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Prof. Dr. Ingomar Hauchler

Sprecher der Arbeitsgruppe Wirtschaftliche Zusammenarbeit der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag

Politische Verantwortung für die Eine Welt

Es ist mehr und mehr die Rede von der Einen Welt. Ich frage: Gibt es diese Eine Welt tatsächlich? Wenn ja: Was folgt daraus für die Ordnung dieser Einen Welt? Und: Inwieweit kann der westliche Typ sozio-ökonomischer Entwicklung auf die ganze Welt übertragen werden?

Mit drei Thesen will ich versuchen, auf diese Fragen eine Antwort zu geben.

These 1

Die Tendenz zur räumlichen Erweiterung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen ist so alt wie die menschliche Geschichte. Sie ist immer wieder unterbrochen worden. Gleichwohl hat sich die Welt immer weiter vernetzt.

Spätestens während der letzten Generation ist der Schritt zu der Einen Welt jedoch unumkehrbar geworden. Kein Land kann sich mehr abschotten, keine Region mehr selbstgenügsam isolieren. Die Verhältnisse und Entwicklungen in allen Teilen der Welt sind durch immer komplexere Wechselwirkungen verknüpft. Die Quantität, Reichweite und Komplexität der globalen Interdependenzen haben sich derart erhöht, daß von einer neuen Qualität der internationalen Beziehungen gesprochen werden kann.

Einem qualitativen Sprung in ein unumkehrbar vernetztes System einer Welt liegt zum einen die dritte technologische Revolution der modernen Industriegesellschaft zugrunde. Nach der Mechanik vor 200 und der Energie vor 100 Jahren revolutioniert nun seit einer Generation die Informatik das Leben, die Produktion und die Beziehungen zwischen Menschen, Ländern und

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Kontinenten. Ökonomische und politische Interessen, soziale und kulturelle Bedürfnisse nutzen die weltumspannenden Systeme materieller und immaterieller Kommunikation in immer vielfältigerem Austausch. Sie überspringen im Zeitalter der Satelliten ungehindert jede Grenze.

Aber nicht nur aufgrund ihrer Kommunikationsleistung hat die moderne Technologie inzwischen eine Welt geschaffen. Sie hat dies auch dadurch bewirkt, daß sie durch immer neue wissenschaftlich-technische Innovation die Radikalität und globale Reichweite ihrer Folgen dramatisch steigert. Wo etwa interkontinentale Raketen binnen kürzester Frist atomare, chemische und biologische Massenvernichtung überall hintragen können, ist jeder, der solche Waffen besitzt, Herr über Leben und Tod in allen Teilen der Welt – Grenzen können hier nicht mehr schützen.

Neben der Technik ist es die Natur, welche mehr und mehr eine Einheit aller Länder und Kontinente konstituiert. Ozeane und Atmosphäre verbreiten weltweit eine durch wachsende Bevölkerung und wachsende Produktion doppelt explodierende Emission von Schadstoffen, die überall die natürlichen Lebensgrundlagen gefährden kann – ohne Rücksicht auf den Verursacher. Und der exzessive und steigende Verbrauch an Boden und Wasser, Energie und Rohstoffen in einem Teil der Welt, schränkt die Zukunftschancen in anderen Teilen ein. In diesem Sinne sitzen wirklich alle in einem Boot.

Schließlich sind es Entwicklungen auf der Ebene politischer und ökonomischer Macht, die zunehmend die Eine Welt schaffen. So sehr die Ost-West-Spannung auch Fehlentwicklungen verursachte und Gefahren barg, so ermöglichte sie doch auch vor allem den Ländern des Südens einen gewissen Spielraum für eigene Orientierungen und Entscheidungen.

Mit der inneren Schwächung, Öffnung und dem Zerfall des kommunistischen Systems hat sich dann die politische und ökonomische Ordnungsmacht der westlichen Industrieländer und unter ihnen vor allem der Vereinigten Staaten endgültig weltweit durchgesetzt Die Gruppe der sieben größten Indu-

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strieländer, unterstützt durch den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank, haben inzwischen von sich aus ein globales Direktorium errichtet, das in die wirtschaftliche und politische Entwicklung fast aller Länder eingreifen kann.

An die Stelle einer weitgehend bipolar geprägten Welt ist eine ungeordnete Verbindung von Gravitationszentren getreten, die, wenn auch nicht zur politischen Einheit verbunden, so doch den Gang der globalen Entwicklung in die gleiche Richtung treiben. Sie schließen zumindest Alternativen aus, die dem eurozentrischen Mainstream entgegenstehen.

Die technologische, ökologische und politische Entwicklung schafft also spätestens in dieser Generation faktisch die Eine Welt. Länder und Kontinente verbinden sich zu einer vernetzten Kommunikations- und Wirtschaftswelt und – unter sozialen

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und ökologischen Perspektiven – zu einer globalen Schicksalsgemeinschaft. Dies ist allerdings keineswegs gleichzusetzen mit einer Homogenisierung und einem Ausgleich der Lebensverhältnisse und Entwicklungschancen in den einzelnen Weltregionen oder gar mit einer auf Legitimität gegründeten politischen Integration der internationalen Staatenwelt. Der Ausgleich der Lebensverhältnisse, eine verantwortliche wirtschaftliche Entwicklung und eine gemeinsame Vorsorge zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen und des Friedens sind noch nicht in Sicht. Das verhindern Egoismen von Staaten und Eliten, vor allem auch die Sonderinteressen des westlichen Direktoriums – möglicherweise aber auch politische Zerfallsprozesse im Osten und Süden und ethnonationale Tendenzen, die Selbstbestimmung vorschnell mit formaler staatlicher Unabhängigkeit identifizieren.

Sonderinteressen und politische Zerfallsprozesse erschweren es, für eine technologisch, ökologisch und ökonomisch vernetzte Welt das bestehende Vakuum an international durchsetzungsfähigem Recht zu beseitigen und eine handlungsfähige Instanz globaler politischer Verantwortung aufzubauen. In gewisser Weise haben wir also bereits die Eine Welt: technologisch, ökologisch und machtpolitisch. In politischer und sozialer Hinsicht haben wir sie noch nicht. Aus dieser Diskrepanz entspringen enorme Gefahren.

These 2

Unsere Vorstellungen und Maßstäbe politischer Gerechtigkeit sind vor einem historischen Horizont gebildet worden, der zum einen von räumlich und zeitlich begrenzten Wirkungen politischen Handelns und zum anderen vom Nationalstaat als dem eigentlichen Subjekt der internationalen Beziehungen ausgeht.

In der herkömmlichen politischen Philosophie Europas seit Thomas Hobbes und John Locke wird die Institution der öffentlichen Gewalt ausschließlich auf den einzelnen Staat bezogen. Die Konzentration der Gewaltmittel einer Gesellschaft beim Staat sollte den Kampf aller gegen alle und die einseitige Durchsetzung der stärksten Sonderinteressen beenden und den Frieden

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zwischen den Bürgern im Innern des Staates im allseitigen Interesse herstellen und sichern.

Die äußeren Beziehungen sollten dagegen durch selbstbestimmte Formen der Konfliktbewältigung und des Austausches zwischen "souveränen" Staaten geregelt werden. Einerseits durch mehr oder weniger freiwillige Kooperation, sprich: Vertrag. Andererseits eben durch Gewalt, sprich: militärische Mittel oder wirtschaftlichen Druck. Der internationalen Gemeinschaft wurde aber gerade das versagt, was der politischen Philosophie als das Herzstück staatlicher Organisation galt, nämlich: die Fähigkeit, verpflichtende Normen, die alle Akteure in gleicher Weise binden sollten, durch Sanktionen durchzusetzen – sei es auf dem Gebiet physischer Sicherheit, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ordnung, sozialen Ausgleichs oder ökologischer Vorsorge.

Internationaler Rüstungswettlauf und Kriege, wirtschaftliche Ausbeutung, weltpolitische Dominanzen und Raubbau an Natur und Ressourcen sind ursächlich dem Fehlen einer sanktionsfähigen internationalen Rechtsordnung und dem Fehlen einer handlungsfähigen globalen Legislative verbunden.

Wenn schon nicht durch eine funktionierende internationale Rechtsordnung und Weltinnenpolitik, so bestand allerdings die Hoffnung, daß internationale Sicherheit und Entwicklung doch anderweitig verfügt werden könnten – vor allem durch Einsicht in gemeinsame Interessen souveräner Staaten oder durch die Verwirklichung internationaler Solidarität.

Die bisherige geschichtliche Erfahrung widerlegt diese Hoffnung. Denn alle Versuche, die internationalen Aufgaben und Konflikte durch Formen freiwilliger Kooperation und Umverteilung zu lösen, konnten das bestehende weltpolitische Vakuum nicht auffüllen. Es erscheint evident, daß die politischen und wirtschaftlichen Eliten der einzelnen Staaten sich nicht immer von rationaler Einsicht in das Gesamtinteresse der Menschheit leiten lassen, oder daß die Individuen sich in der Regel nicht immer von moralischen Verpflichtungen und solidarischen Gefühlen bewegen lassen, die jenseits ihrer persönlichen Erlebnissphäre liegen.

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Rationale Einsicht in langfristig gemeinsame Interessen der Menschheit und moralische Motive des Teilens und Helfens erscheinen zu schwach, um die kurze Sicht und das eigene Sonderinteresse der Stärkeren überwinden zu können.

Der Aufbau einer Weltinnenpolitik ist deshalb die einzig denkbare (wenn auch sicher nicht unbedingt realisierbare) Möglichkeit, in Zukunft Kriege zu verhindern und gerade auch die starken Staaten wirksam an internationale Normen sozialer Gerechtigkeit, wirtschaftlichen Ausgleichs und ökologischer Vorsorge zu binden.

Eine größere Reichweite, Effizienz und Verläßlichkeit globaler Regelungen sind unabdingbar, um für alle Länder physische, soziale und ökologische Sicherheit zu verbürgen und auf Dauer das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten zu sichern. Wo Technik, Natur und Macht nur noch in globaler Dimension beherrscht werden können und heutiges Handeln das Schicksal späterer Generationen verwirken kann, darf die Philosophie und Organisation politischer Gerechtigkeit sich nicht länger am Nationalstaat und an einem nationalen Verständnis der Rolle des Gewaltmonopols als Frieden und Sicherheit stiftenden Mechanismus zur Eindämmung von nicht legitimierter Gewalt und Sonderinteressen festmachen.

Globale und temporale Interdependenz verlangen eine räumliche und zeitliche Erweiterung politischer Verantwortung und Handlungsfähigkeit. Ob wir ohne große Katastrophen à la Tschernobyl oder weitere Golfkriege oder unabsehbare Wanderungsströme allerdings dazu fähig sind, ist sehr zweifelhaft. Darauf nehmen jedoch die Fakten keine Rücksicht: Denn bereits heute sind die Klimaerwärmung, die weitere Proliferation von Massenvernichtungswaffen und schwer steuerbarer Technologien mit radikalen Folgewirkungen (wie etwa die Gentechnik) und eine Weltbevölkerung von 10 Milliarden Menschen programmiert.

These 3

Die Eine Welt der Technik, Natur und Macht verlangt nicht nur den Aufbau eines legitim begründeten globalen internationalen Rechtssystems und einer politischen

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Handlungsinstanz, die zur Weltinnenpolitik fähig ist. Diese Eine Welt kann auch nur dann überleben, wenn es gelingt, das herkömmliche eurozentrische Wachstumsmodell in ein globales Gleichgewichtsmodell von Entwicklung zu transformieren.

Nicht mehr der ewige und möglichst maximierte Anstieg des globalen Güterbergs darf das beherrschende Ziel künftiger Wirtschaftsdynamik sein, sondern die Befriedung der Grundbedürfnisse der Menschen, die Steigerung der Qualität ihres Lebens und die Förderung ihrer schöpferischen Fähigkeiten. Logik und Dynamik wirtschaftlicher Entwicklung muß sich von extensiven zu intensiven Formen des Lebens wenden, sowie von arbeits- zu ressourcensparenden Methoden der Produktion.

Zentraler Zweck der Ökonomie muß es also werden, allen – auch den künftigen – Menschen dieser Erde auf Dauer ein menschenwürdiges Leben zu sichern. Dies ist aber ohne eine Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen nicht möglich. Insofern ist dies die grundlegende soziale und humane Frage der Zukunft. Mehr als um die unendliche Perfektionierung eines historischen Systems höchster Produktivität, geht es um die Dauer des menschlichen Geschlechts.

Wenn dies richtig ist, muß unser westliches Wachstumsmodell dort weiter entwickelt werden, wo es droht, die menschlichen Lebensgrundlagen zu unterminieren. Unverändert zur alleinigen und weltweiten Blaupause für Entwicklung gemacht, muß es am Ende die Erde zerstören. Dies ist in den vergangenen Jahren von vielen allzu schnell im Jubel über den Untergang des "real existierenden Sozialismus" verdrängt worden.

Ein sozio-ökonomisches System, das zu ewigem Wachstum und also zu immer weiter steigendem Ressourcenverbrauch gezwungen ist, um sich selbst zu erhalten und um gesellschaftliche und soziale Probleme zu lösen, muß notwendig scheitern. Denn die Ressourcen der Welt sind nicht unbegrenzt, die Bedürfnisse der Menschen aber werden weltweit auf ein immer höheres Niveau getrieben.

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Der Übergang vom westlichen Wachstums- zu einem globalen Gleichgewichtsmodell von Entwicklung erfordert mindestens vier Korrekturen:

1. Die Bekämpfung von massenhaftem Hunger und Elend, der Ausgleich zwischen Arm und Reich und die Versorgung einer auf 10 Milliarden Menschen ansteigenden Weltbevölkerung kann nicht mehr allein durch eine Strategie zur Maximierung des abstrakten Werts der globalen Produktion angestrebt werden. Eine Anhebung des Einkommens in den Entwicklungsländern in den nächsten 30 Jahren auf die Hälfte des Niveaus in den Industrieländern würde bedeuten, daß bei einer Wachstumsrate von nur 2% in den Industrieländern die Weltproduktion um das Zehnfache ansteigen müßte. Ist es vorstellbar, daß die dadurch ausgelöste zusätzliche Ressourcenbelastung tragbar ist?

Die Konsequenz muß sein, Armutsprobleme und krasse soziale Ungleichheiten nicht ausschließlich durch zusätzliches Wachstum lösen zu wollen, sondern über den einzelstaatlichen Rahmen hinaus auch auf globaler Ebene ein Minimum sozialer Sicherung und fairer Ressourcenverteilung durchzusetzen. Dazu bedarf es dauerhafter Mechanismen internationalen Ausgleichs und effizienter globaler Organisation. Nur wenn dies gelingt, wird sich das Bevölkerungswachstum eindämmen und der Raubbau an der Natur, der durch eine rein nachholende Form der Industrialisierung und durch krasse Armut bedingt ist, stoppen lassen.

Die Entwicklungspolitik muß diesen Prozeß aktiv unterstützen, wo die freien Kräfte des Marktes und der Gesellschaft aus sich selbst heraus nicht zur Selbstkorrektur fähig sind. Statt einseitig nur auf Wachstum zu setzen, isolierte Wachstumsprojekte zu unterstützen und dabei oft sogar eine Verschärfung des Elends und der Ungleichheit in der Vermögens- und Einkommensverteilung hinzunehmen (wie dies etwa der IWF tut), muß Entwicklungspolitik in Zukunft beginnen, auch den Aufbau sozialer Sicherungssysteme und Mechanismen des wirtschaftlichen Ausgleichs zu fördern.

2. Ein Entwicklungsmodell, in dem das Wachstum im Süden und Osten an das Wachstum der Indu-

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strieländer gekoppelt ist, führt nicht dazu, daß die Entwicklungsländer schließlich zu den Industrieländern aufschließen werden. Es führt vielmehr logisch zwingend zur Perpetuierung ihrer ökonomischen Abhängigkeit, darüber hinaus aber auch zur fortgesetzten Imitation einer Ressourcen und Umwelt verschwendenden Lebens- und Produktionsweise. Eine globale Wachstumsstrategie, die den Industrieländern weiter die "Lokomotivfunktion" im weltwirtschaftlichen Prozeß zumißt, nimmt den Entwicklungsländern geradezu die unabdingbaren Voraussetzungen ihrer wirtschaftlichen Entwicklung. Der Westen wird dann weiter ein Vielfaches der Ressourcen beanspruchen, die der Süden und Osten braucht.

Aus der globalen Sicht einer sozial und ökologisch verträglichen Entwicklung gibt es keine Alternative zu einer Abkopplung der Wachstumsraten in Industrie- und Entwicklungsländern. Der Westen muß im Vergleich zum Süden und Osten sein materielles Wachstum reduzieren!

Auch in dieser Hinsicht muß die Entwicklungspolitik einen neuen Weg einschlagen. Sie darf sich nicht weiter ausschließlich auf das Bruttosozialprodukt als dominantes Entwicklungsziel fixieren (das Wohlstand unzureichend, die Verteilung gar nicht und den Ressourcenverbrauch nur unzureichend mißt) und einer bedingungslosen Integration in die von den Industrieländern dominierte Weltwirtschaft das Wort reden. Stattdessen muß Entwicklungspolitik in Zukunft stärker die binnenwirtschaftlichen Strukturen und Potentiale, vor allem die Sicherung der Ernährung und den Aufbau von Bildung und technischem Know-how, sowie die Bildung integrierter Wirtschaftsräume im Süden und Osten fördern.

3. Wenn es richtig ist, daß Wachstum allein die sozialen und ökologischen Probleme im Süden und Osten nicht lösen kann, und wenn es richtig ist, daß der Süden und Osten dennoch wachsen muß und zwar wesentlich stärker als der Westen – so muß gleichzeitig unterstrichen werden, daß dieses Wachstum höchst ambivalent ist.

Hohes Wachstum würde sich insofern positiv auswirken, als – unter der Bedingung einer entsprechenden Einkommensverteilung – die Armut

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verringert und produktive Investitionen verstärkt werden könnten. Dies könnte positive Effekte zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums und der armutsbedingten Umweltzerstörung haben. Hohes Wachstum hätte aber auch einen negativen Effekt. Es ist zwangsläufig mit einer Verschärfung globaler Umweltbelastung verknüpft.

Das Dilemma ist dies: Um langfristig die Bevölkerungsexplosion und den armutsbedingten Raubbau an der Natur zu stoppen, muß in Kauf genommen werden, daß ein hohes Wachstum zu zusätzlichen ökologischen Belastungen führt.

Es gibt nur einen Weg, um dieses Dilemma zu mildern: nicht nur der Westen – auch der Süden und der Osten müssen unverzüglich einen konsequent ökologischen Entwicklungsweg einschlagen. Es müssen hier also in einem wesentlich früheren Entwicklungsstadium als im Westen von vornherein neue Wege gegangen werden: in der Produktion, beim Einsatz von Energie, im Ausbau des Verkehrs, auch bei Produktentwicklung und Produktvermarktung.

Die Entwicklungspolitik des Westens muß diesen Umstieg zu einem "anderen" Wachstum massiv fördern: durch ökologische Expertise und dauernde large-scale-Beratung, durch massiven Transfer modernster Technologie, durch Verzicht auf Exporte und Importe, die sich umweltzerstörend auswirken, durch Bindung von Direktinvestitionen und Krediten an ökologische Bedingungen und durch angemessene Kapitaltransfers, um das teurere saubere Wachstum mitzufinanzieren.

Das saubere Wachstum ist deshalb teurer, weil – im Gegensatz zur bisherigen Praxis im Norden – die sogenannten freien Güter von Natur und Umwelt in Zukunft nicht mehr beliebig und kostenlos genutzt werden dürfen. Jeder Ressourcenverbrauch und jede Umweltbelastung muß in Zukunft in die betriebs- und volkswirtschaftlichen Bilanzen und die Kalkulation der Güterpreise eingehen. Da der Süden bereits auf einem niedrigen Entwicklungsstadium höhere Produktionskosten hinnehmen muß, als dies in den Industrieländern der Fall war, ist ein stetiger Lastenausgleich durch den Norden gerechtfertigt, um im glo-

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balen Interesse irreversible Umweltschäden zu vermindern.

Soll der Süden und Osten wachsen, aber ökologisch orientiert, so muß gleichzeitig der Westen selbst von seinem auf Quantität und abstrakten Wertmaßstab fixierten Wachstumsmodell abrücken und versuchen, zu einem auf umfassende Lebensqualität ausgerichteten Gleichgewichtsmodell des Arbeitens und Lebens, des Produzierens und Konsumierens überzugehen. Wachsen darf vor allem bei uns nur noch, was sozial und ökologisch verträglich ist.

4. Eine weitere Korrektur der herkömmlichen Strategie wirtschaftlicher Entwicklung ist überfällig. Für eine auf Dauer tragfähige und selbstbestimmte Entwicklung im Süden und Osten werden nicht die externen Inputs von Finanzmitteln, Technik und Personal maßgebend sein, sondern die internen Rahmenbedingungen einer dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung. Dazu erforderlich sind gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Reformen, die eine breite Mobilisierung der Kräfte von unten freisetzen und effiziente Institutionen für "good governance" schaffen.

Es darf nicht weiter die doppelte Illusion genährt werden, der Westen habe sowohl die wirtschaftliche Kraft als auch die politische Moral, um den entscheidenden Beitrag zur Entwicklung im Süden und Osten zu liefern. Der Westen kann und muß helfen. Sein wichtigster Beitrag zur Lösung der globalen Probleme werden aber nicht externe Anstöße für den Süden und Osten sein, sondern die Reform der eigenen internen Lebens- und Wirtschaftsweise und die Herstellung fairer weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen. Nur so entstehen für den Süden und Osten die dringend nötigen Spielräume für einen gerechten Anteil an den Weltressourcen und für eine Nutzung der Vorteile der internationalen Arbeitsteilung.

Dies könnte wirklich vom Westen geleistet werden, wenn denn Vernunft, globale Verantwortung und ein langfristiges Verständnis gemeinsamer Interessen sich durchsetzen lassen. Dagegen werden die externen finanziellen und technischen Hilfen so sehr begrenzt bleiben, daß sie den Gang der Ent-

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wicklung im Süden und Osten nicht entscheidend beeinflussen können – angesichts wachsender interner Probleme in den westlichen Ländern selbst. Stichworte sind: Überschuldung, Umweltzerstörung, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, neue Armut.

Auch Aufrufe zur ganz persönlichen Hilfe für die Armen der Welt und Appelle zum Teilen werden diese Situation nicht ändern. Die Intensität menschlicher Solidarität hat sich in der Geschichte prinzipiell als eine abnehmende Funktion räumlicher und zeitlicher Reichweite erwiesen. Wirklich globales Bewußtsein wird sich nur langsam verbreiten. Und aus der Einsicht, daß alle Völker in der einen Welt schicksalhaft verbunden sind, wird von vielen Menschen nur nach und nach die persönliche Konsequenz gezogen werden, daß nicht nur lokal und national, sondern auch global verantwortlich gehandelt werden muß.

Auch hier – wo es darum geht, durch Strukturreformen einen größeren Einsatz von Geld und Technik zu rechtfertigen – muß die Entwicklungspolitik neue Weichen stellen.

Statt sich einseitig auf die Förderung einzelner, oft isolierter Projekte der finanziellen, technischen und personellen Zusammenarbeit zu verlassen, muß Entwicklungspolitik in Zukunft ihre vornehmste Aufgabe darin sehen, Anstöße für Reformen zu geben, ohne die eine zugleich sozial und ökologisch verantwortliche wie auch dynamisch-wirtschaftliche Entwicklung – auch bei hohem finanziellen und technischem Einsatz – nicht möglich sein wird. Der Blick darf sich dabei nicht nur auf Konditionen und Strukturreformen für Entwicklungsländer richten, sondern genauso auf faire Bedingungen der Weltwirtschaft und auf eine überfällige strukturelle Anpassung der Lebens- und Wirtschaftsweise in den Industrieländern selbst.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2002

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