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Brasilien / von Achim Wachendorfer. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1996. - 17 S. = 59 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn: FES-Library, 1998

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




[Essentials]

* Eine Inflation von 23%, die niedrigste seit 1973, Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um ca. 4,1% und ein industrielles Wachstum von 3,1% sind die eindrucksvollsten Stabilisierungserfolge des Präsidenten Cardoso in seinem ersten Regierungsjahr.

* Geldwertstabilität und damit verbundener realer Einkommenszuwachs auch bei den ärmeren Bevölkerungsgruppen sichern dem Präsidenten ungebrochene Popularität.

* Trotz deutlicher Parlamentsmehrheit bleibt sein politischer Handlungsspielraum jedoch begrenzt, Strukturreformen werden vertagt oder durch den Kampf zwischen Gruppeninteressen blockiert.

* Die Stabilitätspolitik wird bisher vorwiegend durch monetäre Maßnahmen wie hohe Zinsen, Überbewertung der Währung usw. abgesichert. Darin liegen aber auch Gefahren (Handelsbilanzdefizit, öffentliche Inlandsverschuldung).

* Ungelöste soziale Fragen, Land- und Einkommensverteilung, fehlende staatliche Sozialpolitik, offene Gewalt und steigende Kriminalität bleiben Strukturprobleme der brasilianischen Gesellschaft auf ihrem Modernisierungsweg.

* Brasilien ist wieder attraktiv für ausländische Investitionen: Seit vier Jahren ist es für US-Investoren das wichtigste Anlageland.

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Das Wichtigste auf einen Blick

In den Meinungsumfragen erhält die Regierung Cardoso, die am 1. Januar 1995 ihr Amt angetreten hat, durchweg gute Noten. Damit honorieren die Wähler die anhaltende Geldwertstabilität und eine Inflationsrate, die, auf das Jahr 1995 berechnet, bei 23% gelegen hat und damit die niedrigste seit über zwei Jahrzehnten gewesen ist.

Erhaltung und Konsolidierung der Geldwertstabilität bilden auch Dreh- und Angelpunkt der Regierungspolitik, dem alles andere untergeordnet ist. Dabei ist freilich allen Beteiligten klar, daß die Stabilität der Wäh rung langfristig nur durch weitreichende Strukturreformen im ökonomischen und sozialen Bereich garantiert werden kann. Zwar konnte die Regierung im ersten Jahr ihrer Amtszeit hier einige Erfolge verbuchen, scheiterte jedoch bei den entscheidenden Reformen an den parlamentarischen Konstellationen. Die Ursache dafür lag nicht etwa in der Blockierung durch die Opposition, die mit ca. 20% der Abgeordneten ohnehin wenig Einflußchancen hat, sondern in der auf den ersten Blick satten Regierungsmehrheit von ca. 80% der Parlamentarier, wo sich jedoch zahlreiche Lobby-, Gruppen- und Einzelinteressen über jegliche Koalitions- oder Parteidisziplin hinwegsetzen. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil einige der anstehenden Reformen traditionelle Privilegien der konservativen Alliierten des Präsidenten Cardoso bedrohten.

Bei diesen Kräfteverhältnissen sah sich die Regierung bisher gezwungen, vor allem mit monetären Maßnahmen wie Hochzinspolitik, Überbewertung der Währung etc. im Verbund mit der Dämpfung des Wirtschaftswachstums in der zweiten Jahreshälfte 1995 zu operieren, um die Geldwertstabilität zu halten. Diese Politik provozierte jedoch, verstärkt gegen Ende des letzten Jahres, einige direkte und indirekte negative Konsequenzen: Nachdem Brasilien regelmäßig Überschüsse in der Handelsbilanz verzeichnet hatte, schloß diese für 1995 nunmehr mit einem Defizit von 3 Mrd. US-Dollar ab. Die Hochzinspolitik lockte zwar Kapital ins Land, ließ jedoch gleichzeitig die öffentliche Inlandsverschuldung auf ca. 100 Mrd. US-Dollar ansteigen. Die Überbewertung der Währung, fehlender Kreditzugang und bewußte Dämpfung der Konjunktur brachten viele Unternehmen in eine Schieflage und ließen die Zahl der Pleiten nach oben schnellen.

Zentrale Herausforderung für Brasilien bleibt die soziale Frage: Erneut hat Brasilien seine wenig schmeichelhafte Position als Land mit der höchsten Einkommenskonzentration behauptet. Die zum Teil daraus resultierenden sozialen Probleme haben nichts von ihrer Schärfe verloren. Dies drückt sich in einer Zuspitzung der Agrarkonflikte in Form zahlreicher, teils gewalttätiger Landbesetzungen sowie einer weiteren Steigerung von urbaner Gewalttätigkeit und Kriminalität aus. Die performance der Regierung im sozialen Bereich ist eher schwach, wiewohl die Stabilisierung positive Effekte auf die Kaufkraft der Unterschichten hatte; ein großangelegtes Sozialhilfeprojekt, die Comunidade Solidaria, mit welchem die Armut bekämpft werden sollte, entpuppte sich bislang eher als Strohfeuer.

International erhält die Regierung gute Noten, wozu sowohl das Stabilitätsprogramm als auch die fünfzehn Auslandsreisen, darunter auch nach Deutschland, des öffentlichkeitswirksamen, eloquenten und politikerfahrenen Präsidenten beitrugen.

Prioritäten der Regierung für das laufende Jahr sind die Konsolidierung der Geldwertstabilität, wobei ein weiterer Rückgang der Inflation auf ca. 15% erwartet wird, und klare praktische Schritte bei der Durchführung der bislang verschleppten Strukturreformen. Hier scheint die Regierung auch eher geneigt zu sein, mit oppositionellen Kräften, auch aus dem Gewerkschaftsbereich, den Dialog zu suchen, nachdem die bisherige Politik eher konfliktorientiert gewesen ist. Dies reflektiert sich in der Diskussion mit den Gewerkschaften zur Reform der öffentlichen Altersversorgung zu Beginn des Jahres 1996, nachdem zuvor ein Projekt der Regierung, das nicht mit den sozialen Akteuren abgestimmt worden war, angesichts des massiven Widerstandes zurückgezogen werden mußte.


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Politische Rahmenbedingungen




1. Stabilisierung garantiert positives Image

Zu Jahresbeginn erschienen in den führenden Tageszeitungen Brasiliens Umfragen, mit denen das erste Amtsjahr der Regierung von Präsident Fernando Henrique Cardoso evaluiert wurde. Insgesamt demonstrieren diese Umfragen mit jeweils leichten Differenzierungen eine beeindruckende Zustimmung zur Regierung und deren Wirtschaftsplan Real. Laut der Tageszeitung Estado de Sao Paulo unterstützen z.B. 21% der Befragten die Regierung ohne Vorbehalte und 54% mit Vorbehalten. Dieses Ergebnis fiel zwar hinter die zu Anfang des Jahres 1995 erzielten Werte zurück, muß aber angesichts der natürlichen Abnützungserscheinungen einer Regierung als positiv gewertet werden. Zentrales Motiv für die breite Zustimmung der Bevölkerung zur Regierungspolitik bildet weiterhin eine seit Jahrzehnten in Brasilien nicht gekannte Preisstabilität und niedrige Inflation.

Die Erhaltung der Preisstabilität und der Kampf gegen inflationäre Tendenzen bilden daher auch den Dreh- und Angelpunkt der gesamten Regierungspolitik, dem alle anderen Aspekte untergeordnet werden. Da viele der vorgesehenen Strukturreformen, die den Plan Real langfristig absichern sollten, im Sumpf politischer Interessen und Intrigen stecken blieben oder erst zu einem späteren Zeitpunkt greifen werden, garantierte die Regierung Preis- und Währungsstabilität nahezu ausschließlich über monetäre Maßnahmen. Von diesen gingen allerdings in der zweiten Jahreshälfte 1995 eine Reihe negativer Nebeneffekte aus. Nach der Blockierung wichtiger Strukturreformen ist die Regierung daher weiterhin für den provisorischen Haushaltsausgleich auf den Anfang 1994 zunächst nur für ein Jahr eingeführten "sozialen Notfond" (Fundo Social de Emergencia) angewiesen, dessen Verlängerung zwischen Regierung und Parlament strittig ist.

2. Instabilität der politischen Basis

Ein zentrales Problem bleiben für die Regierung die Kontrolle, Disziplinierung und Konsolidierung ihrer eigenen parlamentarischen Basis. Zwar hatte Fernando Henrique Cardoso im ersten Wahlgang am 3. Oktober 1994 über 54% der Stimmen auf sich vereinigen können, doch die politisch ohnehin komplizierte und inkohärente Mitte-rechts-Allianz, die seine Kandidatur getragen hatte, verfügte nur über 36% der Abgeordneten und 44% der Senatoren. Im Laufe des Jahres 1995 gelang es dann der Regierung, ihre Basis in zwei Richtungen zu verbreitern: Zum einen entwickelten die Kernparteien des Regierungsbündnisses, die PSDB und die rechtsorientierte PFL, hohe Attraktivität für "Überläufer" aus anderen Parteien. So stieg die Zahl der Abgeordneten der PSDB 1995 von 63 auf 80 und die der PFL von 89 auf 95. Zum anderen traten die PMDB (zu Jahresende 97 Abgeordnete) und die neugegründete PPM, ein Zusammenschluß aus PPR und PP (zum Jahresende 87 Abgeordnete) formell bzw. durch informelle Absprachen in die Regierungskoalition ein. Dies hatte zur Folge, daß sich die gesamte "offizielle" Opposition, die von der PT organisiert wird, auf knapp 20% der Parlamentarier begrenzt.

Doch entpuppt sich die auf den ersten Blick satte Regierungsmehrheit von ca. 80% der Abgeordneten und Senatoren bei näherer Betrachtung als ein äußerst komplexes, kompliziertes und zerbrechliches Gebilde. Dafür gibt es verschiedene Ursachen, die teilweise durch das obsolete und disproportionale Wahlsystem gefördert werden: Zum einen sind die brasilianischen Parteien, von Ausnahmen abgesehen, klientelistisch strukturierte Wahlvereine, die oft in zahlreiche Untergruppen zerfallen. Zum anderen existieren parteiübergreifende Interessengruppen (z. B. die Lobby der Agrarier, der religiösen Sekten, des Baugewerbes etc.), die sich wenig um Fraktiondisziplin oder parteiinterne Mehrheitsbeschlüsse scheren. Dies vermischt sich mit dem Bestreben zahlreicher Parlamentarier, ihre persönliche und finanzielle Position zu stärken. Erschwerend für die Regierung kommt hinzu, daß die Kernparteien der Koalition, PSDB und PFL, sich im Kampf um politischen Einfluß, Posten und Zugang zur Macht regelmäßig in die Haare geraten. Dies hat weitreichende Konsequenzen: Zum einen sieht sich die Regierung dadurch gezwungen, Mehrheiten im Parlament für wichtige Abstimmungen über eine Kombination von Konzessionen, Druck und Versprechungen zusammenzubringen, zum anderen müssen Reformvorhaben auf Eis gelegt oder können erst mit großer Verzögerung verabschiedet werden. Nicht von ungefähr beklagte sich Präsident Cardoso: "Der Unterschied zwischen Präsident Clinton und mir besteht darin, daß er eine organisierte Mehrheit gegen sich hat und ich eine unorganisierte Mehrheit für mich habe". Von daher ist nicht verwunderlich, daß der Kongreß in den Umfragen hauptsächlich schlechte Noten bekommt, was sicherlich nicht der relativ konsistent agierenden, doch wenig einflußreichenden Opposition anzulasten ist. Laut einer Umfrage der Folha de Sao Paulo bewerten nur 19% der Befragten die Arbeit des Kongresses mit sehr gut oder gut.

Vor diesem Hintergrund hat die Regierung sich darauf verlegt, immer häufiger mit dem verfassungsrechtlich bedenklichen Instrument der Medidas Provisorias zu arbeiten (provisorische Maßnahmen), die als eine Art Relikt der Vergangenheit in der Verfassung von 1988 verblieben waren. Hierbei handelt es sich um Gesetzesvorlagen der Regierung für den Kongreß, die jedoch bereits mit ihrer Veröffentlichung in Kraft treten. Stimmt der Kongreß ihnen innerhalb eines Monats nicht zu, verlieren sie ihre Gültigkeit, können jedoch mit leichten Modifizierungen von der Exekutive wiederum vorgelegt werden.

3. Strukturreformen: Eine eher schwache Zwischenbilanz

Bei den geplanten Strukturreformen konnte die Regierung bislang nur im ökonomischen Bereich einige Erfolge verbuchen, darunter vor allem die Aufhebung der staatlichen Monopole für Erdöl und Telekommunikation, was allerdings erst im Laufe der Jahre 1996/97 praktische Folgen haben wird. Ein erster Anlauf zur Sanierung des Systems der öffentlichen Altersversorgung scheiterte, obwohl das Regierungsprojekt eine Reihe interessanter Ansätze enthielt. Jedoch hatte es die Regierung unterlassen, im Vorfeld den Dialog mit den sozialen und politischen Akteuren zu suchen und Gemeinsamkeiten zu erarbeiten. Statt dessen startete sie eine wenig glaubwürdige Kampagne, in der die Situation der öffentlichen Altersversorgung in düsteren Farben geschildert und ihr unmittelbar bevorstehender Zusammenbruch prognostiziert wurde. Angesichts eines breiten Widerstandes, in dem sich Ängste vor dem Verlust erworbener Rechte mit der Verteidigung von Privilegien mischten, mußte die Regierung ihr Projekt zurückziehen. Anfang dieses Jahres wurde ein neues Projekt, dem Verhandlungen mit Gewerkschaften und anderen Akteuren vorausgegangen waren, im Parlament vorgelegt.

In der anstehenden Verwaltungsreform wurden Fortschritte nur bei der Aufhebung der Unkündbarkeit der Beschäftigten in Bund, Ländern und Gemeinden erreicht. Dieser Schritt war angesichts der prekären Finanzsituation zahlreicher Länder und Kommunen, wo über 90% des Budgets für Gehaltszahlungen ausgegeben werden, notwendig geworden. Die dringend erforderliche Steuerreform ist jedoch wegen des großen Widerstands zunächst auf Eis gelegt. Hier steht die Regierung vor dem Problem, daß zahlreiche Privilegien, von denen vor allem ihre Alliierten aus dem konservativen Lager profitieren, beschnitten werden müßten. Die Reform des politischen Systems und der Arbeitsbeziehungen wurde ebenfalls bislang noch nicht angegangen. Im Falle des komplizierten Finanzausgleiches von Bund, Ländern und Gemeinden schließlich, wo diverse Interessen aufeinanderstoßen, hat man sich mit pragmatischen, kurzfristig angelegten Lösungen von Konflikten begnügt.

4. Ungenügende Antworten auf die sozialen Probleme

Sowohl im Wahlkampf als auch in seiner Antrittsrede als Präsident hatte Cardoso den Schwerpunkt auf soziale Fragen und Lebensqualität gelegt und dadurch seinem schärfsten Widersacher im Kampf um die Präsidentschaft, dem PT-Kandidaten Luis Inacio Lula da Silva, dessen ureigenstes Feld streitig gemacht. Wenn auch die Stabilisierung der Währung positive Auswirkungen auf die Anhebung des Konsums der Unterschichten zeigt, so bleibt doch die Sozialpolitik in einem Land, in dem etwa 32 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben, die Schwachstelle der Regierungsarbeit. Als zentrales Instrument zur Bekämpfung der Armut hatte die Regierung bereits im Wahlkampf ein umfassendes, kombiniertes Sozialprogramm, die Comunidade Solidaria, die von der Idee des mexikanischen Programa Nacional de Solidaridad inspiriert worden war, entwickelt. Die Comunidade Solidaria, koordiniert durch die Präsidentengattin Ruth Cardoso, einer angesehenen Wissenschaftlerin, sollte die Aktionen der verschiedenen Ministerien, die im Sozialbereich tätig sind, zusammenfassen, effizienter gestalten und zielorientierter umsetzen. Zentrales Problem der Comunidade Solidaria war das Fehlen eines eigenständigen Haushaltes: Zu Beginn waren ihr 4 Mrd. Reais pro Jahr, später 2,7 Mrd. Reais aus verschiedenen Ministerien zugeordnet worden. Nach zahlreichen Verzögerungen und Abstrichen verblieb schließlich ein kombiniertes Sozialhilfeprogramm für zunächst 500 extrem bedürftige Kommunen, deren Zahl dann auf 156, mehrheitlich im Nordosten gelegen, reduziert wurde. Hierfür wurden jetzt nurmehr knapp 600 Mio. Reais, 15 % des ursprünglichen Volumens, vorgesehen. Neben der geringen Wirksamkeit wurde auch Kritik an Konzeption und Ansatz der Comunidade Solidaria laut; bezogen sowohl auf die Zusammensetzung der Leitungsinstanzen, wo relevante gesellschaftliche Gruppen nicht berücksichtigt wurden, als auch auf die Auswahl der Kommunen. Unter den bedachten Kommunen, für welche die Gouverneure der Bundesstaaten ein Vorschlagsrecht hatten, befinden sich eine Reihe, die nicht unter die Kategorie extremer Bedürftigkeit fallen. Es drängt sich die Vermutung auf, daß hier politische Interessen der Gouverneure oder der Regierungsparteien die Auswahl beeinflußten.

5. Skandale im ersten Regierungsjahr

Auch die neue Regierung blieb nicht von Skandalen verschont. Die erste große Affäre, die ihr zu schaffen machte, war mit dem drohenden Bankrott des Banco Economico verknüpft. Aus Beständen der Bank wurde der Presse ein "rosaroter Ordner" (pasta cor de rosa) zugespielt, in dem illegale Geldzuweisungen an Kandidaten für die Wahlen von 1990 und 1995 aufgelistet waren. Ein Großteil der Politiker, die Zuwendungen erhalten hatten, kamen aus dem Bereich der Bundesgenossen des Staatspräsidenten, darunter als Meistbegünstigter der PFL-Senator Antonio Carlos Magalhaes, Ex-Gouverneur von Bahia und einer der Architekten der Regierungsallianz. Das Augenmerk der Regierung war in der Folge weniger darauf gerichtet, diese Situation politisch zu bereinigen, als vielmehr die Verantwortlichen für die Weitergabe der pasta cor de rosa zu finden; bislang allerdings ohne Ergebnis.

Eine weitere Affäre, die in die Kategorie Palastintrigen eingeordnet werden könnte, hatte als Protagonisten zwei enge, jedoch untereinander verfeindete Vertraute des Präsidenten, den Karrierediplomaten Julio Cesar Gomes de Santos und den Chef der Agrarreformbehörde, Francisco Graciano. Letzterer ließ unter dem Vorwand der Drogenbekämpfung das Telefon von Gomes de Santos durch die Polizei abhören und wurde, wenn auch auf anderem Feld, fündig: Gomes de Santos hatte sich der unzulässigen Einflußnahme im Bereich des SIVAM, des geplanten Überwachungssystems für die Amazonasregion, schuldig gemacht. Sowohl Gomes de Santos als auch Graciano mußten letztendlich ihren Hut nehmen, doch nunmehr stand das ohnehin umstrittene Projekt SIVAM im Zentrum des öffentlichen Interesses. Hier war aus Gründen der "nationalen Sicherheit" auf eine öffentliche Ausschreibung für die Lieferung der technischen Ausrüstung in Höhe von 1,7 Mrd. US-Dollar (300 Beobachtungsstationen, 25 Radaranlagen, 12 Flugzeuge) verzichtet worden. Den Zuschlag erhielt die US-amerikanische Firma Raytheon. Doch auch im Falle von Raytheon zeigte sich, ausgehend von der Abhöraffäre, daß es zu Bestechung und unzulässiger Einflußnahme gekommen war, was unter anderem zum Rücktritt des Ministers für Luftfahrt General Mauro Gandra führte. Die Diskussion, ob trotzdem an dem Vertrag festgehalten werden sollte - so die Position der Regierung - oder eine neue Ausschreibung erfolgen soll, dauert an.

6. Gestärktes internationales Image

Einer der großen Pluspunkte der bisherigen Regierungsarbeit liegt für die öffentliche Meinung Brasiliens darin, daß es dem neuen Präsidenten gelungen ist, das Image Brasiliens weltweit zu verbessern. Wenn intern auch eine Reihe seiner Maßnahmen auf Kritik stoßen oder umstritten bleiben, so spricht ihm niemand, nicht einmal die Opposition, seine Verdienste um die Stärkung der brasilianischen Position im internationalen Kontext ab. Insgesamt bereiste Cardoso seit seinem Amtsantritt sechs lateinamerikanische und fünf europäische Staaten sowie die USA, China und Malaysia. Dabei gelang es dem sprach- und weltgewandten sowie politikerfahrenen Präsidenten, sich positiv gegen seine Vorgänger, den schillernden Collor de Melo und den introvertierten Itamar Franco, abzuheben und das angeschlagene Image von Brasilien aufzuwerten. Vor allem die Reisen in die lateinamerikanischen Nachbarländer und nach Westeuropa dürften für das zum Ende des vergangenen Jahres unterzeichnete Abkommen zwischen den Mercosul-Staaten und der Europäischen Gemeinschaft im Hinblick auf eine gemeinsame Freihandelszone ab 2005 von Bedeutung gewesen sein. Für die deutsch-brasilianischen Beziehungen gilt, daß diese sowohl durch die Reise Cardosos nach Deutschland als auch durch den Besuch des deutschen Bundespräsidenten anläßlich der Industriemesse FEBRAL gestärkt wurden. Allerdings gab es intern auch Kritik an den zahlreichen Auslandsreisen und der langen Abwesenheit des Präsidenten vom heimischen Geschäft: Nahezu regelmäßig leben bei einer längeren Reise die internen Konflikte seiner politischen Alliierten auf und stellen den Präsidenten nach seiner Rückkehr oft vor komplizierte Situationen.


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Wirtschaftliche Rahmenbedingungen




1. Geldwertstabilität als prioritäres Ziel

Im Zentrum der Wirtschaftspolitik der Regierung Cardoso standen seit dem Amtsantritt die Erhaltung und Konsolidierung der Währungsstabilität und die Inflationsbegrenzung. Diesen Zielen wurde alles andere untergeordnet. Hier konnten auch die bedeutendsten Erfolge verzeichnet werden. Die Inflation, die vor Juli 1994 noch bei etwa durchschnittlich 40% pro Monat gelegen hatte, stabilisierte sich 1995 auf einem monatlichen Niveau von 1,3-1,5%; dies bedeutete auf das Jahr 1995 bezogen eine Inflation von 23%, die niedrigste seit 1973. Das Bruttoinlandsprodukt stieg um ca. 4,1% und erreichte 550 Mrd. US-Dollar; das Wachstum der Industrie lag bei 3,1%, der Landwirtschaft bei 6,1% und der Dienstleistungen bei 4,3%. Dank dieser bislang erfolgreichen Stabilisierung entwickelte sich Brasilien wieder zu einem attraktiven Ort für ausländische Investoren und wurde auf der 50. Hauptversammlung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank mit Lob überhäuft.

Da jedoch mehrere der geplanten und dringend notwendigen Strukturreformen, mit denen die Stabilisierung langfristig abgesichert werden sollte, im Parlament blockiert wurden oder erst zu einem späteren Zeitpunkt greifen werden, operiert die Regierung bislang primär mit monetären Maßnahmen. Dabei nutzte sie in erster Linie folgende Instrumente:

- Kontrolle der Agrarpreise;

- Abbau von Zollschranken, Importrestriktionen und Subventionen;

- Erschwerte Kreditaufnahme;

- Desindexierung von Löhnen und Gehältern;

- Hochzinspolitik;

- Schaffung eines Währungsankers durch die de facto Fixierung des Reais/US$-Wechselkurses und damit die graduelle Überbewertung der Währung.

Obwohl viele dieser Instrumente noch aus den Zeiten der Durch- und Umsetzung des Plans Reals unter der vorigen Regierung Itamar Franco stammen, in welcher der jetzige Präsident als Finanzminister und Vater der Inflationsbekämpfung tätig war, wurden sie seit Anfang 1995 noch verstärkt und ausgebaut. Um inflationäre Tendenzen im Keim zu ersticken, war die Regierung auch bereit und in der Lage, das Wirtschaftswachstum, dessen Perspektive zeitweise bei 10% lag, drastisch zu begrenzen.

2. Instrumente der Geldwertstabilisierung

Die genannten Stabilisierungsinstrumente provozierten freilich eine Reihe nicht unbedingt beabsichtigter Nebenfolgen, die mit dafür verantwortlich sind, daß die wirtschaftliche Gesamtentwicklung riskante Ambivalenzen aufweist. Diese werden mittelfristig über den tatsächlichen Erfolg der Wirtschaftspoliitk entscheiden.

Kontrolle der Agrarpreise: Hier ist das Ziel, die Kosten für Grundnahrungsmittel niedrig zu halten, um zu verhindern, daß steigende Agrarpreise Druck auf Löhne und Gehälter ausüben. Mit flexiblem Einsatz der stocks, d.h. der von der Regierung aufgekauften Vorräte, und mit Hilfe eines komplizierten Steuerungssystems der Erzeugerpreise ist es gelungen, die Preise für landwirtschaftliche Produkte, die für den Konsumbereich der ärmeren Bevölkerung von zentraler Bedeutung sind, auf einem niedrigen Niveau zu halten. Allerdings stieg mit der Preisstabilisierung auch die Nachfrage nach Lebensmitteln. Dies führte zu einer Ausweitung der Anbaufläche, was zu einer Rekordernte für 1994/95 beitrug. Durch die niedrig gehaltenen Erzeugerpreise entfielen jedoch nunmehr Anreize für eine Ausweitung der Agrarproduktion, was sich im Rückgang der Anbaufläche und voraussichtlich einer geringeren Ernte für 1995/96 niederschlägt.

Importerhöhung: Bis vor wenigen Jahren war der brasilianische Markt gegenüber dem Weltmarkt weitgehend abgeschottet mit der Folge, daß die brasilianischen Produkte im internationalen Vergleich sich durch hohe Produktionskosten und zumeist niedrigere Qualität auszeichneten. Seit 1990 wurde der brasilianische Markt allmählich, teils in widersprüchlichen Prozessen, für den internationalen Wettbewerb geöffnet. Mit dem Amtsantritt der Regierung Cardoso verstärkte sich dieser Prozeß zunächst, weniger mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit der brasilianischen Industrie zu erhöhen, als vielmehr, um durch verbilligte Importe die Inlandspreise zu stabilisieren. Als die Importwelle die Handelsbilanz jedoch in eine Schieflage brachte, zögerte die Regierung nicht, für Automobile und ca. hundert andere Produkte zeitweise die Importzölle radikal zu erhöhen.

Blockierung von Krediten: Um die Nachfrage zu dämpfen und dadurch den Druck auf die Preise, der durch den gestiegenen Konsum entstanden war, abzuschwächen, entwickelte das Cardoso-Kabinett seit April 1995 eine Reihe von Mechanismen, die den Zugang zu Krediten erschwerten: Kreditlinien wurden eliminiert, der Spielraum der sogenannten Kreditkonsortien, eine Art privater Kreditvereine, begrenzt, Kreditkartenkäufe reglementiert und Bankkredite erschwert. Erst zum Jahresende 1995 wurden einige Restriktionen gelockert. Folge war ein beachtlicher Rückgang der Nachfrage für Produkte, die in Brasilien traditionell auf Kreditbasis getätigt wurden, so im Falle der dauerhaften Konsumgüter.

Hochzinspolitik: Wichtigstes Mittel der Kreditbeschränkung blieben die hohen Realzinsen von ca. 25-30% pro Jahr. Den hohen Zinssätzen fiel eine doppelte Funktion zu. Zum einen reduzierten sie wesentlich den Verkauf auf Kreditbasis und wirkten damit dämpfend auf den Konsum, und zum anderen brachten sie kurzfristig angelegtes internationales Kapital nach Brasilien. Damit konnten einerseits die negative Handels- und Dienstleistungsbilanz ausgeglichen und andererseits die internationalen Reserven des Landes (ca. 49 Mrd. US-Dollar im Dezember 1995) erhöht werden. Von den 100 internationalen Investitionsfonds mit den besten Renditen in Schwellenländern entfielen bis November 1995 18 auf Brasilien. Die Hochzinspolitik hatte jedoch auch erhebliche negative Auswirkungen: Sie war wesentlich für den rasanten Anstieg der öffentlichen Inlandsverschuldung von ca. 65 Mrd. US-Dollar auf ca. 100 Mrd. US-Dollar von Januar bis Dezember 1995 verantwortlich.

Schaffung eines Währungsankers: Zentrales Element der Preisstabilisierung bildete ein sogenannter Währungsanker, mit dem die Parität des brasilianischen Reais mit anderen Währungen garantiert wurde, jedoch ohne eine feste Anbindung an den US-Dollar. Indirekt bewirkte dies eine beachtliche Verbilligung der Importe, was wiederum Auswirkungen auf das interne Preisniveau hatte. Ein Blick auf die Wechselkurse zeigt die Bedeutung dieses Instruments: Mitte 1994 betrug die Relation des US-Dollar zum Real 1:0,85 und Ende 1995 entsprach ein Dollar 0,97 Reais, was einer Abwertung von 14% gleichkommt. Für den selben Zeitraum betrug die akkumulierte Inflation jedoch ca. 40%, womit der Real de facto um 25% aufgewertet wurde. Während sich somit Importe verbilligten, erfuhren im Gegenzug brasilianische Exportprodukte, gemessen an internationalen Preisen, eine starke Verteuerung. Nachdem Brasilien die letzten Jahre beachtliche Handelsüberschüsse ausgewiesen hatte, änderte sich dies ab November 1994: Bis Juni 1995 entstand monatlich ein Defizit von ca. 700 Mio. US-Dollar. Erst ab August wurden wieder leichte Überschüsse erzielt, zum Teil auch in Verbindung mit einer Reihe wiederaufgelegter Importrestriktionen. Auf das Jahr 1995 berechnet, blieb jedoch ein Handelsbilanzdefizit in Höhe von ca. 3 Mrd. US-Dollar.

3. Strukturreformen im wirtschaftlichen Bereich

Eine dauerhafte Stabilisierung der Wirtschaft, darin sind sich die Experten der Regierung einig, ist an die Durch- und Umsetzung einer Reihe weitreichender und tiefgreifender Strukturreformen vor allem in der Wirtschafts- und Sozialordnung geknüpft. Diese Strukturreformen, darunter an erster Stelle eine umfassende Steuerreform, stehen seit Jahren auf der Tagesordnung, scheitern jedoch immer wieder an der Obstruktionspolitik mächtiger Interessengruppen, die heute mehrheitlich im Regierungsblock angesiedelt sind. Angesichts der komplizierten Kräfteverhältnisse in der Regierungskoalition konzentrierte sich die Regierung bisher zunächst auf eine Reihe von Reformen im Wirtschaftsbereich, wo es einfacher war, breite parlamentarische Mehrheiten zu finden. Hier konnte sie die Streichung des Artikels in der Verfassung, mit welchem das Auslandskapital gegenüber nationalem Kapital benachteiligt wurde, durchsetzen. Auch bei der Abschaffung der staatlichen Monopole für Erdöl und Telekommunikation war die Regierung erfolgreich, wobei sich allerdings über die zukünftige Gestaltung des Staatsunternehmens Petrobras ein schwerer Konflikt mit den Gewerkschaften entwickelte.

Der Prozeß der Privatisierung öffentlicher Unternehmen wird unter der neuen Administration fortgesetzt. Präsident Cardoso hatte bei Amtsantritt erklärt, daß 1995 17 Unternehmen privatisiert werden sollten. Der tatsächliche Privatisierungsprozeß reduzierte sich freilich auf nur acht Unternehmen, womit insgesamt 1,024 Mrd. US-Dollar in die Staatskassen flossen. Im Vergleich dazu hatte Präsident Collor in zwei Jahren Staatsbetriebe für 4,076 Mrd. US-Dollar veräußert, und auch sein Nachfolger Itamar Franco hatte in ebenfalls zwei Jahren noch 3,645 Mrd. US-Dollar aus Privatisierungsverkäufen erzielt.

In den Beziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden versuchte die Regierung, die Auswirkungen einer drohenden Zahlungsunfähigkeit von Bundesstaaten und Stadtverwaltungen abzufedern; meist über Einflußnahme auf bundesstaatliche Banken und Verhandlungen mit Gouverneuren und Oberbürgermeistern, mitunter durch Übernahme von Schulden. Hier sind der Administration jedoch enge Grenzen gesetzt, da ihre eigene parlamentarische Basis jeweils mit bundesstaatlichen und/oder kommunalen Interessen verknüpft ist, denen im Konfliktfall Priorität eingeräumt wird.

4. Situation und Perspektiven der Unternehmen

Durch die allmähliche Öffnung des brasilianischen Marktes werden die jahrzehntelang hinter hohen Zollmauern geschützten brasilianischen Unternehmen gezwungen, ihre Effizienz, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Die Marktöffnung war mit einer Reihe positiver Wirkungen auf die brasilianischen Unternehmen verbunden, die sich in einer beträchtlichen Erhöhung der Produktivität (über 30% zwischen 1990-95) und einer Qualitätssteigerung (ca. 1000 Unternehmen mit ISO 9000-Zertifizierung) ausdrückten. Dieser Modernisierungsschub spiegelt sich auch darin wider, daß sich im vergangenen Jahr der Technologiebedarf der brasilianischen Unternehmen in deutlich gestiegenen Investitionen äußerte: Der Kauf von neuer Technologie im Wert von 700 Mio. US-Dollar stellt einen Rekord dar, wenn man ihn mit den Technologiekäufen Ende der 80er Jahre vergleicht, die jeweils bei ca. 200 Mio. US-Dollar jährlich gelegen hatten.

Jedoch gestalteten sich vor allem in der zweiten Hälfte 1995 die Rahmenbedingungen der Unternehmensmodernisierungen weitaus schwieriger: Überbewertung der Währung, Hochzinspolitik und vor allem die Maßnahmen der Regierung zur Dämpfung des Wirtschaftswachstums provozierten Probleme für die Firmen. Die Nachfrage ging zurück, was sich vor allem auf die industrielle Produktion auswirkte, die zwischen Juli '94 und April '95 je nach Branche um 15-25% gewachsen war, jedoch anschließend auf das Niveau vor der Einführung des Plan Real zurückfiel. Gleichzeitig stiegen die Produktionskosten, reduzierten sich die Gewinnmargen und nahmen die Verluste zu. Dies führte zu einem drastischen Anstieg von Firmenzusammenbrüchen und Zahlungsunfähigkeitserklärungen, was sich wiederum in einer steigenden Oligopolisierung in verschiedenen Branchen ausdrückte. Allein in der Stadt Sao Paulo mußten mehr als 6.000 Unternehmen ihren Bankrott erklären, doppelt so viele wie 1994. Nach einer Umfrage der Wirtschaftszeitung Gazeta Mercantil zu Jahresbeginn konnten von 105 befragten Unternehmen (ohne Finanzsektor) nur 20 ihr Resultat verbessern. Letzlich bestätigt sich eine Tendenz, daß die Unternehmen, die bei der Öffnung zunächst den Anschluß verpaßt hatten und dann bei Banken Kredite zur Modernisierung aufnahmen, nunmehr, vor allem wegen hoher Zinssätze, in extreme Schwierigkeiten geraten sind, während andere Unternehmen, die rechtzeitig modernisiert und sich auf den internationalen Wettbewerb vorbereitet hatten, heute in der Lage sind, mitzuhalten.

Von Seiten der Regierung wird wenig getan, diesen Prozeß zu steuern, sieht man von einigen Kreditlinien der staatlichen Entwicklungsbank BNDES für Unternehmensgründungen oder den Umbau von Unternehmen ab.

Für ausländische Unternehmen ist Brasilien allerdings wieder ein interessantes Investitionsfeld geworden. Dies drückt sich z. B. darin aus, daß Brasilien das Land ist, in das US-Unternehmen während der letzten vier Jahre am meisten investierten. Insgesamt flossen ca. 6,25 Mrd. US-Dollar als Direktinvestitionen nach Brasilien, mehr als z. B. nach Kanada (6,24 Mrd. US-$), Großbritanien (6,09 Mrd.) oder Mexiko (4,14 Mrd.). Dies erklärt sich auch daraus, daß die in Brasilien tätigen US-Firmen gezwungen waren, ihre Niederlassungen zu modernisieren, um mit den Importen mithalten zu können. Auch das Interesse der deutschen Industrie, die traditionell den zweiten Platz hinter den USA bei Direktinvestitionen in Brasilien hält, ist gewachsen, wie auch die Durchführung der deutsch-brasilianischen Technologieausstellung für den Mercosul, FEBRAL, in Sao Paulo vom 27.11-3.12.1995 zeigte. Auf dieser größten Leistungsschau der deutschen Wirtschaft im Ausland seit Jahren, die von Staatspräsident Cardoso und Bundespräsident Herzog eröffnet wurde, präsentierten ca. 330 Aussteller ihre Produkte. Neue deutsche Investitionen laufen vor allem im Bereich der Automobilindustrie an. Allerdings begrenzt sich das Interesse des Auslandskapitals auf wenige Bereiche, vor allem Elektrotechnik/Elektronik, Telekommunikation, Nahrungsmittel und Automobilherstellung.

5. Die Entwicklung des Arbeitsmarktes

Die strukturellen Veränderungen, denen die brasilianische Wirtschaft in den letzten Jahren unterworfen wurde, provozierten weitreichende Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, die durch die Politik der Dämpfung des Wirtschaftswachstums verstärkt wurden. In den vorangegangenen fünf Jahren war die Zahl der Beschäftigten im formellen Sektor der Wirtschaft (d.h. Personen, die über ein sogenanntes Arbeitsbuch verfügen, das Zugang zu staatlichen Sozialleistungen garantiert) von 24,9 Mio. (Juli 1990) auf 23,8 Mio. (Juni '95) gesunken. Von der sinkenden Nachfrage seit Mitte 1995 war vor allem die Industrie betroffen, wo das Beschäftigungsniveau Ende 1995 2-3% niedriger lag als zu Beginn des Plan Real. Eine Studie für den Großraum Sao Paulo weist nach, daß die Zahl der abhängig Beschäftigten von November '94 bis November '95 um 1,1% abnahm, während gleichzeitig der informelle Arbeitsmarkt um 3,7% anstieg. Die landesweite Arbeitslosigkeit erhöhte sich nach Berechnungen des brasilianischen Statistikamtes IBGE zwischen Oktober 1994 und Oktober 1995 von 4,5% auf 5,1%. Nach Berechnungen des gewerkschaftsnahen Forschungs- und Beratungsinstituts DIEESE lag die Arbeitslosigkeit im Oktober 1995 jedoch bei 10,5%. Die Differenz erklärt sich aus unterschiedlichen Definitionen und Berechnungsformen der Arbeitslosigkeit.

Die Löhne und Gehälter stiegen zwischen Juli '94 und Juni '95 je nach Branche um 10-25% und fielen seither wieder geringfügig. In Sao Paulo stiegen die Industrielöhne z.B. von Juni '94 bis März '95 um 7%, um dann anschließend bis September '95 um 4,5% zu sinken. Der gesetzlich festgelegte monatliche Mindestlohn lag 1995 bei 97,70 US-Dollar, das tatsächlich zum Leben erforderliche Mindestgehalt (SMN) wird freilich auf rund 700 US-$ kalkuliert.

6. Ein neuer Krisenherd: Das Bankwesen

Die Entwicklung des Bankwesens und der Finanzinstitutionen wird zu einer immer schwierigeren Herausforderung für die Regierung. Seit der Bankenreform von 1988, mit der die Universalbanken geschaffen worden waren, stieg deren Zahl von 138 (1987) auf 246 (1995) mit insgesamt über 32.000 Filialen. Gleichzeitig sind durch neue Technologien 164.500 Arbeitsplätze abgebaut worden. Die Veränderungen der ökonomischen Rahmenbedingungen, die Stabilisierung der Währung sowie die Konzentrationstendenzen im Rahmen der Globalisierung, teilweise aber auch unseriöses Management und gewagte Spekulationen haben zahlreiche Banken - man spricht von ca. 100 - in eine gefährliche Schieflage gebracht.

Den Anfang machte die Banco Economico, die größte Privatbank des Bundesstaates Bahia, die nach einer Serie von riskanten Finanzoperationen vor dem Bankrott stand. Besonders pikant war, daß der politische "Pate" der Bank, der Senator Antonio Carlos Magalhaes, die graue Eminenz der Regierungskoalition war. Nach längeren Auseinandersetzungen, in deren Rahmen Magalhaes der Regierung mit dem Entzug seiner Unterstützung drohte, wurde die Banco Economico unter staatliche Aufsicht gestellt und zu Jahresbeginn von der Privatbank Excel übernommen. Die Krise dieser Bank war gleichzeitig mit einem der schwierigsten politischen Skandale verknüpft, den die Regierung durchzustehen hatte.

Als nächstes stand die Banco Nacional, die siebtgrößte Privatbank Brasiliens, im November letzten Jahres vor dem Aus. Da die Regierung befürchtete, daß ihr Zusammenbruch weitreichende Auswirkungen auf andere große Privatbanken provozieren könnte, intervenierte auch hier die Zentralbank und vermittelte die Übernahme der gesunden Bereiche der Banco Nacional an die Unibanco.

Angesichts dieser Situation förderte die Regierung die Fusion von Banken durch eine Medida Provisoria, wodurch der Zentralbank mehr Vollmachten zur Förderung von Fusionen und Übernahmen eingeräumt wurden.


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Gesellschaftliche Rahmenbedingungen




1. Soziale Frage bleibt im Vordergund

Brasilien hat auch nach neuesten Untersuchungen der Weltbank seine wenig schmeichelhafte Position als Land mit der höchsten Einkommenskonzentration auf der Welt konsolidiert. Die Auswirkungen zeigen sich sowohl in den urbanen Ballungszentren (Sao Paulo, Rio de Janeiro, Salvador de Bahia, Recife), wo ein Großteil der Bevölkerung in favelas, d.h. in Elendsvierteln, lebt, aber auch in den ländlichen Regionen, wo weiterhin Großgrundbesitz dominiert und Kleinbauern verdrängt werden.

Gleichzeitig verstärken sich die regionalen Disparitäten zwischen einem relativ entwickelten Süden und Südosten des Landes mit Bedingungen, die zumindest teilweise denen von Industrieländern gleichen, und dem oligarchisch beherrschten Nordosten und Norden, der oft Merkmale einer "Vierten Welt" trägt. Nach einer Reihe inkompetenter Regierungen und Parlamentsmehrheiten, die jeden Reformversuch blockierten, sind öffentliche Dienstleistungen wie Gesundheit und Bildung teilweise in einem miserablen Zustand. Dieses Panorama birgt erheblichen sozialen Konfliktstoff: Überbordende Ge-

walt und Kriminalität in den Städten und urbanen Zentren, aber auch zunehmende gewalttätige Zusammenstöße auf dem Land belegen den eigentlich permanenten sozialen Notstand, der meist nur mit polizeilichen Mitteln beantwortet wird.

Insbesondere die Frage der Besitzverhältnisse auf dem Lande provoziert immer wieder heftige Auseinandersetzungen und bleibt die Basis für fortdauernde soziale Krisensituationen. Organisiert von der Landlosenbewegung Sem Terra ("Ohne Land"), finden massive Landbesetzungen in verschiedenen Regionen Brasiliens statt, wobei es, wie im August 1995 im Amazonas-Staat Rondonia, oft zu gewalttätigen Konfrontationen zwischen Landbesetzern und Landbesitzern und der sie schützenden Polizei kommt. Angesichts von dreißig Landbesetzungen in verschiedenen Staaten reagierte die Regierung, in deren Agenda die Landfrage nicht enthalten war, mit personellen Umbesetzungen in der Agrarreformbehörde und einer zeitweisen Beschleunigung der Landverteilung. Der Konflikt schwelt jedoch weiter und wird immer wieder aufbrechen, solange nicht wirklich entschieden, umfassend, zügig und flächendeckend das Problem der Agrarreform angegangen wird.

Das Fehlen sozialer Absicherungen, staatlicher Fürsorgepolitik und grundlegender sozialpolitischer Konzeptionen in Verbindung mit steigender Armut, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung lassen die urbane Gewalt weiter ansteigen. Allein in Sao Paulo wurden von Januar bis November 1995 6.170 Personen ermordet, 11,2% mehr als im Vorjahr. Die "Todesquote" von 43 Morden pro 100.000 Einwohnern in Sao Paulo wird in Rio de Janeiro noch übertroffen, wo sich die Mordrate auf 56 von 100.000 Einwohnern beläuft und wo vor allem die Zahl der Entführungen stark angestiegen ist. Die Aufklärungsrate für diese Gewaltverbrechen, in welche auch oft die Polizei verwickelt ist, bleibt dagegen weiterhin extrem gering. Das Problem der privaten und öffentlichen Sicherheit ist der Administration längst entglitten, private Wachdienste für die Begüterten erleben einen ungeahnten boom, die große Mehrheit der Bevölkerung aber fühlt sich von den staatlichen Sicherheitsorganen im Stich gelassen. Selbsthilfe, Lynchjustiz, vor allem aber Angst und das Gefühl der Schutz- und letztlich auch Rechtlosigkeit erodieren das Rechtsempfinden und die zivilgesellschaftlichen Tugenden, ein krasser Gegensatz zu dem Glanz der makroökonomischen Modernisierungserfolge.

Auch die Frage der latenten Rassendiskriminierung gegenüber der schwarzen Bevölkerung, wo der Anteil an absoluter Armut überdurchschnittlich hoch liegt, gehört zu den Schattenseiten des brasilianischen Alltags und füllt immer wieder für kurze Zeit die Schlagzeilen. Jüngst rückte eine von Schwarzen-Organisationen, Bürgerrechtsgruppen und Gewerkschaften organisierte Karawane durch Brasilien diesen Tatbestand in das öffentliche Bewußtsein, im Gedenken an den dreihundertsten Todestag von Zumbi, dem letzten Führer der autonomen Sklavenrepublik Quilombo de Palmares, die im 17. Jahrhundert 65 Jahre lang allen Angriffen der Kolonialmacht widerstanden hatte.

2. Gewerkschaftliche Entwicklung

Die Gewerkschaften haben unter der Regierung Cardoso an Boden verloren. Relativ machtlos mußten sie akzeptieren, daß vor allem in der verarbeitenden Industrie die Zahl der Arbeitsplätze reduziert wurde, die Arbeitslosigkeit zunahm und der informelle Sektor sich ausweitete. Nur wenige Tarifverträge der letzten Zeit brachten Fortschritte für die Arbeitnehmer, so z.B. in der Automobilindustrie, wo von Ford und Volkswagen die 42-Stundenwoche eingeführt wurde.

Vor den Wahlen hatten die Gewerkschaften unterschiedliche Kandidaten unterstützt. Der Dachverband CUT, mit ca. 5 Millionen Mitgliedern der größte und bedeutendste Lateinamerikas, hatte sich hinter den PT-Kandidaten Luiz Inacio Lula da Silva (Lula) gestellt. Der Vorsitzende des kleineren Konkurrenzverbandes Força Sindical bewarb sich dagegen als Kandidat einer rechtslastigen Koalition für das Amt des Gouverneurs von Sao Paulo, erzielte jedoch ein schwaches Ergebnis. Während anschließend Força Sindical die Regierung in fast allen Bereichen unterstützte, verhielt sich die CUT zunächst abwartend, obwohl sie eine Reihe von Programmpunkten der neuen Regierung ablehnte. Zu einem frontalen Zusammenstoß kam es dann anläßlich der Abschaffung des Monopols des Staatsunternehmens Petrobras, zuständig für Erdölförderung, -raffinerie und -vermarktung. Die hier organisierten Gewerkschaften, die dem Dachverband CUT angeschlossen sind, wehrten sich mit einem Streik, da die Regierung ein von ihrer Vorgängerin geschlossenes Abkommen nicht anerkennen wollte, jedoch auch aus Protest gegen die Aufhebung des Monopols von Petrobras. In dem 30-tägigen Streik, der praktisch den gesamten Mai '95 andauerte, fuhr die Regierung eine harte Linie. Die Verknappung von Gas und Benzin mit entsprechend negativen Auswirkungen auf die privaten Haushalte sowie die hohen Verluste der Wirtschaft drängten die Gewerkschaften in die Defensive, gleichzeitig wuchs die Zustimmung der Bevölkerung für die anstehenden Privatisierungen. Aus ihrer Politik der Stärke blockierte die Regierung auch Versuche einer Lösung, an welcher der Dachverband CUT und die PT interessiert waren, die beide dem Streik mit gemischten Gefühlen gegenüberstanden. Als Ergebnis des Arbeitskampfes hatte die Regierung einen der bedeutendsten Gewerkschaftssektoren exemplarisch in die Knie gezwungen, die Zustimmung in Bevölkerung und Parlament für anstehende Privatisierungen erhöht und die politische und gewerkschaftliche Opposition demoralisiert.

Bei der Vorlage des Regierungsprojektes zur Umgestaltung der öffentlichen Altersversorgung, zu der die Gewerkschaften nicht konsultiert worden waren, kam es zu einer breiten Ablehnungsfront von allen Gewerkschaften. Nachdem die Regierung aufgrund des allgemeinen Widerstandes ihr Projekt zurückziehen mußte, suchte sie anschließend den Kontakt mit den Gewerkschaften, um einen Konsens über die zentralen Punkte der Reform herbeizuführen.

3. Umstrukturierungen im Parteiensystem

Wiewohl die oft beschworene umfassende Parteienreform auch unter der neuen Administration bislang nicht vorankam, gibt es doch bedeutende Verschiebungen im Parteiengefüge, wozu zahlreiche Übertritte von Parlamentariern und Parteifusionen beitrugen. Im konservativen Lager konsolidierten sich zwei Parteien: Die traditionelle PFL mit knapp 20% der Abgeordneten und die neugeschaffene PPB, eine Fusion aus PPR und PP mit ca. 18% der Abgeordneten. Die Partei des Präsidenten, die PSDB, konnte zwar durch zahlreiche Uberläufer ihr parlamentarisches Gewicht erhöhen (zu Jahresbeginn 16% der Abgeordneten), was jedoch nicht unbedingt die Qualität ihrer Parlamentsfraktion verbesserte. Weiterhin richtungs- und ziellos treibt die PMDB (ca. 20% der Abgeordneten) dahin, die in verschiedene Fraktionen und Gruppen, die recht wenig miteinander zu tun haben, zerfällt und wo sicherlich weitere Austritte und Abspaltungen zu erwarten sind. In der wichtigsten Oppositionspartei, der PT (ca. 10% der Abgeordneten), die am ehesten dem Typ einer programmatischen Volkspartei entspricht und wo sich im Gegensatz zu allen anderen größeren Parteien die Zahl der Abgeordneten konstant hielt, ist es zu weitreichenden Veränderungen gekommen. Die bisherige Leitfigur Lula, zweimaliger Präsidentschaftskandidat der Partei, der jeweils einen zweiten Platz belegt hatte, trat als Parteipräsident zurück. Gleichzeitig konstituierte sich auf dem jüngsten Partei-Kongreß eine neue, gemäßigte Mehrheit. Die PT bildet auch das Rückgrat der kleinen parlamentarischen Opposition, die etwa 20 Prozent der Abgeordneten umfaßt und der auch die linkspopulistische PDT, die allerdings zahlreiche Abgeordnete verlor, sowie kleinere Linksparteien angehören.

Eine Änderung des Wahlgesetzes dürfte mittelfristig Auswirkungen auf die Parteien haben: Auf Vorschlag einer PT-Abgeordneten sollten für die nächsten Wahlen verpflichtend alle Wahllisten mit mindestens 30% Frauen besetzt werden. Das Parlament stimmte dem Vorschlag grundsätzlich zu, senkte jedoch die Frauenquote auf 20%. Damit ist zwar auch noch nicht garantiert, daß das nächste Parlament einen Frauenanteil von mindestens 20% haben wird, doch verbessert diese Regelung auf jeden Fall die Ausgangssituation für die politische Partizipation von Frauen.


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