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TEILDOKUMENT:
II. Die hohe Relevanz staatlicher Tätigkeit erfordert eine größere politische Aufmerksamkeit Nach dieser eher polemischen Einleitung bleibt darauf hinzuweisen, daß schon einfachste ökonomische und politische Überlegungen deutlich machen: Staatliche Tätigkeit wird in den kommenden Jahren eher wichtiger und noch bedeutsamer. Wir bleiben damit auf Leistungssteigerung und Kompetenzsteigerung des Staates angewiesen. Hierzu einige Beispiele: - Die Umweltrestriktionen werden immer gravierender. Umweltgüter sind Kollektivgüter und müssen durch den Staat gesichert werden. Wir stehen hier erst am Anfang einer riesigen Steuerungsaufgabe, die bisher noch völlig unzureichend bewältigt wurde und die dem Staat eine bisher nicht bekannte Bedeutung in der Detailsteuerung von Verbraucherverhalten und Ressourcenallokation zuschieben wird. - Es ist mittlerweile ein Gemeinplatz, daß aufgrund der veränderten Altersschichtung die Alterssicherungskosten langfristig steigen. Dabei nimmt die Öffentlichkeit viel zu wenig zur Kenntnis, das es nicht nur darum geht, die Rentenberge der Sozialversicherung zu bewältigen. Viel steiler sind die Pensionsberge des Staates. Hinzu kommen die Pensionsberge der privaten Wirtschaft. Die langfristige Explosion dieser Transfersysteme macht staatliche Umverteilung bedeutsamer. - Aus der veränderten Altersschichtung entstehen wachsende Pflegeaufgaben. Die politische Diskussion konzentriert sich gegenwärtig sehr stark auf die Einführung einer Pflegeversicherung und damit auf Finanzierungsfragen. Doch ein soziales Problem wird nicht allein durch ein neues Transfersystem gelöst. Fast noch schwieriger wird eine Antwort auf die Frage, wie der Staat effiziente und gleichzeitig humane "Produktionsstrukturen" sichern kann. Bei dem Gedanken an die X Prozente des Bruttosozialprodukts, die durch Pflegeversicherungen umverteilt werden sollen und das weitgehende Fehlen ausreichender Produktionsstrukturen können einem die ökonomischen Haare zu Berge stehen lassen. Preissteigerungen statt Mengen- und Qualtitätssteigerungen sind angesichts der Nachfrageorientierung der Politik so gut wie sicher. - Der Verkehrssektor als Produktionsfaktor gewinnt an Relevanz. Sinkende Fertigungstiefe, wachsende Arbeitsteilung machen das Transportsystem zu einem immer wichtigeren, verlängerten Teil der Produktionsstätten. Gleichzeitig wird deutlich, daß wir im Straßenverkehr auf eine Dauerkatastrophe zusteuern, weil sich staatliche Regulierung als unfähig erweist, ein komplexer werdendes Gesamtsystem zu organisieren und zu steuern. Der Verkehrssektor wird zu einem Engpaßsektor. Wachsende Staus führen zu wachsenden Zeitverschwendungen, zu Beeinträchtigungen des wirtschaftlichen und privaten Lebens und fressen die Ergebnisse des umweltschonenden technischen Fortschritts immer wieder auf. Auch ein noch so umweltschonendes Auto, das im Stau steht, bleibt eine "Umweltsünde". Gemessen an den Problemen sind die politisch diskutierten Lösungen völlig unbefriedigend. - Die Produktion von technischem Fortschritt wird immer komplexer und arbeitsteiliger. Dabei müssen staatliche Organisationen katalytische Funktionen übernehmen, Risiken senken, Synergien anregen. Die Bedeutung der Staatstätigkeit nimmt in jedem Fall zu. - Durch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten entstand insbesondere auch für den Staatssektor eine Modernisierungs- und Integrationsaufgabe, die in ihren Dimensionen mit dem Wiederaufbau nach dem Kriege zu vergleichen ist. Politisch müssen Umverteilungen bewältigt werden, die jährlich Größenordnungen von 6-8 % des Bruttosozialprodukts erreichen. Diese Umverteilungen dürften gleichzeitig das Wachstum in Westdeutschland beeinträchtigen. Doch ohne kräftiges Wachstum wird die westdeutsche Wirtschaft nicht genügend Direktinvestitionen in Ostdeutschland finanzieren können. Ohne Wachstum, das an Kapazitätsgrenzen führt, fehlt auch der Anreiz, im Osten neue, große Kapazitäten aufzubauen. Angesichts der Schwierigkeiten dieser Aufgabe ist eine neue Partnerschaft zwischen Staat und Wirtschaft erforderlich, weil nur eine solche Partnerschaft entsprechende Ressourcen und Kapital mobilisieren kann. Diese wenigen Hinweise machen deutlich, daß die langfristige Wohlfahrt unserer Gesellschaft, Lebensstandard, Freiheit, Emanzipation, soziale Gerechtigkeit in Zukunft eher noch stärker als in der Vergangenheit im Staatssektor und durch eine effiziente Organisation des Staatssektors entschieden werden. Gemessen an den Dimensionen des Fortschritts und der Wohlfahrt, die dort organisiert und bestimmt werden, sind der Energieaufwand, der Zeitaufwand und die Relevanz, die diesem Thema in der öffentlichen Diskussion, auch in der Diskussion der SPD, zugemessen werden, abenteuerlich niedrig. Schaut man sich die Tagesordnungen von Parteiversammlungen, einschließlich von Parteitagen, an, muß man am Relevanzgefühl einer Partei zweifeln, die gemessen an diesen Wohlfahrtsfragen knappe politische Zeitbudgets häufig mit modischen Ad-hoc-Themen verbraucht. Die wohl knappste Ressource im politischen System ist die Ressource Zeitbudget für öffentliche Themen und politische Entscheidungsprozesse. Zwar steht jede Partei unter dem Druck, auf kurzfristig aufkommende Themen, die hohe Aufmerksamkeit erreichen, rasch zu reagieren. Propagandabilder des Irakkrieges erzielen nun einmal mehr Aufmerksamkeit als trockene Erörterungen über den Abbau von Staatsdefiziten oder langfristige Pflegeprobleme. Schließlich sind auch Personalfragen allemal spannender als Sachfragen. Diese Strukturelemente der öffentlichen Diskussion muß man als gegeben hinnehmen. Dennoch muß es auch unter den gegebenen Bedingungen öffentlicher Debatten gelingen, komplexe Strukturfragen wie die Modernisierung des Staates systematisch und dauerhaft anzugehen und nicht einfach zu verdrängen, mit der Folge, daß dann in unregelmäßigen Abständen Antibürokratiewellen oder Empörungen über die angebliche Staatsverschwendung zu langfristig unwirksamen Ad-hoc-Reaktionen führen, die jeweils nur Emotionen befriedigen, aber kaum Probleme lösen. Neben diesen abstrakten Hinweisen auf die Relevanz einer Strategie der Modernisierung staatlichen Handels sollte auch die Erfahrung zu denken geben, daß Gesellschaften bzw. Volkswirtschaften, die sich in den letzten 20, 30 Jahren als besonders erfolgreich erwiesen haben, wenn es darum ging, wirtschaftliche oder auch soziale Probleme zu lösen, nicht nur dadurch charakterisiert sind, daß ihre Märkte besonders gut funktionierten. Länder wie die Bundesrepublik, wie Japan, oder auch Schweden, waren in der Vergangenheit auch dadurch charakterisiert, daß die Symbiose zwischen staatlichem Handeln und privatem Wirtschaften besser klappte als in anderen Ländern. Das relative Zurückfallen der USA - dem nach dem Kriege mit Abstand reichsten Land der westlichen Welt - geht weitgehend zurück auf ein vielfältiges Staats- und Politikversagen und eine unzureichende Staatstätigkeit als Grundlage der wirtschaftlichen Entwicklung, u. a. auf ein unzureichendes Bildungssystem, auf unzureichende Infrastruktur und auf konfliktträchtige Ungleichheiten. Auch das langanhaltende Staatsdefizit und das Phänomen eines Konsens über Probleme ohne einen Konsens über deren Lösungen sind Zeichen einer unproduktiver gewordenen Beziehung zwischen Staat und Wirtschaft und Zeichen einer neuen Form von Staats- oder Politikversagen. Die Schwierigkeiten Großbritanniens in der Wirtschaftsentwicklung waren überwiegend Folge eines schlecht organisierten, politisch falsch gesteuerten Staatssektors, der nicht die notwendigen Umfeldbedingungen für die Entwicklung der Wirtschaft schaffen konnte. In Großbritannien hat sich als besonders problematisch erwiesen, daß es über Jahrzehnte nicht gelang, bestimmte strukturelle Konflikte zu bewältigen. Dies führte immer wieder dazu, daß eine Labourregierung bestimmte Reformen oder Strategien durchsetzte (Verstaatlichung von Industrien, Bodenrechtsreformen, arbeitsmarktpolitische Reformen ...). Die nächste konservative Regierung war dann jeweils längere Zeit beschäftigt, diese Maßnahmen wieder "zurückzudrehen", mit der Folge, daß die nächste Labourregierung eine neue Runde entgegengesetzter Reformen startete. Neben dem "stop and go" in der Konjunkturpolitik haben diese Pendelschläge zwischen Rechts und Links einen leider nicht klar abzuschätzenden Schaden hervorgerufen. Fehlender Konsens und fehlende Stabilität in den Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft waren einige der Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der wirtschaftlichen Instabilität Großbritanniens. Man kann die lange konservative Regierungszeit und den langfristigen Rückgang der Labour-Stimmen auch als Sorge vor einem Rückfall in die alte Pendelpolitik interpretieren. Auch in Zukunft wird gelten: Die Entwicklung von polit-ökonomischen System wird immer stärker durch erfolgreiche Synergien zwischen staatlichen und privatwirtschaftlichem Handeln, durch erfolgreiche Kooperation und nicht durch laissez-faire marktwirtschaftlich autonomer Bereiche entstehen. Insofern signalisiert der Niedergang des bürokratischen Sozialismus, der diese Kooperation überhaupt nicht erst zulassen wollte, etwas Falsches. Wichtiger für uns ist, daß der Versuch, ein Erhard-Wirtschaftswunder Nr. 2 im Osten durch bloße Deregulierungen zu schaffen, gescheitert ist. Dies läßt sich letzten Endes daraus erklären, daß dem staatlichen Apparat im Westen keine Entwicklungsstrategie für den Osten einfiel und weil die Rolle des Staates in ihrer Relevanz für die wirtschaftliche Entwicklung völlig unterschätzt wurde und wird. Am Beispiel des Versagens bei der Umstrukturierung des Wirtschaftssystems im Osten wird deutlich, wie erschrekkend wenig die Relevanz des Staates als Entwicklungsmotor zur Kenntnis genommen wurde. |
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