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TEILDOKUMENT:
3. Parteien zur Wahl Japanische Parteien sind, von den Kommunisten abgesehen, Organisationen ohne Unterbau. Unabhängig von den Parlamentsabgeordneten haben sie kein Eigengewicht. Es handelt sich nicht um Programm- oder Mitgliederparteien, die die politische Partizipation der Bürger kanalisieren, sondern um Clubs gewählter Abgeordneter. Diese bringen mit ihrer Person ein ganzes Netzwerk von "Beziehungen" ein: lokale, personenzentrierte Unterstützungsvereinigungen und enge Kontakte zu Organisationen wie lokalen Handelskammern, Berufs- und Unternehmensverbänden, Gewerkschaften, Nachbarschaftsvereinigungen, religiösen Sekten, Agrarkooperativen usw. Parteien sind weder durch gemeinsame Überzeugungen, noch durch die Interessen sozialer Großgruppen definiert, sondern durch Personen, die ihrerseits ein Mosaik partikularer Interessen vertreten. Die Grenzen zwischen den Parteien sind daher fließend, und die häufigen Parteiwechsel von Abgeordneten werden von den Wählern nicht als opportunistisch bewertet und mit dem Entzug der Unterstützung bestraft. Den fließenden Grenzen zwischen den Parteien entspricht ein hoher Grad an Fraktionierung in den Parteien, wobei auch die Fraktionen nicht durch unterschiedliche politische Überzeugungen oder soziale Interessen bestimmt sind, sondern durch persönliche Beziehungen. So wie die Fraktionen - insbesondere der LDP - Spiegelbilder der Gesamtpartei sind, sind die Parteien Spiegelbilder des Durchschnitts der gesamten Politikerkaste. Das schließt nicht aus, daß dem europäischen Spektrum entlehnte Zuordnungen wie "sozialdemokratisch" oder "liberal" herangezogen werden. Sie verdecken aber nur die partikularistische Orientierung der Politiker an den materiellen Interessen ihres Wahlkreises bzw. der sie unterstützenden Klientel. Der Versuch, japanische Parteien in das europäische Spektrum einzuordnen, bleibt daher an der Oberfläche einer formellen Zuordnung, die wenig über die politische Praxis der Parteien aussagt. Die triftigste Aussage wäre wohl noch die, daß alle japanischen Parteien als Vertreter partikularer Interessen (als Honoratiorenparteien) konservativ sind. Dies gilt auch für die SDPJ, deren kleine Mitgliedschaft sich in der Vergangenheit linker Rhetorik befleißigte, deren Abgeordnete jedoch wie ihre Kollegen von der LDP in erste Linie begrenzte Lokalinteressen vertraten.
Die LDP: In alter Blüte
Das Wiedererstarken einer LDP, die noch vor wenigen Jahren abgewirtschaftet zu haben schien, geht nicht darauf zurück, daß sich die Partei grundlegend reformiert hätte. Zwar hatte sie sich nach dem Schock des Machtverlusts eine modernere Fassade verpaßt. Ihr letzter Präsident Yohei Kono war selber Dissident gewesen, die Fraktionen der Partei wurden formell aufgelöst (sind aber nach wie vor ein nicht zu vernachlässigender informeller Machtfaktor). Die Ablösung Konos durch Ryotaru Hashimoto signalisierte zweierlei: Den Abbruch der ohenhin eher kosmetischen liberalen Reform und die stärkere Akzentuierung nationalistischer und technokratischer Elemente. Indem Hashimoto, Kendo-Kämpfer und ehemaliger Präsident der Vereinigung der Kriegsopfer und Hinterbliebenen, im Juli 1996 den Yasukuni-Schrein besuchte - den Schrein, in dem die Kriegstoten Japans, einschließlich verurteilter Kriegsverbrecher, eingesegnet sind - zeigte er, daß die Auseinandersetzungen um Kriegsschuld, Entschuldigung und Vergebung, um die die japanische Regierung unter Murayama gerungen hatte, vorbei sind. Als MITI-Minister hatte Hashimoto den Eindruck der Durchsetzungsfähigkeit und technokratischen Kompetenz zu erzeugen vermocht. Als ein Politiker, der keiner der alten LDP-Fraktionen zuzurechnen, ist er ein vergleichsweise starker Premier, der nicht in der Gefahr steht, bei der nächsten Verschiebung im innerparteilichen Machtgleichgewicht von seinen Parteifreunden gestürzt zu werden. Weil er die LDP wieder an die Regierungsmacht brachte, wird er wohl die Chance erhalten, für einige Jahre von innerparteilichen Machtkämpfen unbeeinträchtigt zu regieren - in dieser Hinsicht vergleichbar mit Premierminister Nakasone (1982-87), dem als unüblich starkem Premier eine für japanische Verhältnisse ungewöhnlich lange Regierungszeit beschieden war. Die bedeutendste Ursache für die gestärkte Position der LDP ist nicht deren Umwandlung in eine moderne konservativ-liberale Partei, sondern die Unfähigkeit der Nicht-LDP-Kräfte, eine glaubwürdige Alternative zu den Liberaldemokraten zu entwickeln. In den Augen der Wähler hat der Umbruch von 1993 Instabilität ohne wirkliche Veränderungen gebracht, und ein großer Teil der Wähler scheint die Stabilität auch unter einer wenig geliebten LDP dem dauernden Wechsel ohne Wandel vorzuziehen. In einer Situation, in der viele Bürger Japans verunsichert sind, in der die Erfolgsrezepte der Vergangenheit nicht mehr wirken, wird politischer Stabilität und Kontinuität offensichtlich ein besonders hoher Wert beigemessen.
Shinshinto: Nicht die große zweite Kraft
Die größte Oppositionspartei Shinshinto ist für viele die eigentliche Enttäuschung der japanischen Politik seit 1993. Shinshinto galt bis Anfang 1996 als die Alternative zur LDP. Dabei war nie klar war, was die Partei eigentlich von den Liberaldemokraten unterschied - außer dem starken Einfluß der Soka Gakkei-Sekte und dem autoritären Stil des Parteipräsidenten Ichiro Ozawa. Hinsichtlich ihrer Politik, ihrer regionalen Basis, ihrer interessenpolitischen Ausrichtung und ihres Stils war und ist Shinshinto, in der ehemalige LDP-Politiker dominieren, eine Verdoppelung der LDP. Dennoch konnte sie bzw. ihr Präsident den Eindruck einer gewissen energischen Reformentschlossenheit erwecken, der freilich im Ausland auf mehr Gegenliebe stieß als in Japan selbst. Schaden nahm Shinshinto im Frühjahr 1996, als Abgeordnete der Partei in einem sit-in einen Parlamentsraum besetzten. Sie wollten die Verabschiedung eines Gesetzes verhindern, das die Auslösung von sieben bankrotten Hypothekenbanken mit Steuermitteln legalisierte. Das Gesetz war denkbar unpopulär, da Shinshinto aber nie verdeutlichte, wie sie der Krise im japanischen Finanzsystem begegnen wollte, sahen die künftigen Wähler in der Aktion nur eine populistische Posse. In den folgenden Präfekturwahlen in Gifu und in Umfragen erhielt Shinshinto von Wählern und Befragten bereits eine Abfuhr. Es kam hinzu, daß die Partei ihre inneren Auseinandersetzungen (zwischen Ozawa und dem ehemaligen Ministerpräsidenten Hata) noch schlechter zu verbergen wußte als die LDP.
Minshuto: Protest der Sprößlinge
Die Demokratische Partei (Minshuto) ist die jüngste Blüte im Treibhaus des japanischen Parteienwesens. Minshuto wurde Ende September 1996 gegründet, erst nach dem Aufruf zu Neuwahlen konnte sie ihre Registrierung als politische Partei beantragen. Sie setzt sich zu etwa gleichen Teilen zusammen aus jungen ehemaligen LDP-Abgeordneten, die 1993 zur Sakigake-Partei oder Shinshinto übergewechselt waren, und aus Überläufern der SDPJ, die, den Niedergang ihrer eigenen Partei vor Augen, in letzter Minute dem Gründungsaufruf zur Minshuto folgten. Initiator der neuen Partei ist Yukio Hatoyama, früher Generalsekretär der Sakigake und Sproß einer alteingesessenen Politikerdynastie. Das politische Schwergewicht der Partei ist der bisherige Gesundheits- und Sozialminister Naoto Kan, der dank seiner unbürokratischen Bewältigung eines HIV-Blutkonservenskandals außergewöhnliche Popularität genießt. In Umfragen lag er nur knapp hinter Hashimoto - was seiner Partei im japanischen Wahlsystem freilich noch keine hohe Anzahl von Mandaten garantiert. Minshuto siedelt sich im Zentrum, d.h. links von LDP und Shinshinto an; ihr Programm ist vage. Die Partei möchte - wie alle anderen - die bürokratieorientierte auf eine bürgerorientierte Politik umstellen; für den Fall ihres Erfolgs hat sie, einer der wenigen originellen Programmpunkte, ihre Selbstauflösung angekündigt. Das herausragende Kennzeichen von Minshuto ist nicht ein Programm, sondern die Jugend ihrer Politiker, zu einem hohen Anteil Söhne und Enkel ehemaliger LDP-Größen. Nicht ein politischer, sondern ein Generationskonflikt trennt die Partei von der LDP. Keine politische Strategie, sondern der Protest gegen das in der LDP herrschende Senioritätsprinzip, der von einem nebulösen Idealismus der "Brüderlichkeit" übertüncht wird, macht das einigende Prinzip der Minshuto aus.
Das Ende der Sozialdemokratie in Japan
Die sozialdemokratische SDPJ hat sich de facto bereits vor den Wahlen aufgelöst (nachdem die DSP bereits 1994 in der Shinshinto aufgegangen war). Dies ist nicht ohne Tragik, da eine über 40jährige Tradition glanzlos zu Ende gegangen ist. Zudem ist mit dem Ende der Sozialdemokratie der letzte Rest - besser: der Schein - einer programmatischen Kontroverse aus der japanischen Politik geschieden. Zwar war die von den Sozialdemokraten repräsentierte Kontroverse um die Rolle Japans in der Welt, die Sicherheitspolitik und das Bündnis mit den USA nur scheinhaft gewesen, die fundamentalistische Kehrseite einer pragmatischen Symbiose mit der LDP, aber sie hatte der politischen Debatte einen Hauch von Inhalt verliehen, der nun vom generalisierten Gefasel endgültig erstickt wird. Der Niedergang der SDPJ ist weitgehend selbstverschuldet. Die Partei hatte sich 40 Jahre lang in der Rolle als ewiger Zweiter eingerichtet. Sie versuchte gar nicht mehr, die LDP als Regierungspartei herauszufordern, sondern fand sich mit der Oppositionsrolle ab - in der Gewißheit, daß das alte Wahlrecht ihr einen sicheren zweiten Platz und damit auch gewissen Einfluß garantierte. Seit den 50er Jahren, als die SDPJ eine ähnliche Position im Parteiensystem innehatte wie die SPD in Deutschland (bzw. wie die LDP als Partei heute), verlor die Partei Wähler; ihr Anteil sank von 37% 1958 auf 15% 1993 - mit der einmaligen Ausnahme der Oberhauswahlen von 1989, in denen die damalige Vorsitzende Takako Doi eher gegen die Intentionen ihrer Partei die japanischen Frauen mobilisierte. Den Umbruch von 1993 - die Spaltung und den Machtverlust der LDP - erfuhr die SDPJ konsequenterweise nicht als Chance, sondern als Bedrohung ihrer eigenen Position. Sie beteiligte sich an der Hosokawa-Koalition, der populärsten Regierung Japans seit dem Zweiten Weltkrieg, wirkte hier aber vor allem als Bremser, insbesondere bei der Reform des Wahlrechts. Als die Partei dann nach dem Scheitern der Hosokawa-Koalition allen ideologischen Ballast über Bord warf, um eine Koalitionsregierung mit der LDP einzugehen, verlor sie den letzten Rest an Glaubwürdigkeit (kennzeichnend ist, daß SDPJ-Abgeordnete sich 1996 für eine Rücknahme der Wahlrechtsreform aussprachen). Potentielle SDPJ-Wähler, die eine Alternative zur LDP suchten, wandten sich 1993 von den Sozialdemokraten ab, weil nun eine zwar konservative Alternative entstanden war, die die Regierungsmacht aber wirklich anstrebte; die Wähler aber, die der SDPJ aus ideologischen Gründen die Treue gehalten hatten, dersertierten, als ihre Partei mit dem (scheinbaren) Intimfeind eine Koalition einging. Seit 1994 versprach die SDPJ eine Selbstreform. Letztlich beschränkte sie sich darauf, den internationalen Parteinamen "Social Democratic" nun auch ins Japanische zu übersetzen (bis dahin war sie für die japanischen Wähler die Sozialistische Partei geblieben). Die Initiative zur Gründung einer "dritten Kraft", die Abgeordnete anderer Parteien anziehen sollte, scheiterte. Sie ist nun an Minshuto übergegangen, der sich über die Hälfte der sozialdemokratischen Abgeordneten anschloß. Besonders demütigend ist, daß dem Vorsitzenden der SDPJ und ehemaligen Ministerpräsidenten Murayama der Wechsel zur neuen Partei untersagt wurde: Minshuto wollte sich den Glanz des Neuen nicht durch die Führungsfiguren der Vergangenheit trüben lassen. In den Wahlen trat Takako Doi - bis dahin als Präsidentin des Unterhauses zwangsweise parteilos - noch einmal als Führungsfigur an, doch sie konnte das Schicksal der Partei, die sich selbst an den Rand des Abgrunds manövriert hatte, nicht mehr wenden. Die SDPJ wurde von den Kommunisten überholt.
Eine vereinigte Opposition?
Werden sich die Oppositionsparteien Shinshinto und Minshuto als so lernfähig erweisen, daß sie ihre Differenzen begraben und bei den nächsten Wahlen mit vereinten Kräften gegen die LDP antreten? Dies ist nicht ausgeschlossen. Ideologische Differenzen stehen einem Zusammengehen nicht im Wege. Die ältere der beiden Parteien ist gerade zwei Jahre alt, die jüngere einen Monat. Sie sind so wenig profiliert, daß von "Identitäten", die im Falle eines Zusammenschlusses aufgegeben werden müßten, keine Rede sein kann - sofern im japanischen Parteiensystem überhaupt von Identitäten die Rede sein kann. Unterschiedliche Positionen in Sachfragen werden spielen ohnehin keine Rolle. Eher werden die Person Ichiro Ozawas und der Einfluß der Soka Gakkei (die vielen Japanern suspekt ist) auf Shinshinto einer Vereinigung im Wege stehen. Beide Parteien sind der LDP jedoch zu ähnlich, als daß sie nicht um ihre Existenz fürchten müßten, wenn sie von der Regierungsmacht und dem Staatshaushalt auf Dauer ferngehalten werden. Ein Zusammenschluß von Shinshinto und Minshuto würde keine neue Programmpartei entstehen lassen, sondern ein milchiges Spiegelbild der LDP. Aber es würde eine Kraft sein, die den Konkurrenzdruck auf die regierende Partei verstärkt.
Neue Kräfte: Lokale Parteien
Ein neues Element in der politischen Landschaft sind die Lokalparteien, die - sollten sie sich auf nationaler Ebene etablieren können - dem politischen Prozeß in Japan eine neue Qualität verleihen könnten, da sie einen sozialen Grundkonflikt in die politische Debatte bringen. Lokale Parteien wurden gegründet in Hokkaido, Tokyo, Osaka, Nagoya, Kawasaki, Kanagawa (Yokohama) und Kobe - mit der Ausnahme Hokkaidos in den großstädtischen Ballungsräumen. Diese Großstädte - die Tokaido-Megalopolis der Pazifikküste - sind immer Stiefkind der japanischen Politik gewesen. Die zentrale Funktion des politischen Systems in Japan war und ist die Umverteilung des in der Megalopolis erwirtschafteten Reichtums auf das Land bzw. an die Peripherie. In regionaler Hinsicht liegt ein Vergleich mit der Spaltung Italiens in den reichen, politisch unterrepräsentierten Norden, und den armen, politisch überrepräsentierten Süden nahe, wobei das politische System als Umverteilungsmaschinerie funktioniert. In sozialer Hinsicht handelt es sich um die Benachteiligung der vorwiegend urbanen Arbeitnehmer und Mittelschichten zugunsten des vorwiegend kleinstädtisch-ländlichen "traditionellen Mittelstandes" - der Bauern, Einzelhändler, Kleinindustriellen, Bauunternehmer usw. Der ländlich-periphere bias des politischen Systems wird sowohl im Steuersystem als auch in der staatlichen Ausgabenpolitik sichtbar. Einer populären Formel zufolge wird das Einkommen der städtischen Arbeitnehmer zu 90%, das der Kleinunternehmer zu 60% und das der Bauern zu 40% besteuert; ca. 40% der kleinen Selbständigen zahlen überhaupt keine Steuern. Tokyo allein bringt ein Viertel der nationalen Steuern auf, erhält aber nur 8% der staatlichen Investitionsmittel. Während das Land mit Infrastruktur zugepflastert ist, stecken die Großstädte in einer Infrastrukturkrise. Shimane, eine der ärmsten Provinzen Japans, weist die höchste Dichte an öffentlichen Bibliotheken, Museen, Mehrzweckhallen, Sportanlagen usw. auf - sie wird im Parlament vertreten von Noboru Takeshita, einem der heavy weights der LDP. Der eher untergründige Konflikt zwischen den städtischen Ballungszentren und der ländlichen Peripherie hatte in der Vergangenheit keinen politischen Ausdruck gefunden. Die beiden großen Parteien des "55er Systems", die LDP und die Sozialdemokraten, waren und sind ländliche Parteien. Allenfalls die Komeito repräsentierte, wenn auch in religiöser Form, einen Teil der Städte, da die Soka Gakkei in den 50er und 60er Jahren den sozial entwurzelten Land-Stadt-Migranten eine Heimat geboten hatte. Die Städte wuchsen in den ersten beiden Jahrzehnten der Nachkriegsentwicklung rapide an, und die noch engen Beziehungen vieler Stadtbewohner zur ihrer Herkunftsregion verhinderten, daß die Interessen der urbanen Arbeitnehmer und Mittelschichten eigenständig artikuliert wurden. In den 70er Jahren verschufen die Städte ihrem Protest dadurch Ausdruck, daß sie sozialdemokratische und kommunistische Kandidaten in die Bürgermeisterämter wählten (eine ähnliche Entwicklung lief auf Hokkaido ab, wo traditionelle politische Beziehungen aufgrund der späten Besiedlung nur schwach ausgebildet sind), in den 80er und 90er Jahren wählten sie entweder gar nicht oder beförderten Außenseiter zu Bürgermeistern. Nichtwahl und Protestwahl blieben das einzige Ausdrucksmittel der städtischen Bevölkerung, da die etablierten Parteien in den Großstädten immer häufiger als Allparteienkoalitionen antraten. Damit wurde noch deutlicher, daß das archaische politische System in ein immer schreienderes Mißverhältnis zur sich herausbildenden urbanen politisch-sozialen Kultur geraten war. Der von den (städtischen) Medien herausgestellte Skandal wurde zum wichtigsten Verbindungsglied zwischen den Politikern und der Bevölkerungsmehrheit. Für einige Zeit schien es, als nähme sich Shinshinto der städtischen Bevölkerungsmehrheit an; ihr Vorschlag einer Steuerreform, der Senkung der Einkommens- und der Anhebung der Verbrauchssteuern, entsprach den Interessen der (urbanen) abhängig Beschäftigten. Doch war das Gewicht der ehemaligen LDP-Politiker mit ländlich-kleinstädtischer Basis offensichtlich auch in der Shinshinto zu hoch, um der Partei ein urbanes Profil zu verleihen. Nun sind es die auf nationaler Ebene noch unbedeutenden Lokalparteien wie Tokyo Citizens 21, die diese Leerstelle besetzen und den zentralen Konflikt, der die japanische Gesellschaft durchzieht, artikulieren. Die zentrale Konfliktlinie liegt nicht zwischen Arbeit und Kapital - der den europäischen Parteiensystemen entsprechende Gegensatz zwischen der LDP und den Sozialdemokraten hatte immer etwas Fiktives -, sie liegt zwischen Stadt und Land bzw. zwischen den "modernen" städtischen Arbeitnehmern und dem traditionellen, ländlich-kleinstädtischen Mittelstand. Wenn dieser Konflikt, anstatt weiter unter der Oberfläche zu schwelen, politischen Ausdruck erhält, würden auch die politischen Auseinandersetzungen in Japan den Charakter eines ritualisierten Schattenboxens verlieren. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999 |