FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[MANAGERKREIS DER FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG]
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




    Page Top

    III. Einen nachhaltigen Aufholprozeß in Ostdeutschland organisieren



    Page Top

    1. Situation

    In der Einschätzung der Situation in Ostdeutschland herrscht weitgehende Einigkeit. Über die Hälfte der Beschäftigten in Ostdeutschland sind bereits in neu gegründeten Unternehmen tätig. Die sogenannte Produktivitätslücke, der Vergleich der Lohnstückkosten West- zu Ostdeutschlands, halbierte sich von über 50 Prozent im Jahr 1991 auf 26 Prozent in 1994, um sich in den folgenden zwei Jahren langsam auf 22,9 Prozent zu vermindern. Es hat sich viel verändert.

    Trotzdem können nicht einmal zwei Drittel der Nachfrage in den Neuen Ländern durch die eigene Wirtschaftsleistung gedeckt werden. Zwar haben sich die Löhne und Gehälter dem westlichen Standard angenähert, aber das wurde und wird mit massiven Subventionen erkauft. Während der Arbeitsmarkt noch mit den Folgen des Strukturwandels zu kämpfen hat, ist ein zweiter Strukturbruch bereits im Gange. Die Bauinvestitionen als Konjunkturlokomotive wurden massiv subventioniert. Im Jahresmittel 1996 waren 17,5 Prozent der Beschäftigten im Baugewerbe tätig (7,8 Prozent in Westdeutschland). Diese Quote kann nicht weiter durchgehalten werden. Das Ausbleiben der veranlagten Einkommensteuer ist Folge der hohen Verluste aus Vermietung, die durch den Bauboom in West und Ost, bei hohen Sonderabschreibungen, entstanden sind. Die subventionsgetriebene Baukonjunktur schlägt in eine Baurezession um. Etwa 450.000 Arbeitsplätze dürften verlorengehen.

    Page Top

    2. Das Arbeitsplatzdefizit in Ostdeutschland

    Wachsen wird auch in Ostdeutschland der Dienstleistungsbereich, allerdings nur noch langsam. Für die Jahre 1997 bis 2000 kann bestenfalls mit 200.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen gerechnet werden. Unter Berücksichtigung der 2 Millionen Arbeitslosen, Maßnahmenteilnehmer und Pendler, liegt das zu erwartende Arbeitsplatzdefizit bei 2,6 Millionen Arbeitsplätzen (vgl. Tabelle 5).

    Tabelle 5:
    Das Arbeitsplatzdefizit in Ostdeutschland

    Undisplayed Graphic

    Das große Defizit besteht in der Industrie (unter Einschluß technisch-wirtschaftlicher Dienstleistungen). Hier liegt nach wie vor die wichtigste Entwicklungsaufgabe. Die bisherigen Bemühungen konzentrieren sich im Übergewicht darauf, aus dem endogenen Potential der Neuen Länder selbst neue Arbeitsplätze entstehen zu lassen. Weniger konzentriert waren die Bemühungen, durch Direktinvestitionen ausländischer Herkunft eine breitere industrielle Basis zu schaffen.

    Page Top

    3. Die Kapitalbasis verbreitern, Venture Capital bereitstellen, Technologie fördern



    3.1. Endogene Kräfte stärken

    Ostdeutsche Unternehmen, insbesondere Neugründungen, leiden häufig unter einer Eigenkapitalschwäche, die zumindest das Wachstum behindert, oft aber auch zur Überschuldung führt. Die deutsche Finanzierungs- und Bankenkultur muß ergänzt werden durch eine Venture Capital-Kultur. Diese wird nur entstehen, falls die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen, und wenn es für Anleger interessant ist, in Venture Capital zu investieren, weil hohen Risiken entsprechend hohe Chancen gegenüberstehen.

    Die Wachstumsfinanzierung junger Unternehmen kann nicht nur auf staatlichen Förderprogrammen aufbauen, so wichtig diese sind. Entscheidend ist die Entwicklung einer neuen Finanzierungskultur auf privatwirtschaftlicher Basis, die professionell Risiken und Chancen junger Unternehmen beurteilen kann. Das ist besonders schwierig, wenn zunächst einmal ein marktfähiges Produkt entwickelt werden muß.

    Junge Unternehmen tun sich besonders schwer, eine Entwicklung bis zum marktfähigen Produkt aus eigener Kraft zu finanzieren oder das dafür notwendige Seed Capital einzuwerben. Genau an diesem Punkt setzte das Programm zur Förderung technologieorientierter Unternehmen (TOU) an. Dessen Wiederbelebung wäre ein wichtiger Baustein in der Finanzierung bis zu einem marktfähigen Produkt.

    Die reine Marktfähigkeit eines Produktes ist zwar notwendig aber nicht hinreichend für einen Erfolg. Design und Markenbildung sind ähnlich wichtige Instrumente. Durch konsequente Förderung von Design-Know-how könnten Marktvorsprünge geschaffen werden. Die öffentliche Hand als Auftraggeber könnte durch eine verstärkte Nachfrage bei jungen Unternehmen diesen den Marktzugang erleichtern. Wie in den USA mit dem Small Business Act könnte auch in Deutschland eine entsprechende Beschaffungsrichtlinie erlassen werden – ein immer noch von der öffentlichen Förderung vernachlässigtes Gebiet.

    Trotz dieser Möglichkeiten zu Verbesserungen in der Förderung des endogenen Potentials, die zusätzlich zu den alles in allem bewährten Instrumenten erfolgen muß, sollte dieses Potential nicht überschätzt werden. In Sachsen sind bei Gründungen in High-tech-Branchen des verarbeitenden Gewerbes in den vier Boom Jahren 1991 bis 1994 rund 6.000 neue Arbeitsplätze entstanden. An einer Förderung des exogenen Potentials führt kein Weg vorbei.

    3.2. Exogenes Potential mobilisieren

    Förderung der exogenen Entwicklung bedeutet eine offensive Ansiedlungspolitik von Unternehmen und Unternehmensteilen in Ostdeutschland. Fallbeispiele anderer Regionen wie Irland, Wales, Newcastle oder Schottland zeigen, welche Bedeutung solche externen Investitionsquellen erreichen können. Bei der verstärkten Ansiedlung von Betrieben sowie Betriebsteilen sind die Produktionskosten ein wesentliches Argument. Mit den hohen Infrastrukturinvestitionen haben sich die Voraussetzungen verbessert. Im Verkehrswesen sind die noch vorhandenen Lücken zu schließen.

    Einen wesentlichen Beitrag kann der gezielte Aufbau von ‘Technopolen’ leisten, die an vorhandenes Know-how anknüpfen, aber durch eine Kombination von Forschung, Aus- und Weiterbildung, Finanzierung junger Unternehmen und Ansiedlung von Großunternehmen eine ‘kritische Masse’ erreichen. Die Anziehungskraft eines Technopols, also die Häufung von forschungsintensiven Unternehmen und Forschungseinrichtungen einer bestimmten Forschungs- oder Anwendungsrichtung, wie beispielsweise das berühmte Silicon Valley, ist eine Funktion seiner Größe. Je größer ein Technopol ist, z.B. gemessen in der Anzahl der „kreativen Köpfe", desto größer ist seine Ausstrahlung auf andere. Damit ein neues Technopol aber eine Eigendynamik entwickelt, muß es eine bestimmte kritische Masse überschreiten. Die Größe dieser kritischen Masse ist dabei keine Konstante, sondern verändert sich ständig und läßt sich auch nicht genau bestimmen. Zu schnell ändert sich z.B. die Größe und das Wachstum des Marktes, des Anwendungsbereiches. Die Zusammensetzung der anfänglich kritischen Masse, werden erfolgreiche Technopole als Fallbeispiel herangezogen, war stets eine Symbiose aus öffentlich geförderter und von Unternehmen finanzierter Forschung. An dieser Stelle hat die staatliche Technopol-Förderung einen Ansatzpunkt. Durch die Konzentration von Forschungseinrichtungen auf einzelne Standorte kann die Entstehung einzelner Technopole ermöglicht werden.

    Das wichtigste Argument jedoch ist das verfügbare Ausbildungsniveau im Verhältnis zu den dafür zu zahlenden Löhne. Beides spricht grundsätzlich für Ostdeutschland. Das Ausbildungsniveau ist hoch. Mit Ausnahme von vereinzelten Stimmen wird ein Facharbeitermangel auch nicht als Hemmnis gesehen. Das durchschnittliche Bruttoeinkommen je Beschäftigten ist im Vergleich zu Westdeutschland auch bis heute deutlich niedriger – 1996 waren es 68 Prozent.

    Das heute in der ostdeutschen Praxis zu beobachtende Lohnsystem unterscheidet sich stark vom westdeutschen. Tarifverträge legen Löhne fest, die in Kombination mit den Lohnnebenkosten für viele bestehende Unternehmen nicht tragbar sind. Die Lohnpeitsche als Instrument der Produktivitätssteigerung wirkt in einem erschreckenden Ausmaß. Diese Erkenntnis hat sich zumindest auf betrieblicher Ebene bereits durchgesetzt. Als Folge lösen sich immer mehr Unternehmen, auch mit Zustimmung der Belegschaft, von den Tarifverträgen und schließen Haustarifverträge oder Betriebsvereinbarungen mit niedrigeren Löhnen und Zusatzleistungen ab.

    Abbildung 4:
    Produktiviät, Einkommen und Lohnstückkosten
    im verarbeitenden Gewerbe Ostdeutschlands (1991-1996)

    Undisplayed Graphic

    Trotzdem fangen Lohnverhandlungen in Ostdeutschland bei den tariflich vereinbarten Löhnen an. Für neue, hochproduktive Unternehmen bedeutet dies, daß sie ein Lohngefälle zu Westdeutschland nicht ausnützen können. Siedelt sich ein neues hochproduktives Unternehmen in Ostdeutschland an, muß es gleich Tariflöhne, zahlen. Entsprechend kommt der im Durchschnitt vorhandene Standortvorteil der niedrigeren Löhne nicht – oder nur wenig – zum tragen. Durch die weiterhin beschworene rasche Lohnangleichung, ist die zur Zeit noch bestehenden Lohndifferenz in den Tarifverträgen kein großer Vorteil mehr. Bei der Standortentscheidung sind die Lohnanpassungspfade keine Fiktion, sondern Realität. Ein wichtiger Standortvorteil für externe Investoren wird verschenkt.

    Welche politische Konsequenz ist daraus zu ziehen? Neue und damit heute zwangsläufig hochproduktive Unternehmen sollten das nominale Lohngefälle ausnützen können. Zur Beeinflussung der Standortwahl sollten die niedrigeren Löhne als ein zentrales Argument genutzt werden können. Für die Politik bedeutet dies einen Paradigmenwechsel: Weg von der raschen Lohnangleichung, hin zur höheren Beschäftigung.

    Als einfache Faustformel schlagen wir vor:

    • Die Lohnverhandlungen für neue Unternehmen sollten nicht automatisch bei den hohen Tariflöhnen anfangen, sondern bei den effektiv bezahlten durchschnittlichen Löhnen.

    • Die durchschnittlichen Löhne steigen stets geringer als die Produktivität bis die Produktivitätslücke zu Westdeutschland abgebaut ist. Wenn die ostdeutsche Produktivität beispielsweise 80 Prozent der westdeutschen erreicht hat, sollten die Löhne auch 80 Prozent betragen. Derzeit liegen die Löhne bei 68 Prozent und die Produktivität bei 58 Prozent.

    Page Top

    4. Flankierende Maßnahmen: Kaufkraft und Vermögensbildung stärken



    4.1. Erhöhung der Akzeptanz einer Strategie der Lohndifferenzierung

    Soll versucht werden, die Attraktivität Ostdeutschlands für Direktinvestitionen durch ein im Vergleich zum Westen niedrigeres Lohnniveau zu erhöhen, dann müssen ergänzende Maßnahmen ergriffen werden, um eine solche Strategie oder Entwicklung akzeptabel zu machen. Einmal geht es um Aufklärung für einen ökonomischen Realismus, der anerkennt, daß noch keine Region in der westlichen Welt, die bei einem niedrigen Produktivitätsniveau und hoher Arbeitslosigkeit startete, ohne den Lohnvorteil ein Aufholwachstum hätte organisieren können. Dies gilt für den Bayerischen Wald der sechziger Jahre genauso, wie für Bayern insgesamt. Nominallohndifferenzen sind nicht gleich Reallohndifferenzen, weil örtliche Dienstleistungen (Restaurants, Freizeiteinrichtungen, Gesundheitsleistungen, lokale Lebensmittel, lokale Kulturangebote usw.) aufgrund niedriger Nominaleinkommen deutlich preiswerter sein können, als in Hochlohnregionen. Ganz besonders wird dieser Preisvorteil sich im Wohnungssektor auswirken. So gibt es ganz erhebliche Unterschiede bei den Preisen für Wohneigentum zwischen Ost- und Westdeutschland. Schon jetzt kann man feststellen, daß Wohneigentum in den Stadtregionen Ostdeutschlands fast um die Hälfte preiswerter angeboten wird als in Westdeutschland.

    Die Politik sollte in enger Kooperation mit den Tarifparteien zugunsten ostdeutscher Arbeitnehmer eine breit angelegte Vermögensbildungsstrategie starten. Investivlöhne, die den Erwerb von Unternehmensanteilen begünstigen, könnten durch eine steuerfreie Kapitalzulage gefördert werden, um auf diese Weise die Vermögensbildung zu beschleunigen und die Akzeptanz bei den Betroffenen zu erhöhen.

    4.2. Ergänzende Maßnahmen

    Eine Strategie der Attraktivitätssteigerung ostdeutscher Standorte für Direktinvestitionen braucht eine institutionelle Komponente. Die bestehende Zersplitterung der unterschiedlichen Förderungsorganisationen in den einzelnen Ländern verhindert eine volle Wirksamkeit der Akquisitionsbemühungen. Es liegt auf der Hand, daß die Länder untereinander, wenn es um die Ansiedlung von externen Unternehmen geht, Konkurrenten sind. Unabhängig davon bestehen jedoch gemeinsame Interessen, weil die Attraktivität Ostdeutschlands nur durch eine gemeinsame Parallelstrategie und durch integrierte Bemühungen ausreichend gefördert werden kann. Die Bundesregierung könnte einen gewissen Kooperationszwang durch finanzielle Unterstützung herbeiführen. Im Ergebnis sollte es möglich sein, analog zur ‘Locate in Scotland’-Agentur (Lisc.) eine ‘Locate in East Germany’-Agentur (LEG) mit hochrangiger Besetzung aufzubauen. Sie hätte gegenüber den Landesförderungsorganisationen eine Koordinierungsaufgabe und würde nach außen als Akquisiteur auftreten. Im Detail sind hier schwierige Zuständigkeitsfragen und Kooperationsfragen zu klären. Bei gutem Willen ist eine Lösung jedoch möglich.

    Im Rahmen der unterschiedlichen Förderbemühungen könnte die Verstärkung der Ansiedlungsbemühungen durch Unternehmen von außen, eine Konzentration bestehender Technologieförderungen auf wenige Standorte (Technopol-Strategie) und die Erhöhung der Attraktivität des Standorts durch weiterbestehende Nominallohndifferenzen, eine dringend erforderliche Wende einleiten. Der Erfolg ist allerdings nicht garantiert. Alle regionalen Entwicklungsstrategien, die mit ähnlichen Strukturbrüchen zu kämpfen hatten, benötigten Zeit. Nirgendwo ist es gelungen, in den Übergangsphasen die Abwanderung völlig zu stoppen. Das wird auch für Ostdeutschland gelten. Dennoch kann man sich mit dem bisher Erreichten nicht zufrieden geben. Die eingetretenen Veränderungen zeigen, daß Fortschritte möglich sind. Die eingetretenen Veränderungen waren jedoch nicht ausreichend. Sollen Lähmung und Pessimismus überwunden werden, dann ist ein neuer Anlauf notwendig, wobei die wichtigste Grundlage für den Erfolg die nüchterne Einsicht in die eigenen ökonomischen Stärken und Schwächen und die noch zu lösenden Aufgaben bleibt.


©Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1998

Previous Page TOC Next Page