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Nachsowjetische Verfassungen und politische Entwicklung

Ein notwendiges Attribut nachsowjetischer Staatlichkeit waren neue Verfassungen. Sie konstituierten in Zentralasien wie in den meisten übrigen nachsowjetischen Staaten Regierungssysteme, aus denen das Amt des Präsidenten durch seine Machtfülle herausragt, sprechen aber auch von politischen Werten wie Gewaltenteilung, Pluralismus und bürgerlichen Grundrechten und sind an solchen Stellen nach westlichen Vorbildern modelliert. Zentralasiatische Staaten haben innerhalb der GUS am frühesten ihre neuen Verfassungen verabschiedet - Turkmenistan bereits im Mai 1992, Usbekistan im Dezember 1992, Kasachstan im Januar 1993, Kirgistan im Mai 1993.

In Kasachstan und Kirgistan wurden die Verfassungen 1995 bzw. 1996 novelliert, wurde per Referendum die politische Gewalt stärker als in den ersten Verfassungsvorlagen zur Präsidialexekutive verschoben. Die neuen Verfassungen machten dort, wo sie sich an der "civil society" orientierten, normative Vorgaben, denen die tatsächliche politische Entwicklung nicht folgte. So weitete sich die Kluft zwischen dem liberalen Wortlaut von Verfassungen und den politischen Realitäten der Länder.

In Turkmenistan hatten bei der Verfassungsdiskussion im Parlament die Abgeordneten den "fundamentalen Unterschied zur sowjetischen Republikverfassung von 1978" betont, z.B. was den rechtlichen Status des Individuums und die politische Gewaltenteilung betrifft. Die Verfassung gewährt Grundrechte, von denen in der politischen Realität des Landes überhaupt keine Rede sein kann. Es gibt hier nur eine Quelle politischer Meinung und Handlung, den Turkmenbaschi (das Haupt der Turkmenen), der als Monarch unter dem Präsidententitel regiert. Jeder Ansatz von politischem Pluralismus und Oppositionsbildung wurde in Turkmenistan im Keim erstickt. Nationale Einheit, ethnischer Frieden und starke soziale Kontrolle sind dabei die Hauptstichworte der autoritären Staatsphilosophie. Selbst der heutige Hauptkritiker des "Turkmenbaschi", der ehemalige Außenminister Kulijew, räumte ein, daß die autokratische Regierungsform der Situation einer von Stammesstrukturen geprägten Gesellschaft angemessen sei.

Die Verfassung Usbekistans fordert, daß sich "das gesellschaftliche Leben auf der Grundlage der Vielfalt politischer Institutionen, Ideologien und Meinungen" vollziehen solle. Auch hier wird ein Pluralismus als Grundwert postuliert, der in der politischen Praxis als Gefahr für Stabilität behandelt wurde. Eine freie Bildung politischer Kräfte wurde verhindert bzw. vom Staat kontrolliert und auf Parteien beschränkt, die der Regierung genehm sind. Oppositionelle "Parteien" wie die nationalistische Gruppierung "Birlik" und die gemäßigtere "Erk" wurden seit 1992 zerschlagen. Oppositionelle wurden teilweise unter Druck gesetzt oder verhaftet, teilweise in den Machtapparat kooptiert. Von freien, regierungsunabhängigen Medien kann nicht die Rede sein. Weist man auf solche Demokratiedefizite hin, bekommt man zu hören, man unterschätze die Gefahren, denen der junge Nationalstaat ausgesetzt ist: das Prinzip der westlichen Demokratie mit seiner individualistischen Orientierung könne von den Interessen partikularer Kräfte wie Klan, Stamm und anderen okkupiert werden. Als Legitimationsmittel dient hier auch der Hinweis auf die Gefahr des "islamischen Fundamentalismus" für den GUS-Raum.

In Usbekistan wurde die autoritäre Staatsführung auf zwei Argumentationsgrundlagen gestützt: auf die historische, regionsspezifische politische Traditionen anführende Begründung, und die transitorische, die mit Destabilisierungsgefahren bei der Transformation argumentiert. Der usbekische Präsident hat seine Philosophie der Staatsführung in diesem Sinne ausführlich dargelegt. Gleichzeitig hob er aber den "demokratischen Rechtsstaat" und die "bürgerliche Gesellschaft" als die Zielpunkte der "Transformation" hervor, die allerdings einem eigenen, einem "usbekischen Weg" folgen müsse. Was die historische Argumentation betrifft, wies man in Kirgistan darauf hin, daß die eigene Geschichte sehr wohl Elemente von Demokratie (Stammesdemokratie) enthält.

Unter den politischen Werten erlangte Stabilität die eindeutige Priorität. Konfrontiert mit abschreckenden Beispielen wie dem Zerfall Tadschikistans und der Konflikthäufung im Kaukasus, setzte Karimow auf die politische Strategie autoritärer Stabilisierung. Der schwierige Transformationsprozeß wurde rigider staatlicher Kontrolle unterworfen. Für die Zwecke der Stabilitätswahrung nutzte man die alten Machtstrukturen unter neuen Vorzeichen. Aus dem KGB wurde der nationale Sicherheitsdienst, aus der KP die Volksdemokratische Partei, aus Kommunismus Patriotismus und nationales Modernisierungsbestreben. Man hat dieses Modell als "autoritäre Modernisierung" bezeichnet. Karimows Staatsphilosophie sucht die Balance zwischen Stabilitätswahrung und kontrollierten Reformschritten. Von der internationalen Öffentlichkeit wurde diese Strategie kontrovers beurteilt: einerseits wurden Stabilisierungserfolge und Transformationsschritte gelobt, andererseits klagte man Taschkent der Verletzung von Menschenrechten und schwerer Demokratiedefizite an.

Einmal ganz abgesehen von Demokratisierungsforderungen an nachsowjetische Staaten, bleiben kritische Fragen an die vermeintliche Stabilität des "autokratischen Modells" zu stellen: Sind die herrschenden Bürokratien, die neu-alten Machteliten in sich stabil, oder unterliegen sie der Gefahr innerer Machtkämpfe zwischen lokalen, klan- oder stammesmäßigen Fraktionen, die zu einer Ursache für den staatlichen Zerfall Tadschikistans geworden sind; sind sie fähig, unaufschiebbare Reformen in Angriff zu nehmen oder versickern Reformimpulse aus dem Präsidentenpalast im Korruptionsgestrüpp der Staatsverwaltungen; beruhen Stabilität und Staatsbildung in Zentralasien auf Institutionen oder auf einer Person, dem einen "starken Führer" ? So kommentiert eine Studie in Foreign Policy (1/1995) die oft gerühmte "Stabilität" Turkmenistans skeptisch: "Die politische Szene bleibt unter der Präsidentschaft Saparmurad Nijasows instabil. (Nijasow) unternimmt ständig Maßnahmen, seinen persönlichen Griff auf die Macht zu sichern, indem er einflußreiche Minister ersetzt oder den Armeechef feuert. Aber er soll sich dabei immer mehr isolieren, auch von seinen ehemals engsten Gefolgsleuten".

Sowjetische Nachfolgestaaten entwickelten politische Institutionen, die man bestenfalls als "Attribute von Demokratie" bezeichnen kann. Zu ihnen gehören ein gewählter Präsident, ein - zumeist aus zwei Kammern bestehendes - Parlament, ein Verfassungsgericht, Wahlen unter internationaler Beobachtung u.a. Mit Abstand ist diejenige politische Institution, die am effektivsten ausgebaut wurde, die Präsidialgewalt. In dieser Hinsicht sind die zentralasiatischen Staaten keine Ausnahme in der GUS, denken wir nur an die enormen Vollmachten Jelzins innerhalb der politischen Machtstrukturen Rußlands nach 1993. Aber in Zentralasien ließ der Ausbau der Präsidialgewalt keinen Platz für andere politische Gewalten und geschah besonders rigoros, so durch die Verlängerung der Amtszeiten der Präsidenten per Referendum unter Aussetzung von Neuwahlen (Turkmenistan, Usbekistan, Kasachstan), durch Parlamentsauflösungen durch den Präsidenten und propräsidentielle Verfassungsänderungen (Kasachstan und Kirgistan). Allerdings hatten reformfeindliche Parlamente, die ihrer legislativen Funktion kaum nachgekommen waren, diese Entwicklung auch herausgefordert.

Ein im Westen anfangs wichtig genommenes Phänomen beim Übergang von der sowjetischen zur nachsowjetischen Periode war die Bildung von "Parteien", besser gesagt, von "parteiförmigen" Organisationen, in den Unionsrepubliken. Auch in den zentralasiatischen Republiken kam es mit Ausnahme Turkmenistans zur Bildung "informeller Bewegungen". Zur KP alternative Organisationen entstanden am frühesten in Kasachstan. Sie bestimmten auch in Tadschikistan vorübergehend (1991-1992) die Innenpolitik und konnten sich in nachsowjetischer Zeit am freiesten in Kirgistan entfalten. Bald stellte sich aber heraus, daß der Begriff der "Partei" im westlichen Verständnis des Wortes auf die diesbezüglichen Gruppierungen nicht anwendbar war. Auch dort, wo sich "Parteien"bildung unter relativ freiheitlichen Bedingungen vollziehen konnte, waren die diesbezüglichen politischen Kräfte nur schwach organisiert, in der Gesellschaft kaum verwurzelt, oft nur an ihren Führern und kaum an einem Programm für die Bevölkerung unterscheidbar. Am ehesten erkennbar blieb noch jene Partei, die den Begriff "Partei" in sowjetischer Zeit okkupiert hatte, die KP und ihre unter diversen Bezeichnungen stehenden Nachfolgeorganisationen. Letztere stellten in Turkmenistan (Demokratische Partei), Usbekistan (Volksdemokratische Partei) und Tadschikistan die Regierungs- und Präsidentenparteien.

Den Grundwerten der Verfassung kam die politische Entwicklung am nächsten in Kirgistan. Dieses Land wurde im Westen plakativ als "Insel der Demokratie und Marktwirtschaft" in Zentralasien dargestellt, doch auch hier sind die Voraussetzungen für diese Besonderheit historisch nicht gewachsen, und in den letzten Jahren stellte man fest, daß auch Kirgistan dem Trend zur Präsidialautokratie folgt. Präsident Akajew unterschied sich von seinen Amtskollegen in den Nachbarländern allerdings bis zuletzt dadurch, daß er sich Neuwahlen stellte und einer Verlängerung seiner Amtsführung per Referendum entsagte. Doch auch er ließ sich die Verfassung in einer Novellierung im Februar 1996 auf sein Amt zuschneiden, trifft politische Entscheidungen in einem engen Kreis seiner Berater und eines "Sicherheitsrats", regiert im wesentlichen per Ukas und unabhängig von Parlament und Ministerkabinett und schränkte politische Freiheitsrechte ein. Der Grad der Versammlungs - und Pressefreiheit und anderer politischer Grundrechte blieb in Kirgistan dennoch höher als in anderen zentralasiatischen Staaten.

So reicht das politische Spektrum von der "Präsidialmonarchie" Turkmenistans bis zur "Präsidialdemokratie" Kirgistans. Dabei ist die Positionierung in ihm in Bewegung. In Kasachstan, das im Westen anfangs wie Kirgistan als ein Hoffnungsträger für wirtschaftliche und politische Transformation galt, ging die Entwicklung konsequent zur Präsidialautokratie, in letzter Zeit unter Einschränkungen der Pressefreiheit und Repressionen gegenüber Regimekritikern. Dagegen sendet die von vornherein als autoritär eingestufte Regierung Usbekistans seit 1996 Signale einer innenpolitischen "Liberalisierung" an die Weltöffentlichkeit. Man hat ein neues Parteiengesetz verabschiedet, das allerdings der Regierung reichlich Handhabe gegen unliebsame Parteienbildung einräumt, beklagt offiziell den Mangel an Pressefreiheit, will etwas mehr Demokratie riskieren und das menschenrechtspolitische Image verbessern. Bislang kam diese "Demokratisierungswelle" kaum über die deklaratorische Ebene hinaus.

Mit Ausnahme Tadschikistans besteht nirgendwo eine politische Opposition, die den regierenden Präsidenten gefährlich werden könnte. Dasjenige Oppositionsthema, mit dem die Bevölkerung am ehesten mobilisiert wird, ist nicht der Mangel an Demokratie, sondern die soziale Krise. In Kasachstan ist heute die aktivste Oppositionsgruppierung die Sammelbewegung "Azamat", die Mißstände des Landes - Korruption, Wirtschaftskrise, die Emigration der Russischsprachigen - kritisiert. Im Herbst 1996 mobilisierte eine Konföderation unabhängiger Gewerkschaften Protestkundgebungen in Almaty und in anderen Städten. Im Unterschied zu früheren politischen Gruppierungen vereinigen diese Dachorganisationen die Menschen unabhängig von ihrer Nationalität im Protest gegen die Bürokratie und eine Regierung, die ihre Reformversprechungen nicht erfüllen konnte. Von einer massiven politischen Opposition kann aber auch in diesem Fall nach Meinung der meisten Beobachter nicht die Rede sein.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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