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4. Japanische Politik zum Ende des Jahrhunderts

Die Reform des Wahlrechts war eine notwendige, keinesfalls aber hinreichende Voraussetzung dafür, daß die japanische Politik den Herausforderungen, die sich Ende des Jahrhunderts stellen, gerecht wird. Noch ist keines des Probleme, die 1993 zur Spaltung der LDP und zum Machtwechsel führten, gelöst worden:

(1) Ein politisches System, in dem die Parlamentarier in erster Linie als Vertreter der materiellen Interessen ihrer meist ländlich-peripheren Wahlkreise wirken und in dem alle relevanten Entscheidungen die vom Senioritäts-, Proporz- und Rotationsprinzip bestimmte Mechanik der LDP-Fraktionsauseinandersetzungen passieren müssen, war und ist unfähig, notwendige Weichenstellungen nationaler oder gar internationaler Reichweite vorzunehmen.

(2) Das System delegiert politische Entscheidungen, sofern sie nicht von direkter wahlpolitischer Relevanz sind, an die Beamtenschaft, die das Land zwar kompetent und effektiv verwaltet, in einer Umbruchsituation aber weder die etablierten Routinen verändern, noch über die zersplitterten administrativen Zuständigkeiten hinaus behördenübergreifende Strategien entwickeln kann. Das Schicksal der wirtschaftlichen Deregulierung, die jeder fordert und keiner zu initiieren wagt, ist ein Beispiel hierfür.

(3) Die enge Bindung der Politiker an lokale Interessengruppen, in erster Linie den "traditionellen Mittelstand", blockiert den Zugang zu und die Interessenvertretung der großstädtischen Bevölkerungsmehrheit, die zunehmend der "Politikverdrossenheit" anheimfällt und ihrer Unzufriedenheit entweder durch Wahlabstinenz oder die Wahl spektakulärer Außenseiter Ausdruck verschafft.

(4) Die Vorherrschaft der kostenintensiven pork barrel politics in Verbindung mit einer hohen Regulierungsdichte der Wirtschaft hat zwangsläufig zu Folge, daß sich die Politiker als Vermittler zwischen Wirtschaft und Verwaltung schalten und sich diese Vermittlungstätigkeit honorieren lassen - mit dem Ergebnis einer hohen Korruptionsanfälligkeit der Politik sowie einer allzu vertraulichen Kooperation zwischen Geschäftswelt, Politik und Verwaltung, deren Resultate man heute u.a. anhand der Krise des Finanzsystems beobachten kann.

Japan könnte als Beispiel dafür gelten, wie wenig eine politische Klasse in der Lage ist, die Geschicke einer hochentwickelten Industrienation zu lenken. Das politische System Japans trägt Züge des Überflüssigen, es scheint, daß auf die Inszenierung teurer politischer Machtkämpfe verzichtet werden kann, da sie für die Entwicklung des Landes ohnehin ohne Belang sind. Die Wirtschaftskrise, die Japan seit Beginn der 90er Jahre heimsucht, gekennzeichnet durch niedrige Wachstumsraten nahe der Null-Linie, den Zusammenbruch des Aktien- und Immobilienmarktes (mit einem theoretischen Verlust von umgerechent 21 Billionen DM) und - bis 1995 - den Höhenflug des Yen, ist nicht von den Politikern angegangen worden, sondern von der Administration. Die Konjunkturpolitik bestand aus der routinemäßigen Verabschiedung staatlicher Ausgabenprogramme (durch die der einstige Überschuß des Staatshaushalts von 3% in ein Defizit von etwa 7% verwandelt wurde), der Senkung des Zentralbankzinssatzes auf den Rekordtiefstand von 0,5% und - in Kooperation mit den amerikanischen Behörden - der Senkung und Stabilisierung des Yen-Kurses. Erst die Zukunft wird zeigen, ob dieses Programm erfolgreich war, oder ob die japanische Wirtschaft nun lediglich am Tropf staatlicher Ausgaben eine gewisse Wachstumsdynamik entwickeln kann. Wie immer man die Leistungen der Administration in der Krisenbekämpfung bewertet - die Leistungen der fast ausschließlich mit sich selbst beschäftigten Politikerkaste waren Null. Ihre Aufgabe reduzierte sich darauf, die von der Administration auf die Tagesordnung gesetzten Beschlüsse parlamentarisch abzusegnen.

Gleichwohl hängt es heute gerade von der Leistungsfähigkeit des politischen Systems ab, ob und wie der japanischen Wirtschaft neue Wachstumspotentiale erschlossen werden. Das politische System Japans hat sich nicht nur deshalb überlebt, weil es die Konfliktlinien, die die japanische Gesellschaft durchziehen, nicht widerspiegelt, sondern auch weil es die Entscheidungen, die in den letzten Jahren dieses Jahrhunderts getroffen werden müssen, nicht treffen kann. Die Politik wirkte in den fünf Nachkriegsjahrzenten als eine Art Puffer, der das traditionelle Japan, den ländlich-kleinstädtischen Mittelstand, vor den Folgen des high speed growth und gleichzeitig die Wachstumssektoren vor der konservativen Reaktion der Modernisierungsverlierer schützte. Es war insofern funktional, als es den konservativen Protest gegen die in dramatischer Geschwindigkeit ablaufenden wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen auffing. Außer in Krisensituationen - d.h. dann, wenn die Regierungsmacht der LDP gefährdet schien - intervenierten die Politiker nicht in die "moderne" Wirtschaft und Gesellschaft, sondern überließen sie einer bestens ausgebildeten Beamtenschaft, die ihrerseits darauf verzichtete, die Klientel der LDP anzutasten. Die Arbeitsteilung zwischen Politik und Verwaltung ermöglichte zu normalen Zeiten die effiziente technokratische Steuerung der Wirtschaft, sie hatte aber auch ihren Preis: Eine Dualisierung der Wirtschaft in ein geschütztes, traditionelles und ein international wettbewerbsfähiges, modernes Segment. Dieser Preis konnte solange gezahlt werden, wie die Antriebsmaschine der modernen Industrien im Zuge einer atemberaubenden technologischen Aufholjagd die Gesamtwirtschaft mitzog. In dem Maße jedoch, in dem die für Japan einst neuen Industrie zu "reifen" Industrien wurden, sich der technische Innovationsprozeß verlangsamte bzw. auf begrenzte Segmente konzentrierte und der Binnenmarkt weitgehend saturiert ist, liegen die wichtigsten Wachstumsreserven u.a. in den wenig produktiven Wirtschaftssektoren, die bislang vor in- und ausländischer Konkurrenz geschützt waren. Dies betrifft nicht nur Kleinindustrie, Einzelhandel, Transportwesen, Land-, Bauwirtschaft und viele Dienstleistungen, sondern auch Teile der verarbeitenden Industrie, die wie die Zement-, Papier- oder Glasindustrie in Kartellen organisiert ist und Konkurrenten ausschließt. Das politische System umgibt diese traditionellen Branchen wie ein Schutzwall. Die antibürokratischen Parolen der wahlkämpfenden Politiker verdecken, daß es nicht allein die Beamten sind, die mit einem Wust von Verordnungen die wirtschaftliche Dynamik in den geschützten Sektoren ersticken, sondern daß die Bürokratie in diesen Bereichen mit den Politikern eine fast perfekte Symbiose eingegangen ist.

Der entscheidende Anstoß zu weiterem wirtschaftlichen Wachstum wird in Zukunft vom privaten Verbrauch ausgehen, dessen Anteil am Sozialprodukt niedriger ist als in den westlichen Industrieländern. Um den privaten Verbrauch zu entwickeln, müssen die Barrieren fallen, die die binnenmarktorientierten Wirtschaftsbranchen schützen, die Verbraucherpreise in die Höhe treiben und das Angebot von Gütern und Dienstleistungen einschränken. Gleichzeitig müßten die institutionellen Mechanismen abgebaut werden, die eine nach wie vor extrem hohe Sparrate erzwingen. Bereiche, von denen Wachtumsanstöße ausgehen könnten, sind

* der Wohnungsbau, der wiederum all die Branchen anregen würde, die Güter der Wohnungseinrichtung und -ausstattung anbieten. Voraussetzungen wäre eine Reform und Deregulierung (bzw. Reregulierung) der Bodennutzung in städtischen Ballungsräumen. Praktiken und Regeln, die eine politisch mächtige, in ihrer Gesamtheit wenig produktive und in ihren Produkten teure Bauwirtschaft protegieren, müßten abgebaut werden - kann dies eine Regierungspartei tun, die zu einem hohen Anteil von der Bauwirtschaft finanziert wird?

* die Entwicklung der städtischen Infrastruktur (Verkehr, Erholungs- und Freizeiteinrichtungen, Abwasser- und Müllbeseitigung), die ebenfalls eine Reform der Bodennutzung voraussetzt.

* Trotz der Forschritte der letzten Jahre bedarf es einer weiteren Deregulierung des Groß- und Einzelhandels, dessen Praktiken nach wie vor Importe begrenzen und Güter verteuern - doch der Einzelhandel ist eine wichtige Klientel der LDP.

* Seit Jahren wird eine Reform des Bildungswesens angemahnt, bislang ohne jede Wirkung. Das japanische Bildungswesen ist nicht nur für die privaten Haushalte extrem teuer (und zwingt damit zur massiven Ersparnisbildung), es erbringt auch nicht mehr die Leistungen, für die es in der Vergangenheit immer wieder gelobt wurde. Nicht nur blockiert es, wie immer wieder geklagt wird, die Ausbildung individueller Kreativität, auch überläßt es die Berufsausbildung den Unternehmen, die ihrerseits den Mangel an Spezialisten beklagen.

* Das System der sozialen Sicherung, dessen auffälligstes Merkmal extreme Komplexität ist, müßte neu geordnet werden. So umfaßt die Alterssicherung eine Vielzahl von Gruppen mit unterschiedlichen Sozialbeiträgen, Rentenansprüchen, Beitragszeiten und Altersgrenzen. Das Rentenalter liegt je nach System zwischen 55 und 70 Jahren (eine ähnliche Komplexität kennzeichnet die Krankenversicherung).

* Schließlich bedarf das Steuersystem einer Neuordnung. Die Steuereinnahmen basieren zu einem unüblich hohen Anteil auf den direkten Steuern, d.h. in erster Linie auf den Abgaben der abhängig Beschäftigten. Der in Japan große Bevölkerungsanteil der Selbständigen, mithelfenden Familienangehörigen und in Kleinstbetrieben Beschäftigten zahlt wenig oder keine Steuern; hinzukommt eine schnell wachsende Altersbevölkerung. Die Erhöhung der indirekten Steuern weit über die für 1997 anvisierte Anhebung der Verbauchssteuer von 3 auf 5% hinaus in Verbindung mit einer Senkung der Einkommenssteuern wäre eine Voraussetzung dafür, daß die Steuerlast gerechter auf abhängig Beschäftigte und andere Bevölkerungsgruppen verteilt wird.

Wird eine Regierung Hashimoto bereit und in der Lage sein, diese (und andere) Reforminitiativen zu ergreifen? Auf der einen Seite verfügt sie über einen größeren Handlungsspielraum als ihre Vorgängerinnen: Nach den Stürmen im Wasserglas, die die japanische Politik in den letzten drei Jahren aufregten, besteht nun die Chance stabiler Regierungsverhältnisse bis 1998 - sofern es der LDP gelingt, genug Überläufer aus anderen Parteien an sich zu binden. Die LDP-Politiker werden sich nach dem Schock des vorübergehenden Machtverlusts hüten, ihre Führungsfigur Hashimoto allzu schnell zu demontieren. Hashimoto wird im Verein mit den Behörden eine technokratische Politik betreiben können (unabhängig davon, daß auch er im Wahlkampf antibürokratische Parolen von sich gab), Parlament und Partei werden ihm freie Hand lassen. Wie so oft in der Vergangenheit wird ein überzeugender Wahlsieg der LDP - und unter den gegebenen Bedingungen war der Wahlsieg der LDP überzeugend - dazu führen, daß die Politiker auf Hinterbänke zurückkehren und die Regierung, die Parteiführung und die Ministerien gewähren lassen.

Es ist aber schwer vorstellbar, daß eine technokratische Politik wirklich die erwähnten Weichenstellungen vornimmt und u.a. die traditionellen Segmente des Wirtschaftssystems der Konkurrenz öffnet. In der Vergangenheit waren die technokratischen Strategien der Behörden und die wahlpolitischen Interessen der LDP, von Krisensituationen abgesehen, miteinander vereinbar. Wenn freilich bürokratische Strategien und wahlpolitische Interessen nicht unter einen Hut gebracht werden konnten, setzte sich regelmäßig die LDP durch, die trotz des Schlagworts von der bürokratisierten Gesellschaft Japans über die letztliche Entscheidungskompetenz verfügt. Heute wären Reformen notwendig, die sich nicht allein aus der technokratischen Routine der Behörden ergeben, sondern der politischen Initiative bedürften. Vor allem aber handelt es sich um Reformen, die dem Interesse der LDP-Hinterbänkler an ihrer Wiederwahl entgegenstehen - und damit blockiert würden.

Es ist keine Besonderheit Japans, daß in einer festgefahrenen Situation der Wettbewerb zwischen Regierung und Opposition nicht funktioniert. Gerade wenn die regierende Kraft aufgrund ihrer Verflechtung mit partikularen Interessen in ihrer Initiative gelähmt ist, müßte die Opposition ins Spiel kommen. Dies ist (nicht nur) in Japan nicht der Fall. Paralysiert ist nicht allein die regierende Partei, sondern die gesamte politische Klasse. Es ist offen, ob die Opposition in den kommenden Jahren in der Lage sein wird, das politische Ritual zu beenden und alternative Optionen anzubieten. Doch auch wenn sich in der politischen Sphäre nichts ändert, wird weder die japanische Wirtschafts zusammenbrechen, noch wird die Gesellschaft im Chaos versinken. Politik kann auch in Japan letztlich nicht mehr leisten als Prozesse zu flankieren und zu beschleunigen, die ohnehin ablaufen. Die Strukturen der japanischen Wirtschaft und Gesellschaft werden sich auch ohne Dazwischenschalten der Politiker verändern - doch die Dauer und die Kosten dieser Veränderungen werden umfangreicher ausfallen, als notwendig wäre.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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