel hat die Kompliziertheit der Gesetze hier ihren Ursprung, weil nicht allgemeine, eindeutige Grundsätze in Gesetzesnormen umgegossen werden, sondern weil hier Grundsätze nach der Interessenlage unterschiedlicher Beteiligter partiell wieder aufgehoben, ergänzt und spezifiziert werden.

Ministerien regeln in Ausführung von Gesetzen und Verordnungen zahlreiche Details. Vor allem Einführungserlasse neuer Regelungen sind von erheblicher Bedeutung. Immer wieder wird nach einer neuen Gesetzgebung deutlich, welche Bedeutung die anschließende Umsetzungsaufgabe der Ressorts für die pragmatische Handhabung hat. Gerade hier ist ein spezifisches Wissen über die Funktionsweise von Verwaltungen und Institutionen erforderlich, weil man kreativ vorausdenken muß, welche Regelungen in der Praxis wie angewendet werden und welche Widersprüche und Unklarheiten auftreten können, wenn die entsprechenden Formulierungen unpräzise oder widersprüchlich sind.

1.2.4 Verflechtungen zwischen Gebietskörperschaften und nachgeordneten Behörden

Ministerien kontrollieren nachgeordnete Behörden. Sie führen die Fachaufsicht durch. Hier sind wirksame Kontroll- und Steuerungstechniken zu entwickeln. Das erfordert Entscheidungen darüber, welche Informationen zur Verfügung stehen müssen, ob also die gängigen Informationen ausreichen, um Kontrolle nach feststehenden Regeln zu vollziehen. Insbesondere ist zu prüfen, welche Wirkungsanalysen und Effizienzbewertungen möglich sind, um Kontrolle wirksam auszuüben.

In zahlreichen Bereichen überlappen sich Bund-Länder-Zuständigkeiten. Dem Bund fällt dann eine koordinierende Funktion zu. Dies gilt in der Finanzverwaltung genauso wie bei Verkehrsinvestitionen, bei Fragen der Bewertung oder bei der Durchführung der Gemeinschaftsaufgaben.

Die Europäische Union hat eine neue Steuerungsebene entstehen lassen, die auch neue Koordinierungsaufgaben hervorruft. Gerade hier haben Ministerien einen besonders großen Handlungsspielraum, der weitgehend autonom ausgefüllt werden kann. Angesichts der Vielzahl der Beteiligten und der Interessenverflechtungen zwischen Themenfeldern und Ebenen der Gebietskörperschaften entstehen vernetzte Kompromisse. Für Politiker, die in einer späteren Phase des Entscheidungsprozesses eingreifen, wird es dann oft schwer, aus einer bestimmten Interessenposition von einem Punkt her Veränderungen durchzusetzen, weil als Ergebnis der Vernetzung jeweils ganze Serien von Folgeänderungen erforderlich wären, denen auf den verschiedenen Ebenen und in den einzelnen Ländern Widerstände entgegenstehen. In diesen Kom-

[Seite der Druckausg.: 22]

promißnetzwerken kann sich die Bürokratie gegen politische Einflüsse immunisieren und ihren eigenen Einflußbereich ausweiten.

1.2.5 Kommunikation nach innen und außen

Ministerien übernehmen eine aktive Kommunikationsrolle mit der Öffentlichkeit. Der einzelne Beamte steht in seinem Arbeitsfeld in ständiger Beziehung zu Interessenverbänden, Gewerkschaften, Fachleuten und Wissenschaftlern oder auch ausländischen Repräsentanten, und er verarbeitet nicht nur passiv Informationen, sondern leistet aktive Beiträge, um fachliche Diskussionen zu beeinflussen, die Linie seines Ministeriums zu vertreten und weiterzuentwickeln. Viele Informationen sind interessengebunden. Der Vertreter eines Ressorts muß die Fähigkeit haben, diese Einfärbungen zu erkennen und bei seinen eigenen Bewertungen zu kompensieren. Immer wieder beobachtet man, daß Ministeriumsmitglieder, die Jahrzehnte in einem Bereich tätig waren, gleichzeitig zu den Lobbyisten „ihrer" Interessenverbände werden.

Kommunikation vollzieht sich in einer breiten Öffentlichkeit – in den Medien. Hier zeigt sich, daß auch die Medien der steigenden Komplexität immer weniger gewachsen sind. Die Hektik und Kurzfristigkeit der Berichterstattung erlaubt es nicht, schwierige Sachverhalte zu erfassen. Die Stärke der Medien liegt darin, Mißstände anzuklagen, das Verhalten von einzelnen Politikern zu kontrollieren. Ihre Schwäche liegt darin, komplexe Sachverhalte aufzuhellen, langfristige Strukturveränderungen zu beobachten und verständlich zu berichten. Die Ministeriumsverwaltung hat hier eine kondensierende, systematisierende Funktion, weil sie – jedenfalls grundsätzlich – interessenfrei bei hoher fachlicher Kompetenz auf dauerhafte, langfristige Aufklärung hin angelegt sein kann.

Die Politikvorbereitung und Beratung nach innen bringt dem einzelnen Ministeriumsmitglied einen erheblichen Gestaltungsspielraum. Er kann, aktiv vorausschauend, selbständig Analysen formulieren und die verantwortlichen Politiker – falls ihre Aufnahmekapazität dies erlaubt – auf neue Trends vorbereiten. Allerdings zeigt sich, daß Ministerien neue Tendenzen nur unvollkommen erfassen, während Politiker, die in ständigem Kontakt mit Bürgern stehen, vielfach sensibler und rascher auf neue Bedürfnisse reagieren. Zwischen Ressort und politischer Spitze entsteht auf diese Weise ein Spannungsverhältnis, das sich positiv und dynamisch entwickeln oder aber zu wechselseitigen Mißverständnissen führen kann. Minister, dies gilt auch für einzelne Abgeordnete, sind mit Interessen und neuen Problemlagen konfrontiert. Die Verwaltung analysiert demgegenüber längerfristige Trends, strukturelle Verschiebungen und bewertet aus einer größeren Distanz.

Page Top

2. Strukturmerkmale der Ministerien



2.1 Hierarchie und Spezialisierung – Stabilität, Homogenität und hohe Identifikation

Eine Grundlage der hohen Leistungsfähigkeit, aber auch für gewisse Schwächen von Ministerien besteht in einer stabilen, streng hierarchisch aufgebauten Organisation mit hochspezialisierten Referaten als Bausteinen. Personal wird überwiegend durch Selbstauswahl rekrutiert, wobei Fachabteilungen und Personalreferate Neueinstellungen in der Regel autonom vornehmen. Einmal eingestellt, kommt es selten zu einem Wechsel in die Privatwirtschaft, weil fast alle Weichen auf Bleiben und Ausharren gestellt sind. Selbst Wechsel zwischen Ministerien sind selten.

Die Einstiegsgehälter in den Ministerien sind niedrig, die späteren Steigerungen dagegen sicher und durchaus akzeptabel. Dies gilt erst recht, wenn man die hohen, allmählich akkumulierten Pensionsansprüche hinzuzieht, die bei einem Wechsel hoher Beamter in den Privatsektor z. T. verlorengehen. Gemessen am durchschnittlichen Erwerbseinkommen sind die Pensionen besonders großzügig. Im Laufe der Zeit wird damit ein Wechsel immer schwerer. Lange Mitgliedschaft garantiert schließlich immerhin Mindestbeförderungen. Die einzelnen Mitarbeiter dienen sich meist in Jahren von Stufe zu Stufe nach oben. Dies gilt auch für

[Seite der Druckausg.: 23]

die Abteilungsleiter. Obwohl viele von ihnen als Seiteneinsteiger über Parteikontakte in die Ministerien kamen, dürften die Karrierebeamten noch dominieren. Ihre spezielle „Fachausbildung" haben sie wie die Mitglieder der Abteilung auch damit in der Mehrzahl innerhalb der Organisation erhalten. Der einzelne sieht sich bei seinem Eintritt einem festen Bestand an Erfahrungswissen, Analysetechniken, Hypothesen über Wirkungsweisen und die Bedeutung der eigenen Maßnahmen gegenüber. Fast jede Organisation entwickelt eine eigene ausdifferenzierte „Organisationstheologie". Ein entsprechendes Bekenntnis erleichtert den Aufstieg. Das hat den Vorteil, daß bei neuen Fragestellungen Antworten rasch nach festen Regeln gefunden werden können. Das hat auch den Vorteil, daß komplexe, rasch wachsende Aufgaben meist mit großer Routine bewältigt werden, weil fast immer auch vorgefertigte Lösungsmuster verfügbar sind. Die eingeübten Analyse- und Verfahrensregeln wirken als implizite Koordination. In wiederkehrenden Situationen sind jeweils Blaupausen der Verfahren und der Lösungswege verfügbar. Die Organisation entwickelt die Fähigkeit, angesichts eines langjährigen, stabilen Personalbestands leistungsstarke Mitglieder an kritische, krisenanfällige Bereiche zu stellen, leistungsschwächere in ruhigeren Organisationseinheiten unterzubringen, wenn nicht sogar „abzustellen".

Der ständige Druck, sich in die Organisation einzufügen, erfordert ein hohes Maß an Stehvermögen, intellektueller und emotionaler Unabhängigkeit, wenn man zum Organisationskritiker oder sogar zum Organisationshäretiker werden will und althergebrachte Verfahren und Hypothesen in Frage stellt. Die ausgeprägte Organisationstheologie stärkt Leistungs- und Arbeitsmotivation und vereinfacht interne Diskussions- und Entscheidungsprozesse. Allerdings fällt auch eine Neuordnung und Neuorientierung schwer. Das Festhalten an bewährtem Organisationswissen führt zu einer starken Beharrungstendenz.

2.2 Hohe Funktionsfähigkeit, Disziplin und Selbstbewußtsein

Das Hineinwachsen in eine strenge und disziplinierte, meist als effektiv erlebte Organisation fördert ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl und die Bereitschaft, sich den Regeln zu unterwerfen. Identifikation mit der Aufgabe und der Organisation kann bis zum Programmchauvinismus führen. Alle kämpfen für die Vergrößerung, Verbesserung, Differenzierung oder Zuständigkeitsausweitung der eigenen Organisation und des eigenen Programms (mit Programmen ist hier ganz allgemein jede inhaltliche Aufgabe vom Gesetz bis hin zur Baumaßnahme gemeint). Gesetze und Regelungen werden ständig verfeinert und „verbessert". Die Stabilität der Organisation und des Personals bei lebenslang angelegter Beschäftigung fördert eine hohe Funktions- und Leistungsfähigkeit und wirkt entlastend und stabilisierend für den einzelnen Mitarbeiter. In kritischen Situationen weiß er sich in einer langen Kette ähnlicher schon bewältigter Ereignisse. Der einzelne akkumuliert nicht nur Wissen und Erfahrungen, die abrufbar bereitgehalten werden können. Getestetes, in Konfliktsituationen bewährtes Wissen verleiht auch Autorität. Der einzelne repräsentiert nicht nur sich selbst, sondern immer auch seine Organisation, ihre Erfahrung und ihren Einfluß.

Eine wichtige Tugend von Ministerialbeamten besteht darin, daß die einzelnen Spezialisten nach 10 bis 20 Jahren Mietrecht, Bewertungsgesetz, Straßenbau oder Haushaltsrecht alle Probleme und Themen ihres Aufgabenbereichs im Schlaf beherrschen. Selbst die unmöglichsten Terminvorstellungen der Politik werden erfüllt. Gesetzesnovellen können über Nacht geschrieben werden. Rasch benötigte Vorlagen und Vermerke werden mit Routine und Sachverstand in hoher Geschwindigkeit produziert. Da sich viele Situationen und Konstellationen wiederholen, kann man in der Beratung der Politiker auf alte Erfahrungen zurückgreifen und sie unter veränderten Konstellationen einbringen. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung haben die Mitglieder von Ministerien meist eine hohe

[Seite der Druckausg.: 24]

Arbeitsdisziplin. Die einzelnen Organisationseinheiten und ihre Mitglieder wollen sichtbare Erfolge erzielen, wollen Einfluß auf Prozesse erhalten. Auch die intensive Kenntnis der Historie vieler Politiken macht die Beamten zu wertvollen Beratern, sofern die Minister ihre Fähigkeiten zu nutzen wissen.

Page Top

3. Defizite und Qualitätsprobleme



3.1 Mangelnde Innovationsfähigkeit und Kreativität – das zentrale Problem

Man kann als eine unerwünschte Nebenfolge der dargestellten Einseitigkeiten auch eine mangelnde Kreativität und Offenheit gegenüber neuen Situationen feststellen. Die starren Organisationen, die vorfabrizierten Analysebausteine und auch Organisationstheologien wirken in Richtung auf einen Instrumenten- und Analysekonservativismus. Eingefahrene, bewährte Konzepte werden nach Möglichkeit perpetuiert, verfeinert und weiterentwickelt. Die Neigung, bekannte Instrumente in Situationen einzusetzen, in denen ihre Nebenwirkungen höchst problematisch werden, oder die Bereitschaft, alte Politiken unverändert weiterzuführen, auch wenn wesentliche Ziele nicht erreicht werden, erscheint fast unausrottbar. Auf neue Situationen wird nicht konsequent mit neuen Lösungen reagiert. Man versucht zunächst, sie in ein altes Analyseschema zu pressen, um sich die schwierige Suche nach Innovationen zu ersparen. Die parallele Bequemlichkeit der Politik kommt dieser Neigung entgegen. [ Das wohl einprägsamste Lehrstück für solche Verhaltensweise lieferte die wirtschaftliche Entwicklungspolitik bzw. das Fehlen einer solchen Politik in Ostdeutschland. Hier dominierte 1990/92 in den Jahren der Weichenstellungen die Erwartung, mit kräftigen Subventionsschüben und rascher Privatisierung ein automatisches Wirtschaftswunder wie nach dem Kriege zu erreichen. Es wurde übersehen, daß ein Wirtschaftswunder Marke Erhard II gar nicht eintreten konnte, weil die Voraussetzungen einer solchen Entwicklung nicht vorlagen. Als Folge wurden erhebliche Subventionen mit geringen Wirkungen verschleudert. Der entwicklungspolitische Erfolg mußte ausbleiben. Man kann dieses Versagen natürlich nicht den Ministerien allein anlasten. Die Öffentlichkeit und die Politik glaubten an den Erfolg. Es gab gleichsam einen Konsens, nicht zu zweifeln. Kritische und realistische Analysen, die leicht verfügbar waren, wurden nicht zur Kenntnis genommen.]

Dabei muß man einer strukturell konservativen Bürokratie zugute halten, daß zahlreiche Innovationen und Veränderungen in ihren Ergebnissen weit problematischer waren als die jeweiligen Reformer prognostizierten oder erhofften:

  • Die Gesamtschule blieb in ihren Ergebnissen hinter den Erwartungen weit zurück.
  • Ganze Serien von Maßnahmen zur Senkung der Baukosten haben keinerlei erkennbare Ergebnisse hervorgebracht.
  • Die diversen Beschäftigungsprogramme enden in immer höherer Arbeitslosigkeit.

Viele Erfahrungen, die Ministerien machen mußten, bestätigen einen Instrumentenkonservativismus. Innovationen sind riskant, vor allem kann derjenige, der Innovationen konzipiert hat, nie sicher sein, daß sie – wie konzipiert – umgesetzt werden.

3.2 Problematische Nebenwirkungen – Programmchauvinismus und Regelungsperfektionismus

Als wohl menschlichste und verständliche Einseitigkeit kommt es auch zu einem Verlust von Relevanzgefühl für die Bedeutung der eigenen Aufgabe und einer fast automatischen Überschätzung. Eine bis zum Programmchauvinismus überzogene Identifikation mit der eigenen Aufgabe hat erhebliche politische Konsequenzen. Unangenehme Folgen sind häufige positive Verzerrungen der Darstellungen von Programmwirkungen bzw. eine zu geringe Distanz und unterentwickelte Kritikfähigkeit gegenüber den eigenen Arbeitsfeldern. Dabei kommt den Programmverwaltern zugute, daß sie fast immer einen Informationsvorsprung haben. In vielen Fällen vergeben sie Forschungsaufträge, in denen ihre eigenen Programme bewertet werden sollen. Die Verzerrung überträgt sich dann auf die Auftragnehmer. Kein Bereich ist gegenüber solchen perspektivischen Verzerrungen gesichert. Als Konsequenz aus der Konzentration auf das eigene Arbeitsfeld bei ausbleibender Korrektur von außen entsteht die Neigung zum Regelungsperfektionismus. Sie ist allgegenwärtig.

[Seite der Druckausg.: 25]

Das hohe, in Jahren gewachsene fachliche Engagement von bürokratischen Organisationen gegenüber ihren eigenen Aufgaben stärkt die Tendenz, einmal gestartete Politiken ständig weiterzubetreiben, zu perfektionieren und zu stabilisieren. In dieser Neigung sind sich Fachbürokraten und Fachpolitiker einig. Kommt es zur Aufgabenschrumpfung, dann entsteht eine „Schrebergarten-Mentalität". Immer kleinere Felder werden immer intensiver bearbeitet. Hohe Motivation und Leistungsdisziplin verhindern, daß Trägheit und Nichtstun um sich greifen. Vorhandene Aufgaben werden noch dichter und intensiver bearbeitet. Es ist möglich, immer mehr und detailliertere Informationen über kleinere Arbeitsfelder zu sammeln oder die Kontakte in allen möglichen Bereichen der eigenen Fachwelt zu intensivieren. Vollbeschäftigung ist in einer komplexen Welt für Ministeriumsbürokraten niemals ein Problem, wobei man dem einzelnen Mitglied eine solche Neigung nicht einmal vorwerfen darf, da es seine Aufgabe ist, die verfügbaren Arbeitskapazitäten mit voller Intensität in seinem Zuständigkeitsbereich einzusetzen und sich zu engagieren.

3.3 Vernachlässigte Folgekosten

Der fachlich begründete Wunsch nach möglichst perfekten Lösungen und deshalb hohem Kapazitätsbedarf spielt vielfach zusammen mit den Interessen von Produzenten oder speziellen Nutzern. An einfacheren und sparsameren Autobahnen mit geringeren Spurbreiten und engeren Kurvenradien haben weder die Produzenten noch die Fachbeamten ein Interesse. Die Kosten der technischen Perfektion und des Zwangskonsums werden von allen getragen, obwohl Autofahrer, die im Tiefflug mit Spitzengeschwindigkeit rasen wollen, einen weit höheren Anteil tragen müßten als die Normalfahrer. Die Neigung zu technischer Perfektion wird gern mit Sicherheitsnotwendigkeiten begründet, obwohl natürlich – gestützt auf andere Verhaltensweisen (Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen) – auch weniger technisch perfekte und aufwendige Lösungen durchaus funktionsfähig wären. Technokratischer Perfektionismus und spezielle Interessen spielen bei der Aufrechterhaltung hoher Standards zusammen. Dabei spielt natürlich eine Rolle, daß die Nutznießer vielfach die Kosten nicht direkt tragen oder sie nicht erkennen können. Die Möglichkeiten für solche Verzerrungen zu Lasten der Konsumenten sind unbegrenzt. Wer immer Handwerksleistungen, auch einfachster Art, in Anspruch nehmen will, muß den Mindeststandard eines Meisterbetriebs finanzieren. Jede Datenschutzregelung muß einen Mißbrauch logisch eindeutig ausschließen. Pragmatische Kostenargumente oder der Hinweis auf die technische Unmöglichkeit eines Mißbrauch haben kein Gewicht. Der Regelungs- und Normungsperfektionismus beinhaltet fast immer ein Element des Zwangskonsums. Die Konsumenten müssen ohne Mitbestimmungsmöglichkeiten Ressourcen aufwenden, ohne daß ein entsprechender Nutzen entsteht. Der Wunsch nach möglichst perfekten Lösungen hat demgegenüber viele meist sehr respektable Verbündete. An der Spitze steht das wohlfahrtsstaatliche Motiv, möglichst alle Risiken zu vermeiden und Sicherheit und Gleichheit zu schaffen. Eine unkritische Bürokratie kann sich unter dieser Flagge trefflich für banale Produzenteninteressen einspannen lassen.

3.4 Überkapazitäten und Engpässe – Folge starrer Organisation bei wechselnden Aufgabenschwerpunkten

Die Aufgaben von Ministerien wechseln häufig sehr rasch. Gemessen daran sind die Organisationsformen zu starr. Dies führt dazu, daß nebeneinander in Bereichen mit schrumpfender Aufmerksamkeit redundante Kapazitäten bestehen, was nicht Unterbeschäftigung bedeutet, weil die beschriebene Schrebergarten-Mentalität zu einer erhöhten Arbeitsintensität führt. Gleichzeitig bleiben in anderen Bereichen wichtige Aufgaben liegen, weil Kapazitäten an wachsende Aufgaben nicht rasch genug angepaßt werden können. Es gilt ein fast ehernes Gesetz der Kapazitätsremanenz. Meist müssen exogene Zwänge von Haushaltskrisen hinzukommen, um den schwachen Kräften der Rationalisierung Rückenwind zu verschaffen.

[Seite der Druckausg.: 26]

Auf diese Weise entstehen ständig Situationen, in denen neue Wachstumsbranchen der Politik angesichts fiskalischer Engpässe nicht mit hinreichenden Personalkapazitäten versehen werden, während in alten Bereichen mit hohem Personalbestand z. T. leeres Stroh gedroschen wird, ohne daß die Beteiligten das so empfinden, weil ihnen in Jahren der Tätigkeit in Spezialbereichen ein entsprechendes Relevanzgefühl verloren ging. Qualitätsminderungen durch überintensive Bearbeitung und Bearbeitungsmängel in wichtigen Feldern mit unzureichenden Kapazitäten existieren oft direkt nebeneinander. Die Überbelastung einzelner Organisationsbereiche bei relativ ruhigem, entlastetem Arbeiten in anderen Ministerien ist eine ständige Erfahrung. Sie ist weit ausgeprägter als im privaten Sektor. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund relativ nivellierter Einkommen problematisch. Den extremen Unterschieden der Arbeitsbelastung und der Verantwortung stehen keine entsprechenden Unterschiede in den Anreizen und Entlohnungen gegenüber.

Hier liegt eine zentrale Aufgabe der Leitungen. Allerdings stellt man immer wieder fest, daß Minister und Staatssekretäre durch Zeitstreß kaum in der Lage sind, sich um Themen zu kümmern, die wenig Außenwirkung haben und bei denen wenig Lorbeeren zu ernten sind. Systematische Überprüfungen durch Rechnungshöfe oder Organisationsreferenten bleiben zu schwach und zu wenig wirksam. Dabei spielt eine Rolle, daß die Gewichtungen und Wertungen von den externen Beobachtern und Organisationskritikern oft nicht kompetent vorgenommen werden können. Mehr als irgendwo anders gilt, daß Organisationsfragen in den Ministerien immer auch Sachfragen sind.

3.5 Defizite der Realitätsbewältigung



3.5.1 Unzureichende Problem- bzw. Produktdefinition*
* [ Die folgenden Anmerkungen sind sehr selektiv. Ihr statistisches Gewicht ist kaum zu bestimmen, da es an systematischem, repräsentativem Wissen zum Verhalten der Bürokratie in den verschiedenen Arbeitsfeldern fehlt. ]


Bei jeder Wirkungsanalyse für einen Regelungs- oder Politikbereich muß zunächst der jeweilige Realitätsausschnitt definiert werden. Aus dem wahrgenommenen Realitätsausschnitt, den darin enthaltenen und erkannten Wirkungsketten sowie deren politisch-ökonomischer Bewertung ergibt sich ein Problemverständnis, das über die Qualität der Wirkungsanalyse in der Politikberatung wesentlich mitentscheidet.

Am Beispiel der vom Bundesverfassungsgericht geforderten steuerlichen Gleichbehandlung von Immobilienvermögen mit anderen Vermögensarten kann der Zusammenhang von Problemverständnis und Wirkungsanalyse erläutert werden. Das Produkt „Bewertung von Immobilienvermögen" kann sehr unterschiedlich definiert werden und erhält damit variierende Qualitätsdimensionen:

  • Bei einer sehr einfachen Problemdefinition kann man den Richterspruch des Bundesverfassungsgerichts als Aufforderung interpretieren, ein möglichst einfaches und für den Staat im Vollzug kostengünstiges Bewertungsverfahren für Immobilien zu entwickeln, das gleichzeitig dem Kriterium einer Gleichbehandlung entspricht.
  • Bei einem etwas erweiterten Verständnis wären die verteilungspolitischen Auswirkungen zu betrachten. Hier geht es um die Frage wie unterschiedliche Bewertungsverfahren und Bemessungsgrundlagen unterschiedliche Eigentümergruppen tangieren und in der Folge um den Einfluß auf die Sparneigung oder die Beeinflussung der Vermögensbildung. Man kann davon ausgehen, daß Belastungsverschiebungen und Umverteilungen im politischen Prozeß ganz automatisch in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Eine Vernachlässigung solcher Themen ist eher unwahrscheinlich.
  • Noch weitergehend sind Fragestellungen, die sich mit den nicht intendierten Nebenwirkungen neuer Instrumente auseinandersetzen. Bei der Immobilienbesteuerung wären die Wirkungen auf den Bodenmarkt, auf die Investitionsneigung und damit auf die Wohnungsversorgung sowie auf die Siedlungs- und Verkehrsentwicklung zu berücksichtigen. Eine durch neue Bewertungen und Bemessungsgrundlagen neu gestaltete Grundsteuer hat hier eine enorme Bedeutung.

[Seite der Druckausg.: 27]

Eine ähnliche Abstufung in der Problemdefinition läßt sich bei fast allen Themen herausarbeiten (z. B. Pflegeversicherung, Einwanderungsproblematik). In einer ersten Stufe wird die Thematik primär unter Finanzierungs- und Vollzugsgesichtspunkten betrachtet. Eine zweite Stufe behandelt das Ausmaß der direkten Betroffenheit unterschiedlicher Gruppen oder Wirtschaftszweige. In einer dritten Stufe geht es um Beeinflussung von Verhaltensweisen und damit um die Einflüsse auf die wirtschaftliche Entwicklung oder die Rückwirkungen auf den Staatssektor. Hier sind insbesondere auch die unerwünschten Nebenwirkungen zu betrachten. Angesichts der Neigung der Politik und der öffentlichen Diskussion, jeweils nur die intendierten Hauptwirkungen zum Bewertungskriterium für politische Maßnahmen zu machen, sollten sich die Zuständigen jeweils systematischer um die nicht intendierten Nebenwirkungen kümmern und sie ins Bewußtsein heben, obwohl dies im Einzelfall natürlich unpopulär ist.

Als allgemeine Methodik der Integration unterschiedlicher Aufgaben in einer zersplitterten Organisation gibt es das bewährte Instrument der Mitzeichnung und Beteiligung. Die jeweils nur begrenzt zuständigen Organisationen beteiligen andere Referate oder auch Ressorts, die für verschiedene Wirkungsfelder zuständig sind. Dadurch werden auch Nebenwirkungen systematischer in die Überlegungen einbezogen. Wie die Beispiele zeigen, dürften jedoch lange Mitzeichnungslisten nicht ausreichen, um das Problem einer integrierten Gesamtanalyse zu bewältigen. Es scheint ein Zivilisationssyndrom zu sein, daß immer mehr Experten über immer weniger Bereiche immer mehr wissen mit der Folge, daß Zusammenschau und Gesamtkonzepte zur Mangelware werden und jeweils große Probleme auf kleinen Nebenfeldern beackert werden.

In der Praxis hängt es wesentlich von den Qualitäten des Referatsleiters als „Herr des Verfahrens" und seines Abteilungsleiters ab, wie breit der betrachtete Realitätsausschnitt gewählt und welche Problemdefinition angelegt wird. Allerdings werden die Themen oft schon mit einer inhaltlichen Schlagseite in die politische Diskussion eingebracht. Die Initiative für Regelungsvorhaben geht – wie oben dargestellt – vielfach von der Rechtsprechung (z. B. Regelungslücken) oder von Interessengruppen aus, oder sie kommt, von strategisch-politischer Absicht getragen, aus dem parlamentarischen Raum. Selbst wenn die Ministerialverwaltung die mit der Herkunft verbundene Schlagseite der Problemdefinition erkennt, dürfte es schwierig sein, aus dieser Richtung eine Korrektur in die politische Diskussion einzubringen. Die partielle Blindheit des politischen Prozesses kann jedoch nicht als Rechtfertigung für eine ebensolche Blindheit der beratenden Ministerialverwaltung mißbraucht werden.

3.5.2 Methodische Mängel

Es liegt auf der Hand, daß komplexe Wirkungsanalysen methodische Probleme bereiten. Je mehr man einen Regelungsbereich gedanklich isoliert und damit äußere Einflüsse wegdefiniert, um so einfacher lassen sich die restlichen Wirkungsketten modellhaft beschreiben. Die Reduktion der Wirklichkeit auf wenige Grundannahmen und Wirkungszusammenhänge führt dann zu scheinbar eindeutigen Aussagen. Ausgehend von diesem methodischen Verständnis ist angesichts der wachsenden Komplexität der Wirklichkeit auch in der Politikberatung eine methodische Kapitulation mit verschiedenen Erscheinungsformen festzustellen:

  • Dort, wo Statistiken und eindeutige Modellannahmen für sichere Prognosen fehlen, tritt an deren Stelle eine oftmals irrelevante „Befragungsempirie". Insbesondere wenn zukünftiges Handeln abgefragt werden soll, erweisen sich die üblichen repräsentativen Befragungen als unzureichend, weil sie Wunschdenken und Ideologien der Befragten an das Tageslicht bringen. So läßt sich beispielsweise die wahrscheinliche Nutzung des Pkws nach einer Benzinpreiserhöhung oder die Inanspruchnahme veränderter Ladenschlußzeiten nicht abbilden, wenn man die Befragten hypothetisch mit veränderten Rahmenbedingungen konfrontiert und sie nach ihrer Reak-

[Seite der Druckausg.: 28]

    tion darauf befragt. Um die realen ökonomischen Wertungen, die sich im alltäglichen Handeln ausdrücken, freizulegen und daraus wahrscheinliches Verhalten abzuleiten, muß in intensiven (teils mehrstündigen) Gesprächen der Kontext des Befragten genauer untersucht werden. Gegenüber diesen qualitativen Forschungsansätzen, die nicht mit hohen Fallzahlen aufwarten können, besteht immer noch eine viel zu große Zurückhaltung.

  • Viel zu kurz kommen auch vergleichende Studien, insbesondere internationale Vergleiche. Ausländische Erfahrungen mit bestimmten Politiken werden selten systematisch ausgewertet. Statt dessen werden sie als abschreckendes oder leuchtendes Beispiel gerne politisch instrumentalisiert. Gerade aus solchen Vergleichen lassen sich jedoch komplexe inhaltliche Zusammenhänge rekonstruieren. So hätte z. B. eine Analyse des schwedischen oder britischen Einzelhandels genaue Auskunft über die standort- und branchenspezifische Nutzung flexibler Ladenöffnungszeiten sowie über die Zufriedenheit und Motivation der Beschäftigten geben können. [ Diese Thematik ist ausführlicher in Teil B, Kap. II. 3. dargestellt.] Darüber hinaus hätte eine Analyse der Kunden zeigen können, welche Gruppen und Haushaltstypen das Angebot nutzen. Solche internationalen Vergleiche sind in vielen Politikbereichen fruchtbar (z. B. Familien, Einwanderung, Pflege, Verkehr, Wohnungsbau und Baukosten, Bildung etc.).
  • Je mehr Einflußfaktoren man gedanklich bei einer Wirkungsanalyse zuläßt, um so wirklichkeitsnäher wird zwar die Analyse, um so unsicherer werden jedoch die Aussagen. Die Formulierung von Wirkungsszenarien wird als Technik zum Umgang mit dieser unvermeidlichen Unsicherheit bislang kaum genutzt. Szenarien sind einerseits geeignet, komplexe Wirkungszusammenhänge didaktisch gut darzustellen. Darüber hinaus machen sie mögliche Bandbreiten der Entwicklung deutlich und zeigen damit die Relevanz einzelner Politiken.


3.5.3 Blinde Flecken in der Vollzugsforschung*
* [ Vgl. die entsprechenden Beispiele in Teil B, Kap II. 7.]


Da der Bund in vielen Fällen nicht für den Vollzug seiner Gesetze zuständig ist und die Kosten dementsprechend bei Ländern, Kommunen, Behörden und Privaten entstehen, gibt es die Neigung, Kosten und Nutzen des Vollzugs zu vernachlässigen. Dementsprechend werden die Bedingungen eines praktikablen und kostengünstigen Vollzugs bei der Entscheidungsvorbereitung für Regelungsvorhaben in der Tendenz unterbewertet.

Zu einer generellen Unterbewertung der Vollzugskosten kommt es, weil die Vollzugskosten bei Ländern und Kommunen in der Regel mit Hilfe der Haushaltspläne erhoben werden. Darin sind jedoch nicht die Pensionsrückstellungen, Raummieten und Abschreibungen enthalten.

Viele Regelungsbereiche werden durch die Rechtsprechung und im Durchgang durch verschiedene Novellierungen immer komplexer. Dies gilt z. B. für alle Vollzugsaufgaben, bei denen das Einkommen eines Antragstellers ermittelt werden muß (z. B. Wohngeld), weil es zu einer Zunahme von Teilzeit- und Mehrfachbeschäftigungen sowie zu einer Zunahme von Transfereinkommen verschiedener Art gekommen ist. Hinzu kommt, daß sich die Einkommenssituation im Zeitablauf häufiger ändert, so daß sich die durchschnittliche Gültigkeitsdauer einer Einkommensberechnung reduziert. Diese Ausdifferenzierung des Rechts drückt sich in der Praxis u. a. durch immer unverständlichere Antragsformulare aus. Im Ergebnis kommt es zu einem Mehraufwand beim Antragsteller und beim zuständigen Sachbearbeiter. Die Kosten einer zunehmenden Ausdifferenzierung und Komplexität des Rechts werden nur unzureichend an den Rechtsetzer zurückgemeldet. Entsprechende Vereinfachungsbemühungen werden unterbewertet.

Im Zweifelsfall kommt es durch die Trennung von Regelsetzung und Vollzug auch zu einem völlig überflüssigen Aufwand.

[Seite der Druckausg.: 29]

3.6 Unzureichender Informationsfluß – eine Dauerklage

Ausgeprägte Hierarchien sind durch ständigen Informationsverlust gekennzeichnet. Unter den Bedingungen, unter denen Politiker agieren müssen, tritt ein solcher Informationsverlust besonders leicht ein, da Minister – anders als die Chefs großer Unternehmen – sich nur zum Teil auf ihre internen Steuerungs- und Verwaltungsaufgaben konzentrieren können. Sie müssen sich mit erheblichem Zeitaufwand an der politischen Diskussion in der Öffentlichkeit und in ihrer Partei beteiligen. Der ständige Zwang, Konsens zu stiften, kommt einer Sisyphus-Aufgabe gleich. Damit bleibt zu wenig Zeit für die unterschiedlichen, hochspezialisierten Fachbereiche und ihre Fachpolitiken. Fast alle Bürokraten klagen deshalb darüber, daß ihre Berichte und Vermerke zu wenig gelesen und zur Kenntnis genommen werden. Fast alle Minister klagen darüber, daß ihre politischen Intentionen nur unbefriedigend und unvollkommen umgesetzt werden. Die dahinterstehenden Kommunikationsmängel sind strukturbedingt und stellen ein ständiges Risiko für die Qualität der Leistungen von Ministerien, einschließlich der Leitungen dar. Dabei muß man vom Zeitmangel der Politiker als einem dauerhaften Problem ausgehen. Gemessen an der Vielfalt der Themen und Probleme bleiben für Einzelfragen oft nur winzige Zeitbudgets. Aufwendige Problemlösungen scheitern, wenn sie Ministerentscheidungen erfordern, vielfach an der Unmöglichkeit, ausreichende Besprechungs- und Entscheidungstermine zu erhalten. Dies gilt vor allem für Grundsatzthemen, die nicht durch aktuelle politische Ereignisse oder Krisen zwingend auf die Tagesordnung gelangen. In jedem Fall entstehen aus den Kommunikationsdefiziten Qualitätsdefizite des politischen Handelns der Ministerien.

3.7 Zeit – Streß – eine weitere Dauerklage

Ministerialbeamte klagen darüber, daß sie ständig voll beschäftigt werden, ohne am Ende eines Arbeitstages oder einer Woche genau sagen zu können, wofür die Zeit verwendet wurde. Ständige Anfragen wegen irgendwelchen Informationen, unzählige Mitzeichnungen bei mehr oder weniger bedeutsamen Vorgängen, Sachstandsberichte, innere Verwaltungsaufgaben, Reisen und Teilnahme an unwichtigen Sitzungen sowie vieles mehr belasten das Zeitbudget. Für die „eigentliche" spezielle Facharbeit mit Gewicht bleibt zu wenig Zeit. Wichtige Lektüre oder das Schreiben wichtiger Texte müssen ohnehin auf die Abende oder das Wochenende verschoben werden. Das Gefühl, durch die Organisation mit Arbeitsschrott zugeschüttet zu werden, hat leider eine reale Basis. Es gibt zu wenig Filter oder effiziente Arbeitstechniken, die Zeit effizienter verwendbar machen.

Eine Schlüsselaufgabe lautet, hochqualifizierte Mitarbeiter oder Mitarbeiter in hoher Verantwortung

  • auf wichtige Aufgaben zu konzentrieren,
  • in einem ständigen Lernprozeß wach und kreativ zu halten,
  • ihre Aufgaben zeitgemäß zu definieren oder umzudefinieren und
  • ihre Motivation und ihr Engagement zu stärken und zu stützen.

Das bedeutet, das Ministerium sollte keine Burning-Out-Umwelt, sondern eine anregende, motivierende, herausfordernde und lernende Organisation sein, in der jeder einzelne wächst und sich weiterentwickelt. Es ist nicht möglich, im Detail auszuarbeiten, was alles geschehen kann, um dieser Idealvorstellung näherzukommen. Einige Hinweise können die Richtungen deutlich machen.

[Seite der Druckausg.: 30 = Leerseite]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2000

Previous Page TOC Next Page