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Geplatztes timing: gut gelaunte Finanzmärkte bis zur Wiederwahl...

Offensichtlich war die Erzielung eines Exportüberschusses von Anfang an nie ein Ziel der neuen Entwicklungsstrategie. Vielmehr ging und geht man davon aus, daß sich Brasilien als großer emerging market mit enormem Wachstumspotential, vergrößert noch einmal durch die Einbindung in den Mercosur, ein gewisses Außendefizit ohne Probleme leisten und mittels Kapitalzuflüssen finanzieren kann. Wichtig sei dabei in erster Linie, möglichst wenig spekulatives Portfoliokapital anzuziehen und dafür umso mehr „gutes" Kapital zu attrahieren, also produktive Direktinvestitionen und langfristige Kredite.

Daß mit einer solchen Strategie auch Risiken verbunden sind, die von seiten der brasilianischen Politik noch einmal deutlich erhöht worden sind, hat die Regierung nie ignoriert, sondern im Gegenteil bewußt in Kauf genommen, wie Cardoso selbst kurz vor Ausbruch der Asienkrise klar ausdrückte: „Ein Ungleichgewicht im internationalen Finanzsystem könnte hier negative Folgen haben. Ich glaube nicht, daß dies geschehen wird. Sollte es doch dazu kommen, dann würde uns das treffen, denn wir hätten in einer solchen Lage nichts in der Hand, um die Situation zu kontrollieren. (...) Was können wir tun, um dieses Risiko zu verringern? Wir setzen darauf, daß dieses Risiko ein vorübergehendes ist." (Gazeta Mercantil, 19.6.97).

Mit „vorübergehend" meinte Cardoso wohl die Zeit bis zu seiner erhofften zweiten Amtszeit ab 1999. Die Rechnung war bisher, daß er durch diesen zweiten Wahlsieg genügend politische Stärke erhalten würde, um ruckartig große Strukturreformen wie die des Steuersystems durchsetzen zu können. Damit sollten zum einen die öffentlichen Finanzen endlich dauerhafter saniert und zum anderen verbesserte Bedingungen auch für Exporte erzeugt werden. Denn die Unterstützung der Industriepolitik und die Eingliederung in den Weltmarkt durch eine harte Fiskalpolitik sowie rasche und umfassende Strukturreformen zur Senkung der „Stand-ortkosten" sind bisher - bei einzelnen, nicht zu vernachlässigenden Teilerfolgen - großteils ausgeblieben. Das treibt das Handelsdefizit zusätzlich nach oben und erhöht deutlich das „Länder-risiko Brasilien".

Zwar ist die Höhe des öffentlichen Defizits seit Beginn des Stabilisierungsprogramms schon deutlich zurückgegangen, jedoch ist dieses mit etwa 3 Prozent des BIP nach wie vor deutlich zu hoch für ein solch ehrgeiziges Reformprogramm. An wem es nun liegt, daß gerade die dringend notwendige Fiskalreform bisher nicht stattgefunden hat, darüber streiten die Beteiligten aufs heftigste: Cardoso bezichtigt das Parlament, in dem er zumindest formal eine deutliche Mehrheit in Form einer breiten Vielparteienkoalition auf seiner Seite hat, aus partikularen Eigeninteressen heraus die notwendige Unterstützung verweigert zu haben.

Die Opposition dagegen wirft dem Präsidenten vor, daß er, statt zentrale Reformen wie die des Steuersystems zu verfolgen, über viele Monate lang die gesamte Politik einzig und allein der Durchsetzung der Möglichkeit seiner Wiederwahl untergeordnet habe. Dies war bisher per Grundgesetz ausgeschlossen gewesen, und Cardoso benötigte für eine Änderung eine Drei-Fünftel-Mehrheit in Kongreß und Senat. Nach monatelangen intensiven Vorbereitungen - bei denen offensichtlich auch traditionelle Politikmittel wie die Bindung von Bundeszuschüssen an Ja-Stimmen von einzelnen Abgeordneten etc. zum Einsatz kamen - hat Cardoso diese Mehrheiten Anfang letzten Jahres tatsächlich erhalten.

Die Wiederwahl des Präsidenten galt bis zum Ausbruch der Asienkrise praktisch als gesichert. Denn trotz aller schwerwiegender Probleme verkörpert Cardoso zum ersten Mal seit langer Zeit auf ernsthafte Weise so etwas wie Zukunft für das Land. Und keiner der möglichen Gegenkandidaten, ob von der Linken oder der Rechten, vermag jenseits der Kritik an den sozialen Kosten oder an der mangelhaften Umsetzung des Projekts tatsächlich einen glaubhaften Gegenentwurf zu liefern. Dies gilt auch für die linke Arbeiterpartei PT, deren Kandidat Lula zweimal knapp die Präsidentschaftswahlen verloren hat und jetzt erneut kandidieren wird. Die Auswirkungen der Krise auf die Präsidentschaftswahl im Oktober dieses Jahres sind alles andere als klar.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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