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2. Rückblick: Der Boom – Wachstum und Entwicklung in Grenzen

Zunächst gilt es einen Blick auf die Geschichte des Booms zu werfen: Singapur (1960-96: 8,2% p.a.) und Thailand (7,8%), mit einigem Abstand gefolgt von Malaysia (7,1%) und Indonesien (6,2%), haben über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten ein bemerkenswertes Wachstum erzielt, das in Singapur und Thailand schon etwas früher, in Indonesien erst Ende der 60er Jahre begann. Die Philippinen (4,4%) fallen demgegenüber deutlich ab. In Birma (Myanmar) (1960-86: 3,8%) und den indochinesischen Ländern, über die keine Daten zu längeren Zeiträumen vorliegen, war das Wachstum noch geringer.

Das ungleichmäßige und z.T. extrem hohe Wachstum hat zu einer erheblichen Differenzierung zwischen den südostasiatischen Staaten, aber auch zu einem Heranrücken der erfolgreicheren an die Industrieländer geführt. Berücksichtigt man die unterschiedlichen Kaufkraftparitäten (KKP US $), so übertrifft das BIP p.c. Singapurs mittlerweile dasjenige Deutschlands. Der entsprechende Wert in Malaysia und Thailand hat sich inzwischen auf 45% bzw. 38% dem deutschen Niveau genähert (vgl. Tabelle 1).

An den Philippinen sind die beiden anderen großen Flächenstaaten Indonesien und Thailand, deren Wirtschaftskraft 1960 noch bei gerade der Hälfte bzw. zwei Dritteln des philippinischen Wertes lag, deutlich vorbeigezogen, während Malaysia und insbesondere Singapur den Abstand weiter ausgebaut haben. Die spärlichen Daten zu den indochinesischen Staaten und Birma (Myanmar) erlauben trotz eines erheblichen Wachstums in den letzten Jahren – dennoch die Feststellung: Ihr Wirtschaftsniveau liegt immer noch deutlich unter dem der Philippinen, bei etwa nur einem Viertel bis einem Drittel. Sie gehören damit nach wie vor zu den ärmsten Ländern der Welt. Um 1950 lag Birma, gemessen am pro Kopf Einkommen, noch vor Malaysia und Thailand und hatte die besten Entwicklungsaussichten – gewiß nicht schlechtere als die erfolgreichen ASEAN-Staaten. Der damalige Regierungschef konnte 1952 verkünden, daß „in der nicht zu fernen Zukunft" jede Familie über ein Haus und ein Auto verfügen würde. Schön wäre es gewesen.

In den erfolgreichen Ländern war das Wachstum exportgesteuert und beruhte auf der Ausnutzung und Ausschöpfung natürlicher Differentialrenten in der Landwirtschaft, der Forstwirtschaft und im Bergbau sowie den zunächst reichlich verfügbaren, „billigen" ungelernten Arbeitskräften. Diese Strategie ermöglichte zunächst Singapur, dann Malaysia und zuletzt Thailand eine relative bzw. weitgehende Vollbeschäftigung, die die expandierenden Unternehmen durch den Import eines Millionenheeres legaler und illegaler Gastarbeiter aus den Nachbarstaaten auszugleichen versuchten. In Thailand werden auch Frauenarbeit – 1992 sind 72% berufstätig, meist als mithelfende Familienangehörige – und Kinderarbeit – 1/3 der Altersstufe 13-14 Jahre und 2/3 der Altersstufe 15-19 Jahre – nahezu vollständig ausgeschöpft.

Diese Strategie der linearen Inwertsetzung billiger örtlicher Produktionsfaktoren (Land, Rohstoffe, Arbeitskräfte) stieß an ihre natürlichen Grenzen. Der Boom ist in diesen Ländern nur fortzusetzen, wenn es gelingt, in technologisch anspruchsvollere Produktionssektoren mit einer höheren Wertschöpfung und mit Kapital und Wissen als wichtigsten Produktionsfaktoren vorzustoßen. Singapur gelang dieser Schritt schon in den 80er Jahren. Er war verbunden mit einer Diversifizierung in eine effiziente Dienstleistungsgesellschaft mit Metropolenfunktion für die gesamte Region. In Malaysia und insbesondere Thailand befindet man sich in dieser Hinsicht erst am Anfang. Hier fehlen qualifizierte Arbeiter, Ingenieure und Manager.

Das enorme Wachstum wurde z.T. mit einem Raubbau an der Natur erkauft – u.a. durch Abholzung der tropischen Hartholzwälder, zunächst in den Philippinen und Thailand, gegenwärtig immer noch in Malaysia und insbesondere Indonesien, in Kambodscha und Birma. Als weiteren Preis verzeichnet man eine Zunahme der Umweltemissionen durch Industrie und Verkehr, die man bisher – mit Ausnahme Singapurs und begrenzt Malaysia – kaum wirksam einzudämmen versucht. In Zukunft wird man sich vor der Bewältigung und Einhegung der Umweltkosten allerdings immer weniger drücken können. Die großen Flächenbrände in Kalimantan und Sumatra 1997, mutwillig angelegt, um Platz für Ölpalm- und Eukalyptusplantagen zu schaffen, könnten hier eine katalysatorische Rolle spielen. Für Monate war der stickige Dunst sichtbar, fühlbar, mußte ertragen werden, nicht nur durch die im Katastrophengebiet ansässige Bevölkerung, sondern weit darüber hinaus in der ganzen Region, nicht nur durch die Armen, wie so oft, sondern praktisch durch alle Bevölkerungsschichten. Obwohl das nicht der erste Vorfall dieser Art war, werden es die Politiker in Zukunft schwerer haben, die ökologischen Konsequenzen ihres Handelns zu ignorieren. Tun sie es dennoch, werden sie sich mit einer erstarkenden zivilen Umweltbewegung auseinanderzusetzen haben.

Der Boom hat nicht nur Engpässe in Bildung und Ausbildung und der Ökologie, sondern auch in der materiellen Infrastruktur sichtbar gemacht. Für die Bereiche Energie, Telekommunikation, Verkehr und Wasser hat die Weltbank für das Jahrzehnt 1995-2004 einen Investitionsbedarf von über 192 Mrd. $ für Indonesien, 145 für Thailand, 50 für Malaysia und 48 für die Philippinen geschätzt, also für Südostasien zusammen 435 Mrd. $, oder 8% p.a. des BIP zum Prognosezeitpunkt. Die aktuelle Krise wird diesen Bedarf mindern und strecken, jedoch kaum auflösen.

Das Wachstum hat die einstigen Agrargesellschaften gründlich durchgeschüttelt, urbanisiert und durchkapitalisiert: Obwohl aggregierte Daten die eher typischen Mischeinkommen nicht widerspiegeln können, deuten sie doch den Trend zutreffend an, wenn man sie in ihrer Exaktheit nicht überinterpretiert: In Malaysia ist die landwirtschaftliche Beschäftigung auf 21% (1960: 63%), in den Philippinen auf 46% (64%), in Indonesien auf 51% (75%) und in Thailand auf 57% (84%) gefallen. In Vietnam liegt sie hingegen noch bei 78% (82%), in Kambodscha bei 74% (87%) und Laos bei 78% (82%), in Myanmar bei 73% (81%). Die Durchkapitalisierung wird deutlich durch den Anteil der Lohnempfänger an der Gesamtbeschäftigung, obwohl auch Lohnempfänger im informellen und häuslichen Bereich mitgezählt werden: In Singapur liegt dieser Wert bei 84% (1980: 82%), in Malaysia bei 72% (54%), in den Philippinen bei 41% (40%), in Indonesien bei 37% (28%) und in Thailand bei 20% (21%).

Eindeutige Gewinner des Booms waren die Reichen und die Superreichen, mit Ausnahme der Philippinen meist noch in der ersten Generation. Große Vermögen wurden aus politischen Funktionen, mit politischen Beziehungen und/oder durch Unternehmertätigkeit erworben. Eine sorgfältige journalistische Recherche ermittelte in Asien (Stand: Januar 1997, also vor dem Währungs- und Börsenkrach) 135 Dollar-Milliardärsfamilien, davon 42 in Japan und 62 in Südostasien (Indonesien und Malaysia je 15, Thailand 13, die Philippinen 12, Singapur 6, Brunei 1). Die Millionäre hat noch niemand zu zählen versucht.

Wichtiger für die Einschätzung der bisherigen Entwicklung ist jedoch, daß in den Boomstaaten sich auch Mittelschichten entwickeln konnten, daß die Einkommen auf breiter Front zunahmen, daß die absolute Armut deutlich reduziert werden konnte: So ist in Singapur schon fast die Hälfte der Beschäftigten zu den modernen Mittelschichten (Manager, Beamte, Techniker, Angestellte) zu rechnen, in Malaysia fast jeder vierte, in den Philippinen fast jeder neunte, in Thailand und Indonesien etwa jeder zehnte oder elfte. Die Entfaltung der Kaufkraft reicht über diese Gruppe noch hinaus. Nimmt man die private Haltung eines PKW oder eines Motorrads, so verfügten 1994 84% aller Beschäftigten in Malaysia über ein eigenes Fahrzeug, in Thailand 31%, in Indonesien 13% – aber nur 3,6% in den Philippinen. Dies signalisiert auch die Kaufkraftschwäche eines guten Teils der Mittelschicht. Für Singapur (27%) ist der Indikator nicht besonders aussagekräftig, da im Stadtstaat eine private Motorisierung extrem teuer und angesichts des hervorragenden öffentlichen Nahverkehrssystems auch unsinnig ist. Für die indochinesischen Staaten und Birma liegen keine Daten vor; sie werden deutlich unter denen der Philippinen liegen.

Ein ähnlich positives Bild läßt sich für den Anteil der Bevölkerung unter der absoluten Armutsgrenze zeichnen: In Singapur gibt es diese nicht mehr. In Malaysia rechnete man ihr 1989 noch 15% der Haushalte zu, der Anteil dürfte inzwischen weiter gefallen sein. In Thailand hielt sich die Armutsquote in den 80er Jahren deutlich über 20% und fiel bis 1994 auf etwa 10% ab. In Indonesien wurde sie 1995 nur noch auf 11% geschätzt. Das sind durchaus eindrucksvolle Ergebnisse, auch wenn die Berechnungsgrundlagen und mithin die Vergleichbarkeit nicht ganz unproblematisch sind. In den Philippinen lag hingegen die Armutsrate in den 80er Jahren noch deutlich über 50% und wurde erst 1994 immerhin mit noch 41% ermittelt. Daran sind wohl vermutlich mehr die Gastarbeiterüberweisungen und privaten Transferzahlungen aus dem Ausland als die interne Wirtschaftsentwicklung verantwortlich. In Laos bzw. Vietnam ermittelte die Weltbank 1992/93 eine Armutsquote von 46 bzw. 51%. Die Lage in Kambodscha und Myanmar dürfte eher noch schlechter sein.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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