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Ideologische Untermauerung der Souveränität

Sowjetische Nachfolgestaaten in Zentralasien hatten es schwerer als z.B. die transkaukasischen, aus ihrer regionalen Geschichte Grundlagen für den modernen Nationalstaat in den heutigen Grenzen und unter der heutigen ethnoterritorialen Bezeichnung abzuleiten. Die zentralasiatischen Völker können auf eine reiche regionale Geschichte blicken, die zu ältesten Zivilisationen zurückführt und selbstverständlich auch die Erfahrung von Reichs-und Staatsbildungen einschließt. Doch die hatten nicht auf dem Nationalitätenprinzip basiert, das die heutige Staatengliederung strukturiert. Die "-istan-Länder" sind in ihren heutigen Grenzen Produkte einer "nationalen Abgrenzung", die von der sowjetischen Nationalitäten- und Gebietspolitik in den zwanziger Jahren nach oft fragwürdigen ethnoterritorialen und linguistischen Strickmustern und nach den Bedürfnissen der sowjetischen Herrschaftsausübung vorgenommen worden war. Innerhalb der Unionsrepubliken hatte sich dann in sieben sowjetischen Jahrzehnten eine Republikidentität mit Bezug auf die jeweilige "Titularnation" gebildet. Es ist aber umstritten, wie breit und wie tief sie in der lokalen Bevölkerung verwurzelt war und wie weit sie Vorrang vor traditionellen stammesmäßigen und lokalen Identitäten und Loyalitätsbeziehungen erlangt hat.

Die Voraussetzungen für "nationale Staatlichkeit" waren ungleich: In Usbekistan bestanden seit Gründung der Unionsrepublik 1924 günstigere territoriale, ethnische und historische Voraussetzungen dafür. Usbekistan verfügte gegenüber seinen Nachbarn über eine bessere Infrastruktur und verkehrsmäßige Erschließung, einen größeren Reichtum an historischen Symbolen und Denkmälern, die für die Schaffung eines Nationalbewußtseins genutzt werden können, und es war ethnisch homogener als seine Nachbarn. Dieser Vorteil wird besonders deutlich im Vergleich zum Nachbarstaat Tadschikistan, dem es an solchen Ressourcen für Nationalstaatlichkeit fehlt, oder im Vergleich zu Kasachstan, das sich durch seine ethnischen Bevölkerungsproportionen als "Nationalitäten-" und nicht als "Nationalstaat" ausweist.

In Usbekistan betrieb man nach 1991 eine energische Politik des "nation-building". Die Voraussetzungen dafür waren von der Republikelite bereits in sowjetischer Zeit geschaffen worden. Die Nutzung regionaler mittelasiatischer Kultur- und Geschichtssymbole wird hier so eifrig betrieben, daß sich der Eindruck einer Okkupation mittelasiatischer Regionalgeschichte durch den Nationalstaat Usbekistan ergibt. Nicht nur die Reichsdynastie der Timuriden des späten Mittelalters, sondern auch die großen islamischen Theologen und Schriftsteller Mittelasiens früherer Jahrhunderte werden für einen regionalen usbekischen Führungsanspruch vereinnahmt. Im Zentrum steht der Kult um Timur Lenk (Tamerlan), der zwischen 1370 und 1425 ein mittelasiatisches Reich mit Ausstrahlungen nach Indien und Eurasien und mit hohem Kultur- und Verwaltungsstandard geschaffen hatte. Der Kern seines Reichs entfiel auf das Territorium des heutigen Usbekistan. Doch ein "ethnischer Usbeke" im heutigen Wortsinne war er nicht. 1996 erreichte dieser Kult seinen Höhepunkt mit der 660-Jahrfeier des "Amir Timur".

Solche Kultur- und Geschichtspolitik hat sowohl mit innenpolitischer Stabilität als auch mit der Legitimierung von Eliten zu tun, die durch den Zerfall des Kommunismus zunächst delegitimiert waren. Bezeichnenderweise ersetzte das neue Reiterstandbild Timurs in Taschkent das Denkmal von Karl Marx. Der Kult um Timur wird in Verbindung zur heutigen Republikführung gebracht. In ihn werden immer weitere Lebensbereiche einbezogen. Präsident Karimow vergleicht sich zwar nicht direkt mit Timur, baut aber eine Parallele zwischen der timuridischen Herrschaft und seinem Regierungsstil auf. Ähnlichkeiten sollen dabei in folgenden Punkten liegen: Timur einigte die Völker Mittelasiens, schuf ein striktes "law and order"-Regime in einer Periode des Chaos, und seine Dynastie förderte wissenschaftliche und kulturelle Innovation. Nach den Angaben der heutigen Kulturelite Usbekistans wird solche nationale Selbstbestätigung vom Staat auch deswegen kultiviert, um der Kinderkrankheit des Ethno-Nationalismus vorzubeugen. Bei der Besinnung auf die Geschichte Usbekistans wird auf die polyethnische Bevölkerung des Landes hingewiesen.

Die historischen Ressourcen der anderen Staaten für die Bestätigung ihrer "nationalen" Geschichte sind knapper: Kasachstan feierte seinen Aufklärer, den Schriftsteller Abai aus dem neunzehnten Jahrhundert, Kirgistan seinen mythischen Helden Manas und mit ihm das größte Epos der Weltliteratur, Turkmenistan seinen Nationaldichter Machtumquli, Tadschikistan seine persische Kulturgrundlage.

"Transformation" geht für die hier behandelten Staaten über die Umstellung politischer und wirtschaftlicher Systeme weit hinaus in die Organisation von Identität und Erinnerung. Sie bringt Paradebeispiele von invented tradition hervor. Bei der Organisation der Republikidentitäten werden zumeist "die alten Geschichten fortgeschrieben", jene Geschichtsbilder kultiviert, welche die Umwandlung willkürlich abgegrenzter Gebietskonglomerate in nationale Sowjetrepubliken untermauern sollten. Neu ist die Absetzung von der sowjetischen Ordnungsmacht, die diesen Rahmen gesetzt hatte.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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