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Perspektiven der Entwicklungspolitik in den 90er Jahren : Bericht über ein Expertenseminar in Werder/Brandenburg 13.-15. September 1991 / hrsg. von Manfred Bardeleben, Abt. Internationale Entwicklungszusammenarbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung - [Electronic ed.] - Bonn, 1991 - 21 S. = 34 KB, Text . - (Dialogreihe Entwicklungspolitik ; 1) - ISBN 3-86077-037-3 Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2002 © Friedrich-Ebert-Stiftung
Entwicklungspolitischer Status quo und Perspektiven aus sozialdemokratischer Sicht Konzeptionelle Überlegungen für eine alternative Entwicklungszusammenarbeit Elemente einer gesamtdeutschen Entwicklungspolitik Migrationsbewegungen als Folge von Armut und Hungerkatastrophen Entwicklungspolitische Arbeitsansätze in Ost und West ein Erfahrungsaustausch
[Seite der Druckausg.: 1-2 = Inhaltsverz.]
Vorbemerkung Über Perspektiven und Mängel der Entwicklungspolitik wurde in der ehemaligen DDR wie in der alten Bundesrepublik diskutiert und gestritten. Wenn heute Teilnehmer aus den neuen und den alten Bundesländern zu einem Seminar zusammenkommen, um über dieses Thema zu diskutieren, so werden Meinungen ausgetauscht, die die jeweiligen Erfahrungshintergründe widerspiegeln. Während die entwicklungspolitische Diskussion in der ehemaligen DDR durch ein starkes Engagement von Basisgruppen gekennzeichnet war, war die Diskussion in der Bundesrepublik immer auch von der Frage nach der "richtigen" staatlichen Entwicklungspolitik beeinflußt. Das von der Friedrich-Ebert-Stiftung vom 13.-15.9.91 veranstaltete Seminar zu den "Perspektiven der Entwicklungspolitik in den 90er Jahren" war eine von mehreren Veranstaltungen, bei denen die Friedrich-Ebert-Stiftung Teilnehmern und Referenten aus den alten und den neuen Bundesländern Gelegenheit geben will, Positionen auszutauschen und ihren eigenen Erfahrungshintergrund in die Diskussion einzubringen. Der Seminarbericht ist bewußt in Protokollform gehalten, um Verlauf und Ergebnisse im Zeitablauf darzustellen. Er wurde von je drei Teilnehmern aus den neuen und alten Bundesländern erstellt. Manfred Bardeleben [Seite der Druckausg.: 4 = Leerseite] Perspektiven der Entwicklungspolitik in den 90er Jahren unter diesem Motto stand eine Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung vom 13.-15.9.1991 in Werder (Brandenburg), auf der zahlreiche Politikerinnen, Vertreterinnen von Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftlerinnen aus Ost- und Westdeutschland Gelegenheit hatten, Standpunkte, Erwartungen und Ideen über die zukünftige Kooperation miteinander und mit Entwicklungsländern auszutauschen. Befinden wir uns am Beginn einer neuen Entwicklungsdekade? Eröffnen die bisherigen Erfahrungen und Erfolge bzw. Fehlschläge neue Wege der Entwicklungszusammenarbeit? Können die unterschiedlichen Ansätze von Ost- und Westdeutschen in Diskussion und Praxis der Nord-Süd-Politik neue Strategien aufzeigen? Entwicklungspolitischer Status quo und Perspektiven aus sozialdemokratischer Sicht In seinem einleitenden Vortrag präsentierte Prof. Ingomar Hauchler, MdB und Sprecher der Arbeitsgruppe für wirtschaftliche Zusammenarbeit der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, den entwicklungspolitischen Status quo und Perspektiven aus sozialdemokratischer Sicht. Dabei formulierte er fünf Thesen: [Seite der Druckausg.: 6] These 1:
These 2:
These 3:
[Seite der Druckausg.: 7] These 4:
These 5:
Zur konkreten Umsetzung dieser Forderungen, so Hauchler, sind eine breite Bewußtseinsbildung zur globalen Verantwortung und die Wahrnehmung von Entwicklungspolitik als eine Querschnittsaufgabe unerläßlich. Diese Thesen bildeten für ost- und westdeutsche Teilnehmer eine einheitliche Diskussionsgrundlage. Neue Perspektiven wurden in diesem Stadium nicht sichtbar, aber die neuen Herausforderungen der 90er Jahre traten im Vortrag und in der nachfolgenden Diskussion umso deutlicher hervor: Die Umwälzungen in Osteuropa und der bevorstehende Gemeinsame Europäische Markt mit allen zu erwartenden positiven Auswirkungen, aber auch Kosten, worauf sich womöglich zu Lasten der Entwicklungsländer das verstärkte Interesse der Industrienationen richtet, sowie die wachsenden ökologischen Probleme weltweit. [Seite der Druckausg.: 8] Konzeptionelle Überlegungen für eine alternative Entwicklungszusammenarbeit Neue Herausforderungen implizieren die Notwendigkeit neuer Konzeptionen. Roger Peltzer vom Institut für Internationale Politik zog nach den vorangegangenen Diskussionen das folgende Resümee: Nach wie vor steht die bundesdeutsche Entwicklungspolitik in einem beträchtlichen Konkurrenzverhältnis zu anderen Politikbereichen; die Durchsetzung gegen andere Interessengruppen gestaltet sich problematisch. Strukturveränderungen werden zwar allgemein als notwendig erkannt, die Vorstellungen über die jeweilige Stoßrichtung sowie ihre Durchsetzungsfähigkeit sind jedoch noch diffus und kontrovers. Einen Beitrag zur Konkretisierung notwendiger Strukturveränderungen leistete Peltzer durch die Vorstellung von vier potentiellen Ansatzpunkten. 1. Die Agrarpolitik der EG bzw. die durch das GATT geschaffenen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind verfehlt und schaffen massive Probleme für die Entwicklungsländer. Konsens besteht bei allen entwicklungspolitischen Gruppen darüber, daß Agrarsubventionen abgeschafft werden müssen. Kernproblem ist in diesem Zusammenhang weniger, daß Entwicklungspolitiker kein Gehör finden, sondern daß sie ihre Chancen zur Artikulation nicht nutzen. [Seite der Druckausg.: 9] 2. Als zweites Beispiel für (mögliche) Strukturveränderungen nannte Peltzer die westafrikanische Währungsunion UMOA (Union Monetaire Ouest-Africaine), die den zugehörigen (ausschließlich frankophonen) Staaten Vorteile wie eine stabile und anerkannte Währung, intraregionalen Handel und ausländische Investitionen einbringt. Eine wichtige Frage ist dabei die Auswirkung des EG-Binnenmarktes auf diese an den französischen Franc angebundene Währungsunion. Eine denkbare Variante ab 1993 ist die Koppelung des Franc CFA an den ECU unter Einbeziehung der anglophonen Nachbarländer (Nigeria, Ghana). Dieser Ansatzpunkt ist bislang jedoch noch nicht mit den afrikanischen Partnern diskutiert worden. 3. Bislang nimmt die Projekthilfe immer noch den größten Anteil innerhalb der Entwicklungszusammenarbeit ein und dominiert in der entwicklungspolitischen Diskussion gegenüber Überlegungen zur Änderung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Hier müssen so Peltzer Alternativen zur traditionellen projektgebundenen Hilfe geschaffen und exemplarisch Akzente für die Unterstützung von wirtschaftlichen, politischen und sozialen Reformen gesetzt werden. Eine bereits erprobte Variante etwa ist die Koppelung der Entwicklungsgelder an Abrüstungsprozesse, die aber innerhalb der deutschen Diskussion bislang nicht genügend Beachtung gefunden hat. 4. Eine weitere Überlegung zu möglichen Strukturveränderungen sind gezielte Interventionen zur Stabilisierung einzelner Rohstoffabkommen oder -preise. [Seite der Druckausg.: 10] Folgende Schlußfolgerungen ergaben sich für Peltzer: Konkrete Ansatzpunkte und Handlungsmöglichkeiten für Strukturveränderungen sind durchaus gegeben. Ihre Durchsetzung erfordert jedoch das effiziente Zusammenwirken von Politikern, Medien, Nichtregierungsorganisationen und anderen gesellschaftlichen Gruppen. Die vorhandene entwicklungspolitische Expertise muß umorganisiert und Externe in den Diskussionsprozeß und in Aktivitäten miteinbezogen werden. Eindeutig bereichert wird die vorhandene Expertise durch die Beiträge von ostdeutschen Sprechern, sei es aus dem privaten, kirchlichen, wissenschaftlichen oder politischen Spektrum, deren auf Erfahrung beruhende Erkenntnisse und deren konstruktive Vorschläge in weitaus stärkerem Maße als bisher in die entwicklungspolitische Diskussion miteinfließen müssen. [Seite der Druckausg.: 11] Elemente einer gesamtdeutschen Entwicklungspolitik Nachdrücklich und präzise formulierte Walter Bindemann, Leiter der evangelischen Akademie Brandenburg, die Grundwerte einer gesamtdeutschen Entwicklungspolitik: Gerechtigkeit, Frieden, Erhaltung der Ökosphäre und Solidarität. Entwicklungspolitik liegt im Schnittfeld verschiedener Politikbereiche, daher fordert er, wie zuvor Prof. Hauchler, eine "integrierte und integrative Entwicklungspolitik". Die Entwicklungspolitik, so Bindemann, ist bisher nicht gesamtdeutsch, sondern eindeutig westdeutsch geprägt und als solche vor allem projektorientiert, während die stärker auf Bildungsarbeit abzielende ostdeutsche Entwicklungspolitik im Hintergrund steht. In den Neuen Bundesländern besteht zur Zeit aber die Gefahr, daß die Entwicklungspolitik von scheinbar drängenderen Problemen zurückgedrängt, ja vergessen wird. Die vorrangigen Aufgaben in den neuen Bundesländern sind daher, der Entwicklungsproblematik und denen, die sie diskutieren den Nichtregierungsorganisationen das "Überleben zu sichern", indem man Themen wach hält, indem man auch institutionell wirkt, z.B. durch Schaffung spezifischer entwicklungspolitischer Referate, sich auf Partnersuche begibt und neue Modelle ausprobiert. In den neuen Bundesländern ist nach Bindemann neu, daß man nicht wie bisher eher am Rande der Nord-Süd-Problematik steht, sondern über den Weltmarkt mehr denn je darin "verwickelt" ist. Die unter dem Stichwort "Gerechter Handel" geführten Diskussionen um Kaffee [Seite der Druckausg.: 12] und Bananen haben daher deutlichen Symbolcharakter, auch ist das Problem aktuell und im Osten vermittelbar, z.B. über die Frage: "Warum sind Bananen so billig, aber deutsche Äpfel so teuer?" Brennend ist auch die Ausländerproblematik in den neuen Bundesländern. Aufgrund sozialer Konflikte gibt es starke Ausländerfeindlichkeit. Über ein gesamteuropäisches Asylrecht wäre daher noch nachzudenken. Am Beispiel Osteuropa kann man beobachten, wie "Sicherheit" neu definiert wird. Sie wird heutzutage nicht nur im militärischen, sondern auch im sozialen, ökonomischen und ökologischen Sinne begriffen. Insofern sind die Investitionen in Osteuropa ein Teil der Sicherheitspolitik. Hier haben die Deutschen offenbar erkannt, daß eine "Versüdlichung des Ostens" gefährlich wäre. Bindemann weist auf weitere Analogien zwischen der Ost-West- und der Nord-Südproblematik hin: Wie im Süden wurde bzw. wird der Ex-DDR ein Strukturanpassungsprogramm verordnet. Auch muß die materielle und mentale Erneuerung überaus schnell vor sich gehen, was soziale und psychologische Probleme nach sich zieht. Deutsch-deutsche Erfahrungen könnten für die Entwicklungspolitik genutzt werden, eine Mischung aus Aktion (westlicher Projektarbeit) und Reflexion (östlicher Bildungsarbeit) wäre befruchtend. Politik neigt zur Trägheit und bedarf daher des Druckes von oben, unten und außen. Aus all diesen Gründen ist Entwicklungspolitik als ressortübergreifende Politik zu betreiben. [Seite der Druckausg.: 13] Hans-Joachim Döring von der ostdeutschen Nichtregierungsorganisation INKOTA (Information/Koordination/Tagung) legte mit seinem anschließenden Vortrag noch einen weiteren Scheit ins hitziger werdende Diskussionsfeuer. Er vertrat die Auffassung, daß "Spurenelemente" einer Entwicklungspolitik aus dem östlichen Teil Deutschlands eingebracht werden müssen. Als erstes dieser "Spurenelemente" nannte Döring die Wahrhaftigkeit. Die Forderung nach Wahrhaftigkeit in der Entwicklungszusammenarbeit resultiert aus der Kritik an den bisherigen mechanistischen Verfahren der (westlichen) Projektabwicklung. Ein Versuch, den Norden auch einmal konsequent mit den Augen des Südens zu betrachten, ist bisher nicht gemacht worden. Mehr Wahrhaftigkeit ist auch notwendig, um Bevölkerungsschichten, die kein Interesse an Politik zeigen, für entwicklungspolitische Aktivitäten (zurück)zugewinnen. Nicht zuletzt ist mehr Wahrhaftigkeit angebracht angesichts der Milliardenbeträge, die für die ehemalige DDR aufgebracht werden, die mengenmäßig stark mit den Leistungen der Industrieländer für die Entwicklungszusammenarbeit kontrastieren. Eine intensivere Diskussion der Weltmarktordnung war für Döring ein weiteres Element, welches stärker in die Entwicklungspolitik eingebracht werden sollte. Bisher "hat der Markt kein Interesse an Afrika südlich der Sahara, und die Politik wird vom Markt bestimmt". Als drittes Element einer künftigen Entwicklungspolitik nannte Döring die Wertediskussion. Im Osten Deutsch- [Seite der Druckausg.: 14] lands wird z.Z. sehr stark der Unterschied zwischen Reichtum und Wohlstand empfunden. Reichtum hat exklusiven Charakter, während Wohlstand immer auch ein Bewußtsein des Selbstverzichts in sich trägt. Döring folgerte daraus, daß unter Umständen nicht nur ein Programm zur Bekämpfung der Armut, sondern auch eines zur Bekämpfung des Reichtums in Form von Einkommensobergrenzen diskutiert werden müßte. Im Zuge einer globalen Sicherheitspartnerschaft sollte in Zukunft stärker die Sicht des Südens einbezogen werden, um die Beziehungen auf der Basis von Gegenseitigkeit zu festigen. In diesem Kontext plädierte Döring auch dafür, die Verschuldungsstrukturen der Industriestaaten aufzudecken sowie kritisch zu beleuchten und nicht nur "im Süden etwas zu tun, damit er nicht zu uns kommt". Abschließend forderte Döring eine stärkere Betonung des gewerkschaftlichen Elements in der Entwicklungszusammenarbeit. Hier könnte durchaus die Arbeit der Solidaritätskomitees der ehemaligen DDR in Teilen zum Vorbild dienen. Trotz allen Mißbrauchs ist international ein starkes gewerkschaftliches Solidaritätsverständnis entstanden, welches nun durch die ersatzlose Streichung dieser Arbeit verlorengeht. [Seite der Druckausg.: 15] Migrationsbewegungen als Folge von Armut und Hungerkatastrophen Prof. Franz Nuscheler, Universität Duisburg, vertiefte dann in seinem anschließenden Vortrag eine bereits mehrfach angesprochene Vision: Die drohenden Migrationsbewegungen weltweit als eine Folge von Armut und Hungerkatastrophen, wobei er die Situation wie folgt beschreibt: Gegenwärtig ist die Definition von Flüchtlingen und Aussiedlern in Politik und Öffentlichkeit äußerst unklar. Schätzungen bezüglich der Flutwelle von Flüchtlingen schüren böse Erwartungen; das demographische Institut in Frankreich z.B. rechnet mit 30 Mio. zuwandernden Maghrebinern in den kommenden Jahren. Auf nationaler (Bundesregierung, BMZ) sowie internationaler (UNHCR) Ebene werden keine Präventivmaßnahmen getroffen. Regionale Schwerpunkte der Migrationsbewegung sind Osteuropa (Sowjetunion, Jugoslawien, Rumänien) sowie legale und illegale Arbeitsimmigranten aus der Türkei und Nordafrika. Das Wanderungsproblem, so Nuscheler, ist kein Problem der Ärmsten der Dritten Welt, sondern vielmehr eines der jeweiligen Mittelschicht. Deren Migrationswilligkeit hat ihre Wurzeln in Faktoren wie willkürlichen Grenzziehungen, internen Machtkämpfen und Bürgerkriegen, ökonomischer Aussichtslosigkeit und im Zuge der Strukturanpassungsprogramme freigesetzte Beamte. Die Mas- [Seite der Druckausg.: 16] senmigration hat also einen Nährboden in der Massenarmut, welche jedoch keineswegs die alleinige Ursache ist. Ein zunehmend stärkeres Problem werden auch die sogenannten "environmental refugees", die aus ihren angestammten Lebensräumen vertrieben werden. Wichtige wirtschaftliche Bereiche in den Industrieländern wären ohne ausländische Arbeitskräfte gar nicht funktionsfähig. Diese Tatsache läßt befürchten, daß Einwanderungsquoten lediglich nach Nützlichkeitskriterien bemessen werden. Das Problem der Migrationsbewegungen ist außerordentlich eng mit Entwicklungspolitik verknüpft. Nuscheler empfiehlt in diesem Zusammenhang ein ganzes Paket von Präventivmaßnahmen:
Als Fazit forderte Nuscheler, ähnlich wie Bindemann und Döring, eine globale Umverteilung des vorhandenen Reichtums. [Seite der Druckausg.: 17] Entwicklungspolitische Arbeitsansätze in Ost und West ein Erfahrungsaustausch In vier heterogen zusammengesetzten Ost-West-Arbeitsgruppen, die Erfahrungen zu entwicklungspolitischen Ansätzen austauschen und Vorschläge für künftige Schwerpunkte und Kooperationsmöglichkeiten entwickeln sollten, wurden die Positionen der Referenten ausführlich diskutiert. 1. Arbeitsansätze und Stand der Diskussion Vor dem Hintergrund der vier Dekaden dauernden unterschiedlichen Entwicklung beider Teile des nun wiedervereinigten Deutschlands, waren sich die Teilnehmer der Konferenz einig, daß sich sowohl der Diskussionsstand als auch die praktizierten Arbeitsansätze in den alten und neuen Bundesländern sehr unterschiedlich darstellen. Auf seiten der neuen Bundesländer wurde konstatiert, daß nach der "Pflichtübung Solidaritätsbewegung" die Sensibilität der großen Masse der Bevölkerung hinsichtlich entwicklungspolitischer Fragestellungen gegen Null tendiert. Verständlich angesichts der Probleme der Menschen im Osten Deutschlands, die die neuen, schier übermächtigen Alltagsschwierigkeiten in einer Marktwirtschaft meistern müssen. Wichtig war der Hinweis auf die doch erheblichen Informationsdefizite all jener Men- [Seite der Druckausg.: 18] sehen, die sich in der ehemaligen DDR mit Entwicklungspolitik beschäftigt haben, aber nicht zu den "Reisekadern" gehörten. Konsens herrschte bei der Bewertung der Arbeitsansätze. Die Entwicklungspolitik in den neuen Bundesländern ist gekennzeichnet von einem sehr starken Engagement auf Basisebene, was sich auch in der Diskussion und Bildungsarbeit widerspiegelt. Die zu erreichenden Zielgruppen sind die gleichen geblieben. Die in bezug auf entwicklungspolitische Fragestellungen ohnehin schon in DDR-Zeiten sensibilisierte und engagierte Klientel aus dem Bereich der Basisgruppen und aus kirchlichen Kreisen bildet auch heute noch das Gros dieser Zielgruppe. Zulauf ist momentan aus Wissenschaftskreisen festzustellen, da etlichen Akademikern, die sich längerfristig beruflich in irgendeiner Form mit Entwicklungspolitik beschäftigt haben, durch Institutionenabbau die Grundlagen für die Fortsetzung ihrer Tätigkeit entzogen werden. Konsens bestand darüber, daß sich sowohl Ansätze als auch Diskussionsstand in Ost und West voneinander unterscheiden. Die Bevölkerung in Westdeutschland stellt die Notwendigkeit von Entwicklungspolitik und Entwicklungshilfe in Höhe von 0,7 % des Bruttosozialprodukts generell nicht in Frage. Der entwicklungspolitische Begriff und Rahmen wird erheblich weiter gefaßt als in Ostdeutschland. Die Diskussion konzentriert sich auf die Politikebene, auf weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen und Strukturveränderungen. Großen Raum nimmt die kontroverse Diskussion der Wachstumsmodelle ein. [Seite der Druckausg.: 19] Auch auf sprachlicher Ebene gibt es Unterschiede: das "Fachsimpeln" von westdeutschen Experten wird von ostdeutschen Kollegen, auch auf dieser Veranstaltung, als eine "von Anglizismen durchsetzte Insiderdiskussion" empfunden. 2. Diskussionsschwerpunkte in den Arbeitsgruppen Konsens bestand in den Arbeitsgruppen in bezug auf die Frage, ob die deutsche Einheit Lehrstück für die künftige Entwicklungszusammenarbeit sein kann. Ein Übertragen der im Zuge des deutschen Einigungsprozesses gemachten Erfahrungen auf die Probleme in Entwicklungsländern wurde zwar zunächst kontrovers diskutiert, schließlich aber als unrealistisch abgelehnt. Ebenfalls Einigkeit bestand hinsichtlich der Fragestellung "individueller Verzicht - globaler Verzicht". Sowohl die Bevölkerung der alten als auch der neuen Bundesländer ist momentan nicht zu individuellem Verzicht bereit. Stattdessen wird vehement der sofortige Verzicht der reichen Länder im globalen Maßstab gefordert, etwa mit dem notwendigen und erfolgreichen Abschluß der GATT-Verhandlungen. Einig war man sich darin, daß das eurozentristische Wertesystem nicht überfragbar auf die Länder der Dritten Welt sei. Die Entwicklung der EL muß von innen, d.h. selbstbestimmt erfolgen. Dementsprechend sind die zukünftigen Projektaktivitäten zu gestalten und auszurichten. [Seite der Druckausg.: 20] Die Notwendigkeit der Sensibilisierung breiter Schichten der deutschen Bevölkerung nahm großen Raum in der Diskussion ein. Mögliche und wichtige Strategien sind in diesem Kontext zum einen die Einbindung und Sensibilisierung von Kommunalpolitikern mit dem Ziel, entwicklungspolitische Veranstaltungen/Problemfelder in gängige kommunalpolitische Themen einzubetten, um so einen größeren Interessentenkreis zu erreichen. Ferner muß die entwicklungspolitische Diskussion verknüpft werden mit Eigeninteressen, z.B. mit dem Thema Asylpolitik/Ausländerfrage. Direkte Interdependenzen müssen aufgezeigt und verständlich gemacht, Gedankenverbindungen und soziale Identifikationsmöglichkeiten geschaffen werden. Der Aspekt der humanitären und moralischen Verpflichtung darf dabei jedoch nicht beiseite geschoben werden. Für eine breit angelegte Sensibilisierungskampagne ist eine medienwirksame Öffentlichkeitsarbeit unerläßlich. Da diese kostenintensiv ist, schlägt sich hierbei ein entscheidendes Problem für die Ost-Nichtregierungsorganisationen, nämlich der Finanzierungsengpaß, besonders stark nieder. 3. Anregungen für eine künftige ost-westdeutsche Zusammenarbeit im Bereich Entwicklungspolitik Um den Finanzierungs- und Informationsengpässen besser begegnen zu können, sollten Nichtregierungsorganisationen aus dem Westen verstärkt Seminare und Fortbildungskurse für Nichtregierungsorganisationen aus [Seite der Druckausg.: 21] dem Osten anbieten zu Finanzierungsmöglichkeiten und -quellen, Buchführung, Antragstellung, Steuerfragen etc. Ferner sollten Schulungen für ostdeutsche Organisationen mit dem Ziel einer effizienteren Öffentlichkeitsarbeit in den neuen Bundesländern angeboten und durchgeführt werden. Eine intensivierte gemeinsame Arbeit und Austausch im Bildungsbereich sowie die Wiederholung gemeinsamer Seminare und Konferenzen wie der in Werder sind anzustreben. Somit kristallisiert sich zumindest eine deutliche Perspektive für Entwicklungspolitik in den 90er Jahren heraus: Das unverbrauchte und von Herzen kommende Engagement der ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen wird der bundesdeutschen Entwicklungspolitik hoffentlich belebende Impulse geben. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2002 |