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[STABSABTEILUNG DER FES]
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Ein neuer Anlauf zur Verfassungsreform

Die Reform der staatlichen Institutionen ist ein Thema, das die italienische Politik seit nunmehr zwanzig Jahren bewegt. An den Kernpunkten der Debatte hat sich seit den siebziger Jahren mit einer Ausnahme wenig geändert. Es geht nach wie vor um die Stärkung der Exekutive gegenüber dem Parlament, eine Reform des Wahlrechts, welche die Bildung stabiler Koalitionen fördert, um die Abschaffung oder Neuordnung des Zweikammersystems und als Neuheit – seit den Wahlerfolgen der Lega im Norden – um den Übergang zum Föderalismus. Als entscheidendes Hindernis hat sich bislang immer der Umstand erwiesen, daß die Parteien sich wegen ihrer widerstreitenden Interessen bei der Institutionenreform wechselseitig blockiert haben. Denn Reformen, welche den Rahmen und die Spielregeln des Parteienwettbewerbs ändern, sind eben diesem Wettbewerb unterworfen, erfordern aber, soweit es sich um Verfassungsänderungen handelt, eine breite Mehrheit. Nach Art. 138 der italienischen Verfassung müssen Verfassungsänderungen von jeder der beiden Kammern mit absoluter Mehrheit verabschiedet werden. Auf Verlangen eines Fünftels der Mitglieder einer Kammer, von 500.000 Wählern oder fünf Regionalräten muß ferner, sofern das verfassungsändernde Gesetz nicht in beiden Kammern mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen wurde, ein Volksentscheid herbeigeführt werden. Wahlrechtsänderungen können zwar durch ein einfaches Gesetz beschlossen werden, sind aber in den neunziger Jahren, wie oben ausgeführt, nur unter dem Druck von Referenden zustande gekommen.

Die in den letzten Jahren eingetretenen Veränderungen im Parteiensystem sowie der Austausch eines guten Teils der politischen Elite haben immerhin bei der Mehrzahl der Parteien die Überzeugung reifen lassen, daß es an der Zeit sei, eine weitreichende Verfassungsreform in Angriff zu nehmen. Zu diesem Zweck hat das Parlament Ende Januar 1997 die Bildung einer Zweikammer-Kommission (Bicamerale) beschlossen, die sich aus je 35 Abgeordneten und Senatoren zusammensetzt. Sie hat den Auftrag, bis Ende Juni (!) Vorschläge zur Revision des Teils II der Verfassung („Der Aufbau der Republik"), der das staatliche Institutionengefüge regelt, zu erarbeiten und dem Parlament zur Entscheidung vorzulegen. Die Opposition hatte der Bildung der Kommission nach längerem Zögern zugestimmt, nachdem sich gezeigt hatte, daß die von ihr gewünschte Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung nach dem Verhältniswahlrecht nicht konsensfähig war. Zum Vorsitzenden der Kommission ist der starke Mann der Regierungskoalition, PDS-Chef D’Alema, gewählt worden. Führende Vertreter der beiden großen Oppositionsparteien sind mit dem Vorsitz von Ausschüssen betraut worden, in denen Materien verhandelt werden, die ihren Fraktionen besonders am Herzen liegen. So präsidiert der Politikwissenschaftler Urbani (Forza Italia) dem Ausschuß für rechtsstaatliche Garantien, weil Berlusconi, der sich als Opfer von Justizverschwörungen sieht, davon Initiativen zur Justizreform erwartet. Alleanza Nazionale, die für ein präsidentielles Regierungssystem eintritt, stellt mit Giuseppe Tatarella den Vorsitzenden des Ausschusses „Regierungsform". Den Ausschuß „Staatsform", der sich der Umwandlung Italiens in ein föderales System annehmen soll, leitet der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Elia (PPI), den Ausschuß „Parlament und Rechtsquellen" die RC-Politikerin Salvato. Die Lega Nord ist der Kommission ferngeblieben.

Die von den großen Parteien bewiesene Kompromißfähigkeit beim Zustandekommen der Kommission und bei der Besetzung der Ämter ist ein gutes Vorzeichen für deren Arbeit, die unter einem gewissen Erfolgsdruck steht. Andererseits ist nicht nur zweifelhaft, ob das Programm der Kommission im vorgesehenen Zeitraum bewältigt werden kann, sondern auch, ob die Parteien genügend Disziplin aufbringen, um das Terrain der Verfassungsreform vom Kampfplatz der Tagespolitik getrennt zu halten. Zu denken gibt auch, daß zentrale Fragen wie die Strukturen, die Kompetenzverteilung und die Finanzverfassung eines Bundesstaates bisher allenfalls oberflächlich diskutiert worden sind, obwohl bei den maßgebenden Parteien verfassungsrechtlicher und politikwissenschaftlicher Sachverstand gut vertreten ist. Die öffentliche Debatte über die Institutionenreform hat immer noch den Charakter eines verfassungspolitischen Gesellschaftsspiels. Die historischen Entstehungsbedingungen und die Funktionslogik der politischen Institutionen, die man aus anderen Ländern zu importieren gedenkt, werden dabei oft nicht hinreichend reflektiert. Zur Verbreitung politikwissenschaftlicher Grundkenntnisse hat der Nestor der italienischen Politikwissenschaft, Giovanni Sartori, als Leitartikler des Corriere della Sera beigetragen; seit dem Beginn der Arbeiten der Bicamerale hat er auch die Reformdiskussion unter den Parteien stark beeinflußt.

Im Vordergrund stehen gegenwärtig die Stärkung der Exekutive zur Sicherung der Regierbarkeit und eine neue Wahlrechtsreform, obschon das Wahlrecht nicht zum eigentlichen Auftrag der Kommission gehört, weil es keine Verfassungsänderung erfordert. Für die Stärkung der Exekutive werden im wesentlichen drei Modelle angeboten, die jeweils sowohl im Regierungslager als auch in der Mitte-Rechts-Opposition Anhänger finden: ein semi-präsidentielles System nach französischem Muster, das die Volkswahl des Staatsoberhauptes einschließt, die Volkswahl des Regierungschefs, die zu einer „Regierung des Premiers" führen soll, oder das Ankreuzen einer Präferenz für den Premierminister auf dem Stimmzettel, mit dem der Abgeordnete im Einerwahlkreis gewählt wird.

Die erste Variante, die von Sartori propagiert wird, würde konsequenterweise einen weitreichenden Umbau des italienischen Regierungssystems erfordern. Ein Kernstück der Verfassung der V. Republik ist schließlich der „rationalisierte Parlamentarismus", d.h. eine Beschneidung von Parlamentsrechten, die mit den Traditionen und Lastern des italienischen Parlamentarismus kaum vereinbar ist. Nicht von ungefähr sollen deshalb – nach Sartori – bei der Übernahme des französischen Modells die Befugnisse des Staatschefs eingeschränkt und die Rechte von Parlament und Regierung „besser ausbalanciert" werden. Ein vom Volk gewählter Regierungschef hätte zwar ein höheres Maß an Legitimität als einer, der von der Gnade der Parteizentralen abhängig ist. Eine stabile Mehrheit im Parlament wäre ihm damit jedoch noch nicht gesichert. Gegner der Direktwahl des Regierungschefs machen geltend, daß dieser für eine ganze Legislaturperiode unabsetzbar wäre unabhängig davon, ob er etwas taugt oder über eine Mehrheit im Parlament verfügt. Der dritte Vorschlag, der nur eine nicht verbindliche Willensbekundung des Wählers vorsieht, würde nur die geltende Regelung ergänzen, d.h. neben den Wahlkreiskandidaten würden nicht nur die Symbole der sie tragenden Koalition, sondern auch der Name des jeweiligen Koalitionskandidaten für das Amt des Regierungschefs stehen. Da auf diese Weise noch keine starke Exekutive geschaffen würde, soll die Stellung des Premiers durch das konstruktive Mißtrauensvotum oder das Recht zur Parlamentsauflösung oder die Kombination von beidem gestärkt werden.

Mit größerer Leidenschaft als über die in ihren Konsequenzen nicht ohne weiteres überschaubaren Institutionenreformen wird über eine erneute Wahlrechtsreform diskutiert. Diese soll die parlamentarische Mehrheitsbildung und die Bipolarisierung des Parteiensystems verstärken und die Nachteile des geltenden Wahlrechts, die hohe Fragmentierung der Parteienlandschaft und das Erpressungspotential der kleinen Parteien bei der Bildung von Wahlbündnissen, beseitigen. Leisten soll dies die Mehrheitswahl mit zwei Wahlgängen in Einerwahlkreisen. Im ersten Wahlgang würden die Stimmbürger den Kandidaten der Partei, die ihr Vertrauen genießt, wählen; der zweite Wahlgang wäre dann ein Ausscheidungskampf, zu dem nach dem Vorschlag Sartoris die vier bestplazierten Kandidaten des ersten Wahlgangs, nach den Vorstellungen D’Alemas diejenigen Kandidaten antreten dürften, die mehr als 7 Prozent der Stimmen erreicht haben. Strittig ist, welcher Anteil der Mandate per Verhältniswahl vergeben werden soll. Sartori schlägt 10 Prozent vor, wobei die betreffenden Sitze – als Ausstiegsprämie gewissermaßen – an die Parteien gehen sollen, deren Kandidaten sich aus dem zweiten Wahlgang zurückziehen. Die kleineren Parteien, allen voran die Rifondazione Comunista, die mit einer Regierungskrise droht, wehren sich verständlicherweise heftig dagegen, daß ihre Überlebensgarantie geschmälert werden soll mit der Folge, daß ihnen dann nur noch ein „Indianerreservat" im Parlament übrigbleiben würde.

Schon beim gegenwärtigen Stand der Debatte zeigt sich, daß klare und eindeutige Lösungen vielen der politischen Akteure widerstreben. Aus Angst vor der eigenen Courage neigen sie dazu, nach Kompromißlösungen zu suchen, die nicht zu weit vom status quo wegführen, aber doch das Versprechen von mehr Regierbarkeit aufrechterhalten. Deshalb bleibt abzuwarten, ob die Parteien diesmal mehr als symbolische Politik zuwege bringen und die Feststellung des Verfassungsrechtlers Elia widerlegen werden, wonach man es in Italien gewohnt sei, in der Krise das einzige Ereignis des politischen Lebens zu sehen.

Wahlen zur Abgeordnetenkammer 1987 – 1996
(1994 und 1996 nur Ergebnisse der Verhältniswahl)

Jahr der Wahl

1987
%

1992
%

1994
%

1996
%

PCI/PDS

26,6

16,1

20,4

21,1

RC

5,6

6,0

8,6

PSI

14,3

13,6

2,2

Verdi

2,5

2,8

2,7

2,5

Dini/RI

4,3

DC/PPI

34,3

29,7

11,1

6,8

FI

21,0

20,6

MSI/AN

5,9

5,4

13,5

15,7

CCD-CDU

5,8

Lega Nord

8,7

8,4

10,1

Abkürzungen: PDS – Partei der Demokratischen Linken PCI – Kommunist. Partei Italiens RC – Kommunist. Neugründung PSI – Sozialistische Partei Italiens Verdi – Die Grünen RI – Erneuerung Italiens DC – Christdemokraten PPI – Volkspartei Italiens FI – „Vorwärts Italien!" MSI/AN – Nationale Allianz CCD-CDU – Christlich-Demokratisches Zentrum-Vereinigte Christdemokraten Lega Nord – Liga der Nördl. Regionen


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