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TEILDOKUMENT:




V. WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG UND SOZIALE SICHERUNGSSYSTEME



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1. Das System der sozialen Sicherheit -kritische Anmerkungen

Der Sozialstaat ist als Folge seiner vor allem quantitativen Expansion an innere und externe Grenzen gestoßen. Die externen Grenzen ergeben sich aus der Leistungsfähigkeit der künftigen Wirtschaft bei steigender Quote älterer Menschen und rasch wachsenden Transfers. Die inneren Grenzen ergeben sich aus der Erfahrung, daß die von der "arbeitsgesellschaftlichen Utopie zehrende Sozialstaatsprogrammatik die Kraft verliert, künftige Möglichkeiten eines kollektiv besseren und weniger gefährdeten Lebens zu erschließen" (Habermas). Immer deutlicher wird, daß die Sozialstaatsleistungen nur dann voll befriedigend wirken, wenn die Menschen eingebettet leben in Familien und unterstützenden Nachbarschaften.

Wirtschaftlich betrachtet sind die Sozialausgaben aus der Sicht der einzelnen Unternehmen Belastungen, die Kosten treiben und Gewinne reduzieren. Diese Position übersieht, daß die Sozialabgaben weitgehend auf die Arbeitnehmer zurückgewälzt werden. Hohe Abgabenlasten reduzieren entweder die Zahl der Arbeitsplätze, weil nur die besonders leistungsfähigen Arbeitsplätze im Wettbewerb "überleben", oder es kommt zu einer Senkung der Nettolöhne, die so weit geht, daß beim jeweiligen Arbeitsangebot ein Ausgleich zwischen Bruttolohnkosten und Produktivität herbeigeführt wird.

Aus der Sicht der Arbeitnehmer verringern Sozialabgaben die verfügbaren Einkommen. Als Gegenleistungen werden Anwartschaftsrechte im Rentensystem und Ansprüche an die Krankenkasse erworben. Für die Erwerbstätigen, die heute ins Berufsleben eintreten, muß jedoch völlig offen bleiben, wie rentabel ihre Zwangsbeiträge sind. Mit hoher Wahrscheinlichkeit führt die verschlechterte Altersschichtung zu ständig steigenden Abgaben. Am Ende werden die jetzigen Erwerbstätigen dennoch vor Renten- und Anspruchskürzungen stehen. Für sie wird das Beitragssystem immer unattraktiver. Es scheint sicher, daß Anreize für wirtschaftliche Leistungen und für Risikofreude aus diesem System nicht zu gewinnen sind.

Der Sozialstaat, wie wir ihn heute kennen, ist weitgehend das Ergebnis der Wirtschaftswunderjahre nach dem Krieg. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurde 1969 als Folge des kräftigen Konjunkturaufschwunges während der Zeit der großen Koalitionen als ein "letzter Eckstein" beschlossen. Als große Ausweitungsthemen kamen in den 80er Jahren die Erziehungszeiten für Mütter, in den 90er Jahren die Pflegeversicherung hinzu. Immer deutlicher wurde in dieser Phase, daß ein Umlagesystem in der Rentenversicherung bei sich stark verschiebender Altersschichtung langfristig gravierende Probleme hervorruft. Die jeweilige Erwerbstätigengeneration finanziert durch ihre Rentenbeiträge den Lebensunterhalt der Älteren. Gleichzeitig werden durch die Ausgaben zugunsten der Kinder die Grundlagen für die eigenen Renten gelegt. Diese Logik gilt jedoch nur für die Gesellschaft insgesamt. Für die einzelnen Paare haben Kinder bisher überwiegend negative Auswirkungen auf ihr Rentenniveau. Daher müßte man bei fairer Berücksichtigung der Kinderlasten zumindest Teile dieser Aufwendungen wie Beiträge zur Rentenversicherung einstufen. Eine solche Logik hat jedoch keine Chance der politischen Realisierung. Die ökonomische Basis des Rentensystems bleibt zutiefst irrational. Wer Eltern in der Vermögensbildung, Einkommenserzielung und beim Erwerb von Rentenrechten massiv benachteiligt, verschlechtert automatisch die ökonomische Basis des Sozialstaats.

Zwar sind die Gründe für den seit einem Vierteljahrhundert anhaltenden Geburtenrückgang komplex. Neben persönlichen Wertungen spielten jedoch die wirtschaftliche Krise der Familie, die hohen Zeit- und Geldkosten für Kinder, die mit verlängerten Ausbildungszeiten generell gestiegen sind, und die wachsende Zeitknappheit eine zentrale Rolle. Das Rentensystem macht Kinder gleichsam zu Konsumgütern. Die Sozialstaat leistet sich eine tiefe Rationalitätslücke.

Der Staat, dem gemeinhin nachgesagt wird, daß er als "ewige" Institution besonders geeignet sei, langfristige Vorsorge zu organisieren, hat sich gerade in der Sozialpolitik als sehr kurzfristig denkend erwiesen. Die wirtschaftliche Situation der Familie und die Position der Mütter im Sozialsystem wurde ständig verschlechtert. Die individuelle Vorsorgeneigung wurde zu wenig gestützt. In Gestalt laufender Umlagen wird die kurzfristigere Finanzierung, die überhaupt denkbar ist, praktiziert. Bis heute gibt es kein staatliches Rechnungssystem, das neben Staatsschuld und Staatspensionen, die Rentenansprüche sowie die Kosten der Pflege- und Krankenversicherung als Vorwegverteilung künftigen Bruttosozialprodukts zusammen erfaßt, um Grundlagen Für eine rationale Debatte zu erhalten.

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2. Sind die Renten sicher?

Die Frage "Sind die Renten sicher?" kann nicht einfach mit Rechentechniken oder mit dem Hinweis auf die juristische Verpflichtung zur Aufbringung der Renten beantwortet werden. Die konstante Frage lautet, ob eine Wirtschaft, in der die Transferquoten als Prozentsatz des Bruttosozialprodukts ständig steigen und zusammen mit den Steuern weit über 50 % der Einkommen erreichen werden, im internationalen Wettbewerb hinreichend attraktiv bleibt. Es gehört zu den Standardargumenten der Sozialpolitiker, daß die Quote der alten Menschen allein nicht über die Abgabelasten resp. die Rentenhöhe entscheidet, weil künftige Produktivitätssteigerungen oder z. B. eine veränderte Frauenerwerbsquote genauso wichtig seien. Aussagen dieser Art sind logisch richtig, jedoch empirisch leer, weil sie nicht beantworten, wie Innovationsfähigkeit oder die Erneuerung des Wissens durch den Prozeß der Alterung beeinflußt werden, wie sich internationale Mobilität des Kapitals durch steigende Abgabenquoten verändert und wie sich die Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu Ländern mit einem günstigeren Altersaufbau entwickelt.

Aus der Entwicklung der jüngsten Vergangenheit muß man die Erfahrung mitnehmen, daß ein zusätzlicher Transfer in Höhe von 5% bis 6% des Bruttoinlandprodukts zugunsten Ostdeutschlands ganz erhebliche Wirtschaftsprobleme hervorgerufen hat. Aufgrund der Alterung der Erwerbstätigen und der Bevölkerung werden allein die Staatspensionen langfristig zusätzlich 5% bis 6% des Bruttoinlandsprodukts benötigen. Es gibt bisher keine Bilanz der Vorbelastungen, in der Staatspension, Renten, Gesundheits- und Pflegekosten, Lebensversicherungen und Betriebspensionen zusammengefaßt sind. Bei solchen Rechnungen ist u. a. zu berücksichtigen, daß die steigenden Abgaben alle Dienstleistungen verteuern, mit der Folge, daß die Kosten für Pflege und Gesundheit allein deshalb - ganz abgesehen von Verknappungstendenzen am Arbeitsmarkt -ständig zunehmen werden. Es entsteht ein makabrer Zirkel: Hohe Abgaben verteuern die Dienstleistungen und erfordern höhere Einkommensteile bzw. Anteile des Bruttosozialprodukts für Gesundheit und Pflege. Dies wiederum erzwingt höhere Abgaben mit den bekannten Folgen.

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3. Wettbewerbsfähigkeit und Alterung

Einfache Plausibilitätsüberlegungen zeigen: Es ist völlig offen, wie sich künftig die relative Attraktivität der Länder mit einem hohen Anteil "neu ausgebildeter Erwerbstätiger" im Vergleich zu den europäischen Ländern mit im Durchschnitt "alten Erwerbstätigen" gestaltet. Kapital wird immer mobiler und entscheidet damit auch über die künftige wirtschaftliche Basis des Rentensystems. Es wäre unsozial, hohe Rentenansprüche aufrechtzuerhalten, obwohl Erwerbstätige während ihres Erwerbslebens als Reaktion auf hohe Abgaben z. B. darauf verzichten, hohe Vermögen anzusammeln und ihre Sparquote senken mit dem Ergebnis, daß die Renten dann später gekürzt werden müssen, weil sie real nicht mehr erwirtschaftbar sind. Die Frage nach der Sicherheit der Renten ist eine Frage nach der Leistungsfähigkeit des wirtschaftlichen Systems bei steigendem Durchschnittsalter und nach der Bereitschaft der jeweiligen Erwerbstätigengeneration, ggf. auch Einkommensminderungen hinzunehmen, um die sozialen Sicherungssysteme aufrechtzuerhalten.

Die Sozialpolitiker aller Parteien verweigern sich der Diskussion darüber, inwieweit hohe Transferlasten bei gleichzeitiger Alterung negative Rückwirkungen auf die künftigen Produktivitätssteigerungen haben werden. Angesichts der Komplexität der Wirkungen lassen sich jeweils nur Hypothesen über die Richtung angeben:

- Sinkende Erwerbstätigenzahlen bei gleichzeitiger Alterung reduzieren den Anteil jüngerer, neu ausgebildeter Personen. Die Diffusion neuer Techniken wird erschwert.

- Hohe Abgabelasten reduzieren Sparanreize und schränken die Leistungsbereitschaft ein. Die Alterung führt per se zu einer Senkung der Sparquote. Die Risiken struktureller Arbeitslosigkeit steigen.

- Bei schrumpfender Zahl von Erwerbstätigen gehen die Bruttoinvestitionen zurück. Die Erneuerung des Kapitalstocks verlangsamt sich.

- Die regionale und sektorale Mobilität reduziert sich

- Der hohe Bedarf nach Gesundheits- und Pflegeleistungen wird die relativen Preise in diesen Bereichen steigern und die Abgabelasten noch schneller erhöhen als gegenwärtig vorausgeschätzt wird.

- Der Hinweis auf "sinkende" Jugendkosten, insbesondere im Ausbildungssektor, signalisiert erschreckende ökonomische Unkenntnis: Weniger Ausbildung bedeutet weniger Investitionen in Humankapital und damit eher sinkende Wettbewerbsfähigkeit.

- Die Sparquoten älterer Menschen sind niedriger als die der Personen jüngeren und mittleren Alters. Die Finanzierung eines hohen arbeitssparenden technischen Fortschritts wird erschwert.

Die Aufzählung zeigt, daß die Risiken einer verringerten Wettbewerbsfähigkeit erheblicher sind als die möglichen Entlastungen. Alterung fordert entweder eine drastisch steigende Lern- und Innovationsbereitschaft bei älteren Erwerbstätigen oder eine ständige Zuwanderung jüngerer hochqualifizierter Erwerbstätiger oder Studenten, um die Lücken am Arbeitsmarkt zu schließen.

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4. Umbau des Systems der sozialen Sicherheit

Gemessen an diesen Risiken und der Steigerung der Transferquoten, ist das Ausmaß der Verdrängung der problematischen Konsequenzen erschreckend. Es fehlt an ausreichender Transparenz, denn es ist nicht genug, die Entwicklung der Renten, der Gesundheits- und Pflegekosten in Abhängigkeit von der künftigen Alterung darzustellen. Noch immer wird zu wenig zur Kenntnis genommen, daß die Pensionsberge deutlich steigen. Gleichzeitig verschieben sich die relativen Preise zu Lasten von Dienstleistungen zugunsten älterer Menschen. Besonders eklatant ist dies bei der Steigerung der Pensionskosten des Staates, die nach Modellrechnungen von gut 10 % auf etwa 16 % anwachsen werden. Angesichts solcher Verschiebungen, die allein bei den Staatspensionen entstehen, wird es immer dringlicher, daß in einer transparenten Buchhaltung alle künftigen Vorbelastungen, d. h. Vorwegverteilungen des dann erwirtschafteten Bruttosozialprodukts, aufgelistet werden. Hierzu wären neben dem Schuldendienst staatliche Pensionen, Renten, Krankenkassen und sonstige vorab verteilte Quoten des Bruttosozialprodukts zusammenzufassen. Bisher wird das Ausmaß dieser Umschichtung verdrängt, das noch größer wird, wenn man z. B. die künftigen Ökokosten hinzurechnet. Die Bereitschaft, sich auf diese Veränderungen vorzubereiten, ist viel zu gering. Die geringe Transparenz und die fehlende Information für eine rationale Debatte können eine Ursache sein. Angesichts nur langfristig wirkender Veränderungen ist ohne Verzögerung eine umfassende Überprüfung und Optimierung des Systems der sozialen Sicherung notwendig. Dabei müssen in Erwägung gezogen werden:

- eine Besteuerung der Renten,

- eine Erhöhung der Einnahmen der Sozialversicherung über den akuten Bedarf hinaus, um zumindest teilweise ein Kapitaldeckungssystem zu etablieren,

- die Stärkung der individuellen Altersvorsorge, insbesondere durch private Vermögensbildung [ (1) Nach den Daten der EVS verfügten Haushalte mit Grundvermögen in Baden - Württemberg 1993 über rund 580.000 DM an Gesamtvermögen. Langfristig werden etwa zwei Drittel aller Haushalte Grundvermögensinhaber sein. Dies macht deutlich, in welchem Ausmaß auch private Vermögensbestände zur Alterssicherung ein gesetzt werden können und in welchem Umfang private Vermögensbildung zu einer verbesserten Alterssicherung genutzt werden kann.]

- die Bildung staatlicher Rücklagen für die Beamtenpensionen,

- eine rationale Strategie der Einwanderung, um die Lücken am Arbeitsmarkt zu schließen,

- der Abbau der Privilegien kinderloser Erwerbstätiger im Rentensystem und bei öffentlichen Abgaben,

- hohe Anreize für eine hohe Vermögensbildung, insbesondere Bildung von hohen Auslandsvermögen zugunsten breiter Schichten der Bevölkerung.

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5. Sozialstaat und Einwanderung

Die Anpassungshärten einer langfristigen Alterung für den einzelnen, aber auch für den Staatssektor, insbesondere die Transferleistungen, könnten verringert werden, wenn eine arbeitsmarktorientierte Einwanderung organisiert wird, insbesondere auch eine Einwanderung von jüngeren Menschen, die bereit und in der Lage sind, hochwertige Ausbildungen zu absolvieren. Eine solche Einwanderung wird wirtschaftlich und sozial nur erfolgreich sein, wenn den Einwanderern Aufstiegs- und Entfaltungschancen und politische Partizipation ermöglicht werden. Der latente Rassismus, der darauf abzielt, Ausländer auf Dauer ohne politische Rechte als Dienstleistungsunterschicht zu erhalten, wird zu sozialen Spannungen führen und den Sozialstaat mehr belasten als entlasten. Eine solche Einwanderung widerspricht den langfristigen Interessen der deutschen Bevölkerung. Wirtschaftliche Entwicklung und Sicherung des Sozialstaates erfordern sehr rasch die Formulierung und Durchsetzung einer rationalen Einwanderungspolitik. Es gilt die Wirkungskette:

- ohne erleichterte Einbürgerung,

- ohne Wahlrecht und politische Repräsentation,

- keine erfolgreiche wirtschaftliche Integration,

- ohne erfolgreiche wirtschaftliche Integration keine befriedigende Wettbewerbsfähigkeit.

Dieser Negativzirkel muß im Interesse einer befriedigenden Wirtschaftsentwicklung in Zukunft unterbrochen werden.


©Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 1999

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