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1. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Differenzierung

Der bisherige Verlauf der Wirtschaftsreformen brachte ein zwiespältiges Ergebnis. Im Bereich der Ordnungs- und Wirtschaftspolitik bestätigen die meisten Analysen den vier Ländern, daß sie auf allen Gebieten (Privatisierung, Liberalisierung, Kapitalmarktreform, gesetzlicher Rahmen) nahezu das Niveau fortgeschrittener Marktwirtschaften erreicht haben. Die makroökonomischen Ergebnisse brachten zunächst eine massive Rezession, zweistellige Inflationsraten und einen deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Rezession und Inflation konnten inzwischen gebremst werden.

Außenpolitisch und -wirtschaftlich haben sich die vier Länder in Europa integriert. Sie sind im Europarat, mit der EU mit einer Beitrittszusage assoziiert, teils schon in der OECD und sicherheitspolitisch eng mit der NATO verbunden. Ihr Außenhandel hat sich in wenigen Jahren weitgehend nach Westeuropa umorientiert. Aus Westeuropa kommen auch die meisten Direktinvestitionen und sonstigen Kapitalzuflüsse.

Trotz der guten Wachstumsraten seit 1993/94 haben die Länder noch nicht wieder das Einkommensniveau von 1989 erreicht. Aber auch im - angesichts von weltweiten Konjunkturschwankungen unwahrscheinlichen - Falle eines kontinuierlichen Wachstums werden sich die sozio-ökonomischen Strukturveränderungen fortsetzen, die sich schon jetzt abzeichnen:

Die Einkommensdifferenzierung wird weiter zunehmen. Vor dem Umbruch lag das Verhältnis des Pro-Kopf-Einkommens der reichsten 20 Prozent zu dem der ärmsten 20 Prozent in Ostmitteleuropa bei 3-4. In Deutschland liegt es bei über 5, in anderen Industrieländern (USA, Italien) bei über 7, in Brasilien bei über 30. Wegen der hohen Einkommensunterschiede zwischen Ostmitteleuropa und Westeuropa differenzieren sich die Einkommen vor allem zwischen Gruppen, die im internationalen Sektor (Export, ausländische Unternehmen, etc.) arbeiten, und denen, die von einheimischen Quellen abhängen (Transfereinkommen, Bauern, Arbeiter in nicht wettbewerbsfähigen Sektoren).

Die Armutsbevölkerung wächst in allen Ländern. In Ungarn z.B. stieg die Anzahl der Haushalte mit einem Einkommen unter dem Existenzminimum von 1989 13,9% auf 1993 45,2%.

Die Arbeitslosigkeit nimmt wahrscheinlich trotz Wachstum zu, da - ähnlich wie in den anderen OECD-Staaten - die marktorientierten Unternehmen unter starkem Druck zur Produktivitätssteigerung stehen und der öffentliche Sektor ebenfalls sparen muß.

Die soziale Sicherung bestand im kommunistischen System im wesentlichen in Vollbeschäftigung plus Preispolitik (subventionierte Grundbedarfsgüter). Die Liberalisierung hat die Preisstruktur entzerrt, wobei immer noch große Bereiche nicht freigegeben sind (z.B. Mieten), ohne die Realeinkommensverluste gleichzeitig durch ein effizientes und ausreichendes Transfereinkommensystem zu kompensieren. Fiskalpolitisch sind jeder Umverteilungspolitik enge Grenzen gesetzt, während sich die Preisstruktur weiter liberalisieren wird.

Die Privatisierung verändert die Vermögens- und Einkommenslage vieler Bürger. Politische Beziehungen und Insiderkenntnisse entscheiden häufig über die neue Verteilung des Reichtums.

In allen Ländern ist ein starkes West-Ost-Gefälle der wirtschaftlichen Tätigkeit und damit von Beschäftigung und Einkommen zu beobachten. Diese Differenzierungen im Innern erfordern regionale Ausgleichsmechanismen.

Dieser ökonomischen Differenzierung entspricht die gesellschaftliche Differenzierung nur partiell. Denn soziale Gruppen definieren sich nicht nur durch ihre wirtschaftliche Lage, die sich im Transformationsprozeß obendrein rasch verändern kann, sondern auch durch ihre soziokulturellen, ideologischen und politischen Eigenschaften und Organisationsformen. Sie lassen sich in einem System politischer und sozialer Bruchlinien ("cleavages") erfassen.

Die Struktur der Bruchlinien in Ostmitteleuropa hat sich in den Jahren seit 1989/90 verändert und differenziert. Die klarste Bruchlinie lag beim Umbruch 1989/90 zwischen den Kommunisten und der demokratischen Opposition. Aber die Oppositionsbewegungen gegen die Diktatur waren mit Ausnahme von Solidarnosc keine organisierten Massenbewegungen. Ihre politischen Organisationen (Solidarnosc, Bürgerforum, Öffentlichkeit gegen Gewalt) sind inzwischen weitgehend zerfallen. Auf der Gegenseite der Bruchlinie blieben ebenfalls wenig Kräfte, da selbst die Kommunisten mit Ausnahme extremer Abspaltungen und der orthodoxen tschechischen Partei das alte System nicht hart verteidigten.

Neue Bruchlinien entstanden, deren Stärke von Land zu Land schwankt:

Reformprozeß: ökonomische Verlierer / Gewinner

Faktoreinkommen: Kapital / Arbeit (noch wenig ausgeprägt mangels funktionierender Arbeitgeberverbände)

Regional: Stadt / Land; West / Ost (mit Tendenz zur Deckung in Polen, Ungarn, Slowakei)

National: Titularnation / Minderheiten und Ausland (am stärksten in der Slowakei bzgl. Ungarn, Ansätze in Ungarn wegen ungarischer Minderheiten in Nachbarländern und Zigeuner, in Tschechien (Sudeten-)Deutsche und Zigeuner)

Staatsrolle: Starker, zentralistischer Interventionsstaat / Liberaler, föderaler Staat

Religion: Säkular/republikanisch vs. kirchlich/konservativ

Die Bruchlinien sind kaum mit aus Westeuropa bekannten links-rechts Konflikten vergleichbar. Sie bilden sich auch nur begrenzt im parteipolitischen Spektrum ab. Dessen Strukturierung hängt stärker von der spezifischen Form des alten Systems, des Transformationspfades und vorkommunistischen Traditionen ab. Im Ergebnis haben sich in den einzelnen Ländern unterschiedliche Muster gesellschaftlicher und politischer Strukturen herausgebildet, die in aller Vorläufigkeit wie folgt zu skizzieren sind:

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Polen

Hohes Wachstum und leicht sinkende Arbeitslosigkeit gehen einher mit relativ hoher Inflation und steigendem Leistungsbilanzdefizit. Die hohe Auslandsverschuldung schränkt trotz starker Devisenzuflüsse bei allerdings relativ schwachen ausländischen Direktinvestitionen den wirtschaftspolitischen Spielraum ein. Mit fast einem Viertel der Beschäftigten bildet die Landwirtschaft einen sozial und politisch bedeutsamen Sektor. Der neue Privatsektor besteht noch überwiegend aus Kleinstunternehmen. Die Privatisierung der großen und oft krisenhaften Staatsunternehmen hat sich stark verzögert. Statt handlungsfähiger, repräsentativer Interessenorganisationen großer gesellschaftlicher Gruppen entwickelten sich in Polen aus der "Zweiten Gesellschaft" der antikommunistischen Opposition zunächst lokale Netzwerke von Beziehungen, darunter Hunderte von kleinen Gewerkschaften. Dieser Netzwerkkorporatismus (tribal corporatism) dürfte sich allerdings mittelfristig auflösen. Inzwischen füllen politisierte Gewerkschaften partiell die Lücken, die die wenig effizienten und akzeptierten Parteien lassen. Unter den Parteien haben sich die antikommunistischen Kräfte in wirtschaftsliberale (u.a. Freiheitsunion), national-katholische (u.a. KPN) und sozialdemokratisch-gewerkschaftliche (Arbeitsunion, Solidarnosc) gespalten. Ihnen stehen die eher postkommunistischen "Sozialdemokratie der Republik Polen" und die Bauernpartei gegenüber.

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Tschechien

Wachstum, geringe Inflation, eine bemerkenswert niedrige Arbeitslosigkeit und hohe Auslandsinvestitionen bilden die Sonnenseite der tschechischen Wirtschaft. Bedenklich sind die neuerdings hohen Leistungsbilanzdefizite und der relative Anpassungs- und Modernisierungsrückstand in der pseudoprivatisierten Industrie. Die Privatisierung hat zwar die Eigentumsrechte zunächst an die Bürger vergeben, aber die Steuerungsfunktionen üben Investitionsfonds aus, von denen die wichtigsten wiederum teils staatlich kontrollierten Banken gehören. Hinter dem marktliberalen Kurs der Regierung verbirgt sich eine geschickte Politik der Schockreduzierung durch Beschränkung der Konkurrenz auf den Kapitalmärkten. Bürokratisch-zentralistischer Staat und effiziente Geldwirtschaft mit rascher Kouponprivatisierung haben die Entfaltung der gesellschaftlichen Kräfte in Tschechien zugunsten atomisierter Individualisierung gebremst. Während die alte politische Elite ihre Macht vollständig verlor, blieben die wirtschaftlichen Führungspositionen in den gleichen Händen. Die Homogenisierung der Nation durch die Ermordung der Juden, die Vertreibung der Sudetendeutschen und die Abspaltung der Slowaken hat die Identität verengt und Angstpotentiale gegenüber Zigeunern und den Deutschen hinterlassen, die partiell von den Nationalisten und Kommunisten mobilisiert werden und denen auch die Parteien der Mitte kaum offen entgegentreten. Diese Mitte bietet ein stark westeuropäisch anmutendes Parteienspektrum mit der Sozialdemokratie auf der linken und der liberal-konservativen Bürgerpartei auf der rechten Mitte sowie kleineren wirtschaftsliberalen und christdemokratischen Parteien.

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Slowakei

Hohes Wachstum verband sich mit sinkender Inflation und Arbeitslosigkeit sowie außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei relativ geringen ausländischen Investitionen. Der Aufschwung und die Arbeitslosigkeit weisen starke regionale Unterschiede auf, wobei die Süd- und Ostslowakei durch hohe Anteile an Landwirtschaft und Schwerindustrie besonders negativ betroffen ist. Die Privatisierung wechselte vom tschechoslowakischen Kouponmodell zum direkten Verkauf unter Bevorzugung regierungsnaher Unternehmer. Der Unternehmerverband ist einflußreich. Die meisten gesellschaftlichen Organisationen sind kaum in der Bevölkerung verankert, sondern orientieren sich an der Regierung, die ihren Status zunehmend regelt und den Organisationsspitzen Prestige und Einfluß verleiht. Die starke Regierung unter Meciar baut sich auf diese Weise einen gesellschaftlichen Unterbau, der auf ihre Interessen zugeschnitten ist. Sie knüpft damit einerseits an das alte kommunistische Modell an, andererseits gleicht es den iberischen Systemen eines "verstaatlichten Korporatismus". Quer dazu verläuft der ethnische Konflikt zwischen Ungarn und Slowaken, den die regionale Struktur der Wirtschaftskrise (z.B. überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit in ungarischen Gebieten) zu verschärfen droht. Die Ungarn verfügen auch über eigene Parteien. Das Parteienspektrum ist durch die Zentralfigur Meciar polarisiert mit Liberalen, Sozialisten und Christdemokraten in der Opposition gegen eine Regierungskoalition aus der populistischen HZDS Meciars mit zwei Parteien der extremen Rechten und Linken, die eher die Verlierer des Reformprozesses vertreten.

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Ungarn

Trotz sehr hoher Auslandsinvestitionen und frühzeitiger Reformen weist Ungarn ein relativ niedriges Wachstum mit nur leicht sinkender Arbeitslosigkeit, noch hoher Inflation und starken Leistungsbilanzdefiziten auf. Die extrem hohe Auslandsverschuldung bestimmt die Wirtschaftspolitik des Landes ungeachtet der politischen Führung. Soziokulturelle Faktoren definieren die wichtigsten Gruppen der ungarischen Gesellschaft, insbesondere die Differenzierung innerhalb der Mittelschichten. Während die Mehrheit der Arbeiter und Bauern klar zu den Verlierern des Systemwechsels gehört, sind die Gewinner schwerer zu identifizieren. 1990-94 war es die christlich-national orientierte Mittelklasse, die aber inzwischen von den Technokraten und Managern der ehemaligen Nomenklatura und der oft jüdischen urbanen Intelligenz abgelöst wurde. Politisch marginalisiert blieben von der alten Elite die sozialistische Intelligenz und die Stalinisten. Die Parteien repräsentieren die jeweiligen Mittelschichten, genauer: das Ungarische Demokratische Forum die christlich-nationalen Kräfte, die Freien Demokraten die urbane Intelligenz und die Sozialisten die Technokraten der Nomenklatura. Sie gewinnen ihre Mehrheiten durch ein großes Wechselwählerpotential unter den Verlierern.

Der rapide sozio-ökomische Wandel bildet den Hintergrund für die Entwicklung der politischen Systeme der jungen Demokratien, die ihre Stabilität letztlich durch das erfolgreiche Management der Transformation und - perspektivisch - der Integration erwerben müssen, dabei aber selbst noch unter erheblichen Strukturproblemen leiden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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