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1. Einführung: Analytische Ambivalenz

Nach dem Tode Deng Xiaopings sind sich die meisten Kommentatoren dahingehend einig, daß dieses Ereignis nicht zu einer Destabilisierung der chinesischen Entwicklung führen wird. Bereits seit Monaten zieht die Parteiführung die ideologischen und politischen Zügel an, um zu verhindern, daß solche Ereignisse in Volksbewegungen und anderen Formen der offenen oder verdeckten Äußerungen des Unmuts thematisiert werden könnten. Ein führungsinterner Konflikt um die Nachfolge ist wenig wahrscheinlich, da die Führung auf kollektive Entscheidungsstrukturen eingestellt ist und sich jeder Beteiligte darüber im Klaren ist, daß eine Nachfolgekrise letzten Endes die eigene Machtposition gefährden würde. Insofern sind für die Entwicklungen im China nach Deng Xiaoping die längerfristigen Trends ausschlaggebend.

Diese Trends werden ausgehend von einer Analyse der Ereignisse des Jahres 1996 im Folgenden betrachten. In diesem Jahr haben im chinesischen Kulturraum einige wichtige Weichenstellungen stattgefunden, die seine Entwicklung bis zur Jahrtausendwende prägen werden. Unter der Oberfläche von Ereignissen wie Taiwan-Krise, der Woge des Nationalismus um die unter japanischer Souveränität stehenden Diaoyu (jap. Senkaku) Inseln oder der Bestimmung des ersten Regierungschefs von Hong Kong nach dem 1. Juli 1997 haben sich politische und wirtschaftliche Entwicklungen fortgesetzt, die durch die Systemtransformation des Festlandes in den achtziger Jahren angestoßen worden waren und die sich in der ersten Hälfte der neunziger Jahren verfestigt hatten.

Diese Gemengelage schlug sich 1996 in zwei gegensätzlichen Erscheinungen nieder. Auf der einen Seite konnte die Zentralregierung der VR China politisch nach innen und außen ihre Position festigen. Ereignisse wie die weiterhin scharfen Urteile gegen Dissidenten (zuletzt mit dem äußerst harten Urteil gegen Wang Dan), die radikale Politik des "großen Schlages" gegen die zunehmende Kriminalität im Lande oder die blutige Unterdrückung einer uighurischen Demonstration in Xinjiang (Februar 1997) zeigen einerseits, daß Peking gewillt und in der Lage ist, die Macht in den Händen zu halten. Mit großem Geschick wird nach außen die Rolle als künftige Wirtschaftsmacht ausgespielt, zuletzt besonders prägnant mit dem kürzlichen diplomatischen Umschwenken Südafrikas von Taiwan zur VR China. Auf der anderen Seite setzt sich aber der innere Verfall der Machtgrundlage Pekings fort: Wichtigstes Symptom ist der weiter anhaltende Niedergang der fiskalischen Position der Zentralregierung mit einer bereits heute im internationalen Vergleich weit unterdurchschnittlichen Staatsquote. Hiobsnachrichten chinesischer Neokonservativer sehen eine Staatsquote von deutlich unter 10% im Jahre 2000 für realistisch an. Damit wäre der Zentralstaat kein wirtschaftlicher Machtfaktor mehr.

Solche gegensätzlichen Entwicklungen erschweren eine Beurteilung der Lage. Der westliche Betrachter begegnet in der Regel eher den zuerst genannten Erscheinungen und gewinnt so unter Umständen ein ganz anderes Bild von der Stabilität und Stärke Chinas, als derjenige, der sich mit eher längerfristig stabilen Trends wie dem zuletzt genannten auseinandersetzt. Diese analytischen Ambivalenzen nehmen noch zu, wenn die unerläßliche Verschiebung des Fokus von den politischen Einheiten zur Dynamik des chinesischen Kulturraumes insgesamt erfolgt.

Hingewiesen sei nur auf die Tatsache, daß der chinesischen Kulturraum eine wachsende innere Verflechtung nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht erfährt, sondern viel weiter reichend auf der Ebene gesellschaftlicher Eliten. Die hohe Mobilität von Akademikern, Geschäftsleuten, Politikern oder Administratoren zwischen den verschiedenen Bereichen des chinesischen Raumes hat inzwischen dichte Kommunikationsnetze selbst zwischen Singapur und wichtigen Städten des Festlandes etabliert, deren längerfristige Auswirkungen auf den politischen Wandel des Festlandes kaum angemessen gewürdigt werden können. Vor allem für den Übergang Hong Kongs 1997, der 1996 intensiv vorbereitet wurde, spielen solche informellen Politik-Netzwerke eine überragende Rolle. Insofern muß künftig jede Analyse von Entwicklungen "in China" eine Analyse des chinesischen Kulturraumes sein, nicht aber nur der "VR China". Dies ist aber gerade wegen des informellen Charakters vieler Prozesse ein noch schwierigeres Unterfangen, als es das konventionelle "China-Watching" ohnehin schon war und ist.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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