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Vom kalten Frieden zum heißen Krieg?

Die (Direkt-)Wahl des Likud-Führers Benjamin Netanyahu zum Ministerpräsidenten Israels und die Niederlage des Friedens-nobelpreisträgers Shimon Peres haben die Weltöffentlichkeit mehr überrascht und geschockt als die Israelis selbst. Nur wenige außerhalb Israels können die tiefsitzenden Ängste und Komplexe der meisten Israelis - auch im Friedenslager - verstehen, die bei jedem Anzeichen von Gefahr oder Verhärtung die Existenz ihres Landes in Frage gestellt sehen, wie dies auch bis zum Yom-Kippur-Krieg 1973 tatsächlich der Fall war. Wenn jetzt wieder öffentlich auf beiden Seiten - in Israel wie im arabischen Lager - von der Möglichkeit eines Krieges geredet wird, so ist dies zwar in erster Linie auf die verhärtete und zum Teil ungeschickte Politik der neuen Rechtsregierung zurückzuführen. Aber man sollte nicht vergessen, daß Israel von einem Normalzustand - trotz der Friedensabkommen mit Ägypten und Jordanien sowie des Oslo-Abkommens - noch weit entfernt ist, daß man sich immer noch in einem Zwischenstadium von Krieg und Frieden befindet. Vier Daten aus dem Jahre 1996 belegen dies:

Bei vier Terroranschlägen zwischen dem 25. Februar und dem 4. März in Jerusalem, Aschkelon und Tel Aviv werden 57 Menschen getötet und etwa 200 verletzt. Nach Raketenangriffen der fundamentalistischen Hisbollah auf Nord-Israel im April, bei denen es mehrere Tote und Verletzte gibt und zehntausende Zivilisten evakuiert werden, startet die israelische Armee die Operation "Früchte des Zorns" im Süd-libanon; dabei werden auf libanesischer Seite mehr als 160 Menschen getötet, hunderttausende fliehen aus dem Kampfgebiet. Bei den schweren Unruhen nach der Öffnung des Altstadttunnels im September sterben 14 israelische Soldaten; auf palästinensischer Seite gibt es 55 Tote und 1400 Verletzte. Im Verlauf des Jahres 1996 wurden in der israelischen Sicherheitszone im Süd-Libanon 27 israelische Soldaten getötet (gegenüber 23 im Jahre 1995).

Bei einem solch kleinen Land sind dies nicht nur statistische Tragödien sondern Ereignisse, von denen fast jeder - als Angehöriger, Freund, Kollege - in der einen oder anderen Form betroffen ist. Daß dies auf palästinensischer oder libanesischer Seite nicht anders ist, macht die Verhärtung in allen Lagern verständlich und zeigt, wie mühselig es in einer solchen seit Jahrzehnten andauernden Situation ist, eine Vertrauensbasis für Friedensgespräche aufzubauen. Der früheren Regierung unter Führung der Arbeitspartei war es seit 1992 gelungen, eine solche Vertrauensbasis zu schaffen, die zum Oslo-Abkommen 1993 und zum Friedensvertrag mit Jordanien 1994 führte; andererseits galten eben dieser Regierung die Terroranschläge vom Frühjahr 1996, und es war dieselbe Regierung, die für die Militäroperation im Süd-Libanon verantwortlich zeichnete, bei der es zu dem schrecklichen Massaker im UNO-Lager von Qana kam.

Diese wenigen Daten aus einem normalen Jahr in der israelischen Geschichte machen die ganze Dimension der Herausforderung deutlich, vor der die Friedenskräfte in Israel, der arabischen Welt und darüber hinaus in der internationalen Staatengemeinschaft stehen. Sogenannte einfache Wahrheiten kann es in einem solch undurchschaubaren Geflecht von Existenzängsten, Haß und Machttrieb , wie es der Nahe Osten heute immer noch ist, nicht geben. Dazu gehört die simplistische Forderung von Netanyahu, vor einer endgültigen Friedensregelung müßten die arabischen Nachbarstaaten demokratischen Maßstäben genügen, um sie als verläßliche Partner akzeptieren zu können. Dazu gehört auf der anderen Seite das nicht minder simple Ansinnen von Teilen der internationalen Öffentlichkeit an Israel, nicht nur die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein, sondern auch im gleichen Maße zu funktionieren, wie eine westeuropäische demokratische Wohlfahrtsgesellschaft im tiefsten Frieden.

Ohne Frage steht fest, daß der von der israelischen Rechten so vehement beklagte kalte Frieden mit den arabischen Nachbarn seit dem Regierungsantritt von Netanyahu noch ein beträchtliches Stück kälter geworden ist. Und es waren Teile des Regierungslagers, die das Kriegsgeschrei schürten, mit Ankündigungen über den massiven Ausbau der jüdischen Siedlungen im Westjordanland die Stimmung im arabischen Lager anheizten und die noch von der Regierung Peres verhängte anhaltende Abriegelung von Gaza und Westbank und damit verbundene Übergriffe der Grenzpolizei gegen Palästinenser rechtfertigten. Netanyahu selbst versuchte, auf Zeitgewinn zu spielen, die komplizierte Lage auszusitzen und möglichst wenig Entscheidungen zu treffen. Doch die wenigen Entscheidungen, die er dann doch traf, erwiesen sich als kapitale Fehler:

- Nach seiner monatelangen Weigerung, sich mit Arafat zu treffen, stellte sich die Zusammenkunft am 4. September für diesen letztlich als Erfolg dar. Nicht nur wurde Netanyahu im eigenen Lager heftig kritisiert, auch benutzte von nun an Arafat die von den Israelis künstlich hochgespielte Bedeutung solcher Gipfeltreffen als Waffe im psychologisch-diplomatischen Kleinkrieg.

- Die unsinnige, von allen Vorgänger-Regierungen hinausgezögerte Öffnung des sogenannten Hasmonäer-Tunnels in der Altstadt von Jerusalem im September führte nicht nur zu blutigen Unruhen, sondern ließ Israel in der Weltöffentlichkeit erstmals seit Jahren wieder als brutale und unsensible Besatzungsmacht erscheinen und lenkte die Aufmerksamkeit auf die harten Konsequenzen der seit Herbst 1995 andauernden Abschnürung der palästinensischen Gebiete: 51 Prozent der Bevölkerung in Gaza und 40 Prozent in der Westbank sind arbeitslos, das Pro-Kopf-Einkommen sank von 1800 auf 800 US-Dollar in der Westbank, von 1200 auf 800 Dollar in Gaza.

- Die schon von der Peres-Regierung hinausgezögerte Räumung von Hebron, die nach dem Oslo-Abkommen im April 1996 hätte stattfinden sollen, führte Netanyahu vollends in die Sackgasse. Statt Punkte im eigenen Lager zu sammeln, verstärkte sich dessen Widerstand gegen das Räumungsabkommen. Zugleich nutzte Arafat das klägliche Bild einer sowohl halsstarrigen wie unsicheren israelischen Führung, um immer weitergehende Forderungen an seine Unterschrift zu knüpfen.

Die Summe dieser Fehlentscheidungen führte zu einer rapiden Abkühlung des Verhältnisses zu den arabischen Staaten, insbesondere zu den beiden einzigen arabischen Ländern mit vollen diplomatischen Beziehungen zu Israel, nämlich Ägypten und Jordanien. Da diese beiden Länder zugleich zu den wichtigsten Akteuren im nahöstlichen Friedensprozeß gehören, könnte sich dieser Vertrauensverlust in Zukunft für Israel noch schmerzlich bemerkbar machen. In abgeschwächtem Maße gilt dies auch für die übrigen fünf arabischen Staaten mit quasi-diplomatischen Beziehungen zu Israel, die wichtige Brücken zum Rest der arabischen und islamischen Welt darstellen: Marokko, Tunesien, Mauretanien, Oman und Katar. Alle diese Länder haben ihre Beziehungen zu Israel inzwischen eingefroren oder auf ein Mindestmaß reduziert. Auch der schon verlorengeglaubte Status Israels als internationaler Paria tauchte Anfang Dezember wieder am Horizont auf, als in einer Abstimmung der UN-Vollversammlung über die Golan-Höhen Israel wie früher mit den USA zusammen fast allein gegen den Rest der Welt stand.

Eine erneute internationale Isolierung Israels aber würde der im Lande stets latent vorhandenen Stimmung, sich nur auf die eigenen Kräfte verlassen zu können und keine Rücksicht auf die Weltöffentlichkeit nehmen zu müssen, da es ja immer um das Überleben der Nation geht, neuen Auftrieb geben. Eine solche Entwicklung könnte verheerende Auswirkungen auf den Friedensprozeß haben, weil eine Politik der Stärke wieder sicherheitspolitische und geostrategische Gesichtspunkte in den Vordergrund rücken würde. Dann könnte keine Rede mehr sein von palästinensischer Eigenstaatlichkeit, die Netanyahu einstweilen ohnehin ablehnt, und der bisher nur gebremst sich vollziehende Ausbau der jüdischen Siedlungen würde dann mit Vollgas vorangetrieben. Hardliner, wie der Infrastruktur-Minister Ariel Sharon, die von der Ansiedlung Hunderttausender in den besetzten Gebieten träumen, könnten dann zum Zuge kommen.

Dabei hat in der sicherheitspolitischen Community Israels längst eine ganz andere Debatte eingesetzt, die das herkömmliche strategische Denken in Frage stellt. Ging es bisher darum, möglichst weit vorgeschobene Verteidigungsstellungen zu besetzen, um im Falle eines Überraschungsangriffs genügend Zeit für die Mobilisierung der Reservisten - des Rückgrats der israelischen Armee - zu haben, so stehen jetzt neue Verteidigungs- und Abschreckungsmechanismen im Vordergrund, die mit der veränderten sicherheitspolitischen Groß-wetterlage im Nahen Osten zu tun haben. Bei allem in der letzten Zeit zu hörenden Geschrei in der israelischen Öffentlichkeit über die nur bedingte Abwehrbereitschaft der Armee sind sich die Militärexperten darüber einig, daß Israel jeden konventionellen Angriff eines oder mehrerer Nachbarstaaten parieren könnte. Dazu tragen die hohen Militärausgaben bei, die größer sind als die aller Nachbarstaaten zusammen, die technologische Überlegenheit sowie die Qualifizierung und Moral der Truppe, auch wenn letzteres zunehmend in Frage gestellt wird (siehe Grafik).



Neighborhood Balance of Strength



Defense-spending (in U.S.$)

Armed forces
+regular
++reserve

High-quality tanks

Combat aircraft

Non-conventional weapons capability

Israel

8.3b.
(1994)

+177,500
++427,000

1785

742

2 nuclear research reactors International reports esti-mate up to 300 nuclear warheads

Egypt

3.1b.
(1993)

+435.000
++695.000

950

457

Nuclear R & D

Jordan

500 m.
(1994)

+100.000
++60.000

375

103

none

Lebanon

275 m.
(1993)

+45.000

0

16

none

Palestinian
Authority

0

0

0

0

none

Syria

2,9 b.
(1993)

+390.000
++142.500 organized
750.000 non- organized

1500-1600

525

Basic nuclear R&D; chemical warheads for surface-to-surface missiles; biological agents unconfirmed


Quellen: Tel Aviv University Jaffee Center, Janerþs Defence Weakly





Hingegen zeichnen sich neue Gefahren am Horizont ab, denen mit herkömmlichen Mitteln nicht mehr zu begegnen ist:

- Die fundamentalistische Hisbollah-Miliz im Süd-Libanon, bislang mit relativ ziel-ungenauen und nur den äußersten Norden Israels bedrohenden Katjuscha-Raketen ausgestattet, soll angeblich seit kurzem über von Iran gelieferte weiterreichende Raketen verfügen, die den gesamten Norden Israels einschließlich der Großstadt Haifa bedrohen könnten.

- Syrien soll mit Hilfe russischer Experten chemische Waffen entwickelt haben, die, auf Scud B und C-Raketen montiert, ganz Israel erreichen können; der syrische Botschafter in Kairo drohte Anfang Dezember erstmals öffentlich mit einer derartigen Vergeltungsmaßnahme im Falle eines israelischen Angriffs.

- Mittelfristig die größte Gefahr droht Israel aber nach Meinung von Experten vom rasch voranschreitenden nuklearen Aufrüstungsprogramm des Iran, das auch die USA zunehmend beunruhigt. Die arabische Seite verweist hingegen auf die Tatsache, daß Israel die einzige Nuklearmacht des Nahen Ostens ist mit angeblich bis zu dreihundert atomaren Trägerwaffen und sich bisher beharrlich weigert, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten.

Ohne auf die Einzelheiten dieser militärstrategischen Debatte eingehen zu können - die wichtigsten Komponenten sind aus israelischer Sicht die im Dezember erfolgte Ankoppelung an das amerikanische Raketen-Satelliten-Warnsystem, der Aufbau des Arrow-Raketenabwehrsystems und die Neugestaltung der nuklearen Abschreckung - soll hier lediglich auf die politischen Konsequenzen für den Nahost-Friedensprozeß hingewiesen werden. Der ermordete Ministerpräsident Rabin und sein Nachfolger Peres, beide keineswegs geborene "Tauben" sondern erprobte Sicherheitspolitiker, hatten erkannt, welche Folgen diese strategischen Veränderungen nach sich ziehen würden. Es ging nicht mehr um territoriale Vorwärtsverteidigung sondern um die Schaffung einer Friedenszone in den aus militärischer Sicht wertlos gewordenen Gebieten und die Isolierung der zukünftig gefährlichsten Gegner wie Iran und Irak; Syrien lag irgendwo dazwischen und mußte entweder für den Frieden gewonnen oder ebenfalls isoliert werden. Die Tragik ist, daß beide es nicht verstanden - oder besser: sich nicht getrauten - die israelische Öffentlichkeit für dieses neue Konzept zu gewinnen, mit dem Ergebnis, daß die Wahlen im Mai 1996 für die Arbeitspartei verloren gingen und die Vertreter der traditionellen, auf territorialer Abschreckung beruhenden Sicherheitspolitik das Ruder übernahmen.

In dieser Konzeption kann natürlich kein Platz sein für einen palästinensischen Staat und keine Rede von der Rückgabe der Golan-Höhen an Syrien und der Aufgabe der Sicherheitszone im Süd-Libanon. Hinzu kommt der auf historisch-ideologischer Expansion beruhende Anspruch der religiösen Koalitionspartner in der neuen Regierung auf die Westbank ( in ihrer Diktion: Judäa und Samaria) und - in ihrer extremen Ausformung - sogar auf Jordanien, der die gegenwärtige israelische Politik zu einem unkalkulierbaren Gebräu von chauvinistischen, militaristischen und religiösen Ambitionen macht. Diese Unkalkulierbarkeit, verstärkt durch die Ungewißheit über die wahren Absichten von Netanyahu, läßt die Gefahr einer Explosion im Nahen Osten wachsen. Die Geschichte ist voll von Beispielen, daß Kriegsgeschrei schließlich zu wirklichem Krieg geführt hat.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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