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[Seite der Druckausg.: 1-2 = Titelblatt]
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Dr. Jürgen Burckhardt

Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Friedrich-Ebert-Stiftung

Vorwort

Das Thema: "Leben in der Einen Welt" beschreibt die zentrale Herausforderung der neunziger Jahre.

Die Kluft zwischen der rhetorischen Beschwörung der "Einen Welt" und der realen Politik der Industriestaaten ist unübersehbar. Politik erschöpft sich im Management isolierter Teilkrisen. Sie verlagert die wirklichen Probleme in die Zukunft oder in andere Weltregionen.

Die Geschichte von vier Dekaden westlicher Entwicklungspolitik und ihre realen Ergebnisse in den Ländern des Südens, die ökologische Bedrohung unseres Planeten und die realen politischen Ansätze zum "Umweltschutz" – dies alles belegt ein krasses Mißverhältnis zwischen Problemen und Ansätzen für ihre Lösung.

Moralische und solidarische Argumente für die Bedürftigen auf dieser Welt und für die künftigen Generationen – sie haben wenig bewirkt und werden in Zukunft auch wenig bewirken. Ob der Egoismus der Menschen, die Schwerfälligkeit komplexer sozialer Probleme oder die Kurzsichtigkeit politischer und bürokratischer Apparate verantwortlich zu machen sind – das ist gleichgültig.

Tatsache bleibt: Die westlichen Industriegesellschaften unterliegen einer systematischen Blindheit, die durch Appelle allein offenbar nicht zu beheben ist. Die einzige Hoffnung liegt darin, die Eigeninteressen der Industrieländer angesichts der Bedrohung durch globale Krisen so sichtbar werden zu lassen, daß eine Politik des "Aussitzens" nicht mehr legitimiert werden kann.

Die "Weltproblematik" liegt in einem voneinander abhängigen, sich gegenseitig verstärkenden und aufein-

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ander bezogenen Krisengeflecht:

  • von Hunger, Elend, Bevölkerungsexplosion in der Dritten Welt,
  • Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen,
  • Bedrohung des Friedens durch instabile Gesellschaften und
  • innergesellschaftliche Zerreißproben infolge unkontrollierbarer Migration.

Doch der Bedrohung entspricht eine mindest ebenso große Chance, nämlich hunderte von Millionen Menschen an politischer Freiheit und wirtschaftlichem Wohlstand teilhaben zu lassen. Wir haben die Chance, daß die neuen Herausforderungen auch in den westlichen Industriegesellschaften Entwicklungs- und Veränderungspotentiale freisetzen, die unter dem Ost-West-Konflikt verschüttet blieben. Wir müssen damit in unserem eigenen Land anfangen.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat sich in besonderer Weise seit Jahrzehnten in der Entwicklungspolitik engagiert. In einer großen internationalen Konferenz Anfang 1990 hat sie unter der Leitung von Willy Brandt und unter der Beteiligung von namhaften Persönlichkeiten aus aller Welt eine Bilanz des Stands der Nord-Süd-Diskussion gezogen. Daraus sind neue Initiativen entstanden, die auch das Thema dieser Tagung bestimmten.

Natürlich wissen wir alle, daß sich durch Tagungen und Konferenzen die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten dieser Welt nicht lösen lassen. Wichtig ist aber – und das können solche Tagungen erreichen –, daß wir zu der Bewußtseinsbildung in unserem eigenen Lande beitragen, weil dies Voraussetzungen schafft für Fortschritte bei den globalen Problemen dieser Welt.

Wir müssen darauf hinwirken, daß das politische Interesse Westeuropas und in unserem eigenen Land sich nicht ausschließlich ausrichtet auf das Reformprojekt in Mittel- und Osteuropa oder auf das Integrationsprojekt Westeuropa 1992. Natürlich arbeitet die Friedrich-Ebert-Stiftung mit an einer demokratischen Umgestaltung in Mittel- und Osteuropa Aber wir wissen zugleich, daß wir in unserem Engagement im Rahmen des Nord-Süd-Dialogs nicht nachlassen dürfen. Wir wollen unsere Aktivitäten in der ent-

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wicklungspolitischen Arbeit in der Zukunft eher noch verstärken.

Deshalb hat die Friedrich-Ebert-Stiftung bewußt für diese Veranstaltung "Leben in der Einen Welt" einen Tagungsort in den neuen Bundesländern gesucht. Niemand macht den Menschen hier einen Vorwurf, wenn sie sich in erster Linie gegenwärtig mit ihren eigenen existentiellen Sorgen befassen, ja befassen müssen. Umso bemerkenswerter ist es, daß es gerade in den neuen Bundesländern viele Einzelne und Gruppen gibt, die trotz der eigenen großen Probleme in vielfältiger Weise Solidarität mit der Zweidrittelwelt praktizieren. Die große Zahl von Initiativen, die sich für den "Markt der Möglichkeiten" angemeldet hatten und auch gekommen sind, hat uns selbst überrascht.

Unsere Stiftung möchte aber auch einen Beitrag dazu leisten, daß das öffentliche Bild über die Dritte Welt

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sich nicht nur in Berichterstattungen über die Gewalt gegenüber Flüchtlingen hier bei uns erschöpft. Wir haben deshalb die vielen positiven, solidarischen Initiativen zu Wort kommen lassen, die es gerade auch in den neuen Bundesländern gibt.

Angesichts der unsäglichen ausländerfeindlichen Aktionen und Diskussionen in unserem Land kam dieser entwicklungspolitischen Tagung zusätzliche Bedeutung zu: Sie sollte mit dazu beitragen, daß die Ausländerpolitik nicht zum Schlagstock tagespolitischer Auseinandersetzungen und platter Wahlkampfstrategie wird. Unsere Tagung reihte sich daher ein in die Aktionen vieler, die dafür eintreten, daß dieses Land wieder zur Besinnung kommt.

Die Themen der vier Foren hatten alle besondere Aktualität:

I.

Die radikalen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa haben durch die Beziehungen zur Dritten Welt eine neue Qualität bekommen, die eben nicht mehr vom strategischen Gegensatz West-Ost geprägt ist. Einerseits gibt es jetzt zum Beispiel Möglichkeiten, die Zusammenarbeit und Unterstützung von der Erfüllung von Auflagen im Bereich der Menschenrechte oder der Verringerung von Rüstungsausgaben abhängig zu machen. Aber es besteht andererseits auch die Gefahr, geostrategisch plötzlich unbedeutend gewordene Länder von der entwicklungspolitischen Landkarte zu streichen oder ihre politisch unterdrückte und hungernde Bevölkerung allein zu lassen.

II.

Ein Thema des Forums II: "Umwelt und Entwicklung" war die 1992 in Brasilien stattfindende "Weltumweltkonferenz". Schon in den Vorbereitungen zu dieser Konferenz deuteten sich ja Zweifel an, ob nicht der Zusammenhang zwischen Umwelt und Entwicklung eher nachrangig behandelt werden soll, obgleich er doch in besonderer Weise das gemeinsame Interesse an der "Einen Welt" umschreibt.

III.

Das Forum III bezog sich auf das in vielfältiger Weise historische Datum 1992: Während in Europa die Verei-

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nigung zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht weiter vorantreiben wird, blickt Lateinamerika im nächsten Jahr auf 500 Jahre Kolonialisierung und Ausbeutung zurück – übrigens auch durch die eigenen Eliten. Die Sorge dort ist groß, daß ein friedliches Europa über die Konzentration auf die eigenen Angelegenheiten die Möglichkeiten für eine gemeinsame positive Zukunft beider Kontinente vernachlässigen könnte.

IV.

Das IV. Forum hatte den vielleicht aktuellsten Bezug: Die Dritte Welt befindet sich schon lange vor unserer Haustür. Die meisten haben es nur noch nicht gemerkt. Den erst zwei Jahre alten Film "Der Marsch" – gedreht und gezeigt im Rahmen der Medienkampagne "Eine Welt für alle" – haben viele damals noch als Phantasieprodukt eingeordnet. Heute ist er fast schon Realität – die albanischen Flüchtlinge und die Reaktion auf sie in Bari haben dies gezeigt. Armutswanderungen in großem Ausmaß sind ein realistisches Szenario, mit dem wir zu rechnen haben.

Und wer in der Politik glaubt, mit vermauerten Grenzen oder mit "schnellen Eingreiftruppen" Menschen aufhalten zu können, die vor Terror, Umweltzerstörung oder aus Hunger fliehen, hat die Welt, in der wir leben, noch nicht begriffen. Nur eine sozial und wirtschaftlich gerechte, internationale Ordnung, die sich entschlossen aufrafft, ernsthaft Schritte zur Überwindung des Elends in der Welt und seiner Ursachen zu machen, ist ein Garant dafür, daß die Menschen in ihrer jeweiligen Heimat bleiben.

Meines Erachtens ist es die Aufgabe der politischen Klasse in unserem Lande, der Bevölkerung deutlich zu machen, daß das, was wir jetzt leisten können und müssen, ungleich geringer ist als das, was wir leisten müßten, wenn die Armutswanderungen wegen der fehlenden Perspektive in der eigenen Region tatsächlich in großem Stil in Gang kommen sollten.

Besonders wichtig war für uns die Teilnahme von Frau Maneka Gandhi an unserer Konferenz. Frau Gandhi war bis vor wenigen Monaten Ministerin für Umwelt in Indien. Sie ist international als aktive Verfechterin

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einer Umweltpolitik bekannt, die die reichen Industrieländer an ihre Verantwortung als Hauptverursacher globaler Umweltzerstörungen erinnert.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung freut sich, daß sie dieses Dialogforum hat bieten können.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2002

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