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[INTERNATIONALE ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT]
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II. Die Wiederentdeckung des Bürgers

Nicht nur in den USA und Europa [ Verwiesen sei auf das Buch Osborne/Gaebler: Reinventing Government, das „Tilburger Modell" einer holländischen Kommunalverwaltung und die Diskussion über „New Public Management" in Deutschland.] zeichnet sich ab, daß sich die Möglichkeiten überkommener Verwaltungsmuster zur Lösung immer komplexerer Probleme angesichts enger werdender Haushaltsspielräume erschöpfen. Für die lateinamerikanischen Kommunalverwaltungen gilt dies umso mehr; denn was die gewählten Bürgermeister in vielen Fällen vorfinden, sind:

• aufgeblähte, politisierte Verwaltungen ohne fachliche Kompetenz, vielfach reine Beschäftigungsagenturen für die politische Klientel regionaler oder lokaler Kaziken;

• ineffiziente Eigenbetriebe, ebenfalls mit hohem Personalüberhang und oft mit verrottenden Installationen und obsoletem Maschinenpark;

• aufgestaute Defizite in fast allen Bereichen der urbanen und ländlichen Infrastruktur: Wege- und Straßenbau, Wasserversorgung und Abwasser, Abfallbeseitigung, Umweltschutz, Verkehrssicherheit, Schulen und Krankenhäuser, etc.;

• im Zuge der Dezentralisierung: der Rückzug des Zentralstaates aus früher von ihm übernommenen oder finanzierten Aufgaben;

• und schließlich eine gegenüber der Bevölkerung diskreditierte kommunale Verwaltung ohne Glaubwürdigkeit und daher auch vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber neuen Reformversprechen.

Für jene Bürgermeister bzw. Kommunalverwaltungen, die sich die Aufgabe stellen, die von ihren Entscheidungen unmittelbar betroffenen Bürger einzubeziehen, um dadurch die Planung und Umsetzung von Verwaltungsentscheidungen im Sinne höherer Effizienz zu verbessern - auch im Sinne einer Vertiefung der Demokratie in den Ländern, die z.T. erst vor kurzer Zeit lange Jahre autoritärer Regime überwunden haben -, stellen sich konkret vier ineinander verflochtene Problemfelder:

1. Bürger und insbesondere auch der private Unternehmenssektor haben wenig Vertrauen in die Kommunalverwaltung;

2. Es besteht keine Kultur der Bürgerbeteiligung an kommunalpolitischen Entscheidungen;

3. Die Ansprüche der Einwohner auf Leistungen der Kommune übersteigen die administrativen und/oder finanziellen Möglichkeiten, oft auch die gesetzlichen Kompetenzen der Gemeinden;

4. Das Verwaltungspersonal hat keine Erfahrung mit bürgernahem Verhalten.

Mit diesen Problemfeldern ist auch der Aktionsradius benannt, in dem sich die Kommunalverwaltungen - unabhängig von politischer Provenienz und in verschiedenen Ländern ähnlich - bewegen:

Vertrauensbildung erfolgt in erster Linie durch Maßnahmen, die die Transparenz des Verwaltungshandelns erhöhen. In vielen Fällen setzt dies voraus, die kommunale Politik zu „entprivatisieren", d.h. dem Einfluß unmittelbarer oder mittelbarer persönlicher Interessen zu entziehen, sei es des Bürgermeisters oder von Mitgliedern des Rats oder der Verwaltung, sei es von wirtschaftlichen Interessen vor Ort.

Bürgerbeteiligung ist ein wesentlicher Bestandteil für vertrauensbildende Maßnahmen und zugleich Garant dafür, daß Verwaltungsentscheidungen effizient, d.h. entsprechend den Präferenzen der lokalen Bevölkerung fallen. Dies um so mehr als die kommunalen Parlamente sich - aus Tradition oder aufgrund von Besonderheiten der Wahlgesetzgebung - vielfach eher parteipolitischen Seilschaften oder persönlichen Interessen verpflichtet fühlen und nicht selten in Fundamentalopposition zum direkt gewählten Bürgermeister stehen. Bürgerbeteiligung dient der Prioritätensetzung bei knappen Mitteln, sie schafft Einsicht in die begrenzten Möglichkeiten der Verwaltung, sie motiviert und mobilisiert Eigenleistungen der Gemeinschaft und sie schafft die Voraussetzungen dafür, den privaten Sektor stärker in die Bereitstellung kommunaler Leistungen einzubeziehen.

Effiziente Leistungen zur Befriedigung der Ansprüche der Bürger - im Idealfall identisch mit dem eigenen politischen Projekt - sind eine Grundvoraussetzung für erfolgreiche Kommunalverwaltungen. Längst ist es auch für linke Parteien nicht mehr tabu, pragmatische Lösungswege für anstehende Probleme zu suchen und dabei den Privatsektor über Subkontrakte, Gebietskonzessionen oder Vollprivatisierung einzubeziehen.

Die Verwaltungsreform ist eine Voraussetzung für die Erreichung aller drei zuvor genannten Ziele. Häufig sind die Kommunalverwaltungen (und Eigenbetriebe) nicht nur zahlenmäßig überbesetzt, sondern es fehlt vor allem an qualifiziertem Personal. Je nach den von Land zu Land unterschiedlichen Bedingungen vor Ort umfassen erste Schritte der Reform Entlassungen, Transparenz bei Neueinstellungen, Qualifizierungsmaßnahmen, mehr Kontakt zu Bürgern (Verpflichtung zum „Außendienst") u.a.

Betrachtet man die unterschiedlichen Problemstellungen und Lösungsansätze, so kondensieren sie sich in einem Begriff: die Notwendigkeit zur Innovation. Nicht die Übertragung neuer Kompetenzen auf die Gemeinden oder ihre verbesserte Finanzausstattung sind das Neue - und Interessante - an der Dezentralisierung auf kommunaler Ebene, sondern die Unmöglichkeit, traditionelle Verwaltungsmuster zu reproduzieren oder gar zu importieren. Es besteht ein Zwang zu Kreativität und Flexibilität, im Notfall bis an den Rand der Legalität oder darüber hinaus [ In Kolumbien wurden zahlreiche Bürgermeister wegen Verletzung unpraktischer bürokratischer Vorgaben der Zentralregierung gerichtlich belangt; einige Ge mein den halten - illegale - Kontakte zur Guerrilla oder versuchen sogar, lokale Frie dens abkommen zu verhandeln (Fall Pasto).] .

Innovationen sind notwendig, um eine auf konkrete Resultate zielende „gute Regierung" (s. Pkt. III) zu verwirklichen. Sie vollziehen sich in einem politisch-institutionellen Umfeld, das sich im wesentlichen aus vier Grundelementen zusammensetzt und dessen adäquate Gestaltung die Innovationsfähigkeit der Gemeinde bestimmt:

Gesetzliche Rahmenbedingungen

(Dezentralisierungspolitik)

Aufgabenverteilung,

Finanzausstattung

Neues Verhältnis zum Bürgerbeteiligung

Privatsektor Innovationen Transparente Verwaltung

(public-private-
partnership)

Verwaltungsreform

Professionalisierung

Planung und Management

Innovation heißt vor allem: kreative, einfache Lösungen für eingefahrene, oftmals komplizierte Probleme. Ihre grundlegenden Bezugspunkte sind weder die kurzfristigen politischen Interessen der Regierenden, wie sie sich in Einweihungsphotos dokumentieren, noch die von Fachleuten als „objektiv" festgestellte Bedarfslage der Bevölkerung, sondern die Lebensqualität der Bürger und ihre in geeigneter Weise erfaßten - subjektiven - Präferenzen. Die in Deutschland gebräuchlichen Schlagworte vom „Unternehmen Stadt" und dem „Bürger als Kunden", die die Beeinflussung der modernen Verwaltungsdiskussion durch liberale Wirtschaftstheorien nicht leugnen, finden ihre lateinamerikanische Entsprechung in dem Begriff der construcción de la ciudadania, der umfassender ist, weil es hier noch darum geht, den Bürger aus der Lethargie passiver Erwartungshaltungen zu befreien und ihn zum Subjekt der Entwicklung des Gemeinwesens zu machen.

Bürgerbeteiligung ist daher kein Selbstzweck, sondern notwendige Voraussetzung für die Effizienz einer Verwaltung, die sich im Idealfall daran mißt, ob Zusammensetzung und Umfang kommunaler Leistungen den Wünschen und der Zahlungsbereitschaft der Bürger entsprechen [ Dieser Idealfall setzt allerdings hohe Homogenität unter den Gemeinden voraus, weil - im Fall kostenloser öffentlicher Güter - sonst die Armen in die Gemeinden mit hohem Leistungsstandard und die Reichen in Gemeinden mit niedrigen Steuersätzen wandern („New York Syndrom"). ] . Auch bezieht sich Bürgerbeteiligung (participación ciudadana) grundsätzlich auf Individuen, während sich participación popular oder participación comunitaria auf soziale Kategorien beziehen, die im Gefolge der populistischen Tradition in Lateinamerika im Prinzip als homogen unterstellt sind. Diese Homogenität ist selbst in kommunalen Gemeinwesen in der Regel nicht gegeben; aus welchen Gründen auch immer organisieren sich viele Bürger nicht in territorialen oder funktionalen sozialen Vereinigungen. Dies ist mit ein Grund dafür, daß der Versuch, Bürgerbeteiligung auf der Grundlage von territorialen consejos zu organisieren - bis heute durchaus die üblichere Form in Lateinamerika - meistens von Mißerfolg gekrönt ist [ Das fulminante Scheitern der APRA in Peru trotz der Erweiterung der participación popular in vielfältigen Formen mag dafür ein Beleg sein.] .

Partizipative Haushaltsplanung - eine Innovation in Brasilien

Die wohl größte Herausforderung für Bürgerbeteiligung liegt in der partizipativen Erstellung der kommunalen Haushaltspläne. Dieses Experiment wagte die PT-Stadtverwaltung von Porto Alegre, einer brasilianischen Stadt von der Größe Kölns (1,2 Mio Einw.) 1988 zum ersten Mal; heute wird die mittlerweile verfeinerte Methode bereits in ca. 70 brasilianischen Gemeinden angewendet. Zur Einschränkung muß allerdings gesagt werden, daß die Bürgerbeteiligung sich nur auf die kommunale Investitionsplanung - in der Regel maximal 20-25% der Ausgaben - erstreckt. Wie wurde dabei vorgegangen?

Zunächst wurde die Stadt nach geographischen und sozialen Kriterien in 16 Bezirke unterteilt, wobei man die lokale funktionale Organisationsstruktur (Gewerkschaften, Frauenorganisationen, Vereine, etc.) berück-sichtigte. Gleichzeitig wurden 5 Problemfelder definiert: (1) Stadtentwicklung, (2) Verkehr und Transport, (3) Gesundheit und Sozialwesen, (4) Erziehung, Kultur und Freizeit, sowie (5) Wirtschaft und Steuern. In jedem Bezirk und zu jedem Thema finden jährlich mindestens zwei Vollversammlungen statt - einmal zur Rechenschaft über das abgelaufene Haushaltsjahr, einmal zur Diskussion neuer Prioritäten.

Zwischenzeitllich diskutiert die Bevölkerung in Mikro-Bezirken (und in Themengruppen) ihre Prioritäten und entsendet Delegierte in ein Forum der Regional- und Themendelegierten, aus dem wiederum der Städtische Planungsrat (Conselho Municipal do Pano de Governo) gewählt wird. Dieser besteht aus

je 2 Vertretern aus den einzelnen Bezirken

je 2 Vertretern aus den Themengruppen

einem Vertreter der städtischen Angestellten

einem Vertreter des Verbandes der Nachbarschaftsvereine

zwei Vertretern der Stadtregierung ohne Stimmrecht,

die für ein Jahr mit einmaliger Wiederwahlmöglichkeit gewählt werden und deren Aufgabe ist, die Erstellung und Prüfung des Haushaltes zu koordinieren und zu organisieren. Der Rat tritt einmal wöchentlich zusammen und sichert so eine ständige Kommunikation mit der Exekutive.

Die Investitionsplanung im Rahmen der partizipativen Struktur erfolgt auf der Grundlage der Gewichtung dreier Kriterien zur Sicherung ihrer Ausgewogenheit: (1) benannte Prioritäten, (2) Umfang der betroffenen Bevölkerung und (3) der bestehende Versorgungsgrad; sobald sie erstellt ist, wird sie dem Stadtrat zur Verabschiedung vogelegt, was einen neuen Verhandlungs- und Abstimmungsprozeß mit sich bringt. Alllerdings schränkt die Legitimität der Vorschläge den Änderungsspielraum für die Stadtratsmitglieder erfahrungsgemäß stark ein.

Die Mischung territorialer und funktionaler Perspektiven sowie die „Backstopper"-Funktion des Stadtrats versuchen zu verhindern, daß die unumgängliche Kleinräumigkeit der Planung zu einer zu großen Fragmentierung der Investitionen führt und übergeordnete Prioritäten - z.B. Neuordnung des Verkehrs - unterbewertet werden.

Wie Bürgerbeteiligung unter den konkreten Bedingungen lateinamerikanischer Städte und Gemeinden adäquat zu organisieren ist, befindet sich noch in einem weitgehend experimentellen Stadium. In jedem Fall ist es ein komplizierter Abstimmungsprozeß unter sehr unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Interessen, in dem sich Elemente direkter und repräsentativer Demokratie mischen und der auf Methoden moderner Meinungsforschung zur Erfassung der in der Regel nicht-organisierten Bevölkerungsmehrheit nicht verzichten kann - es sei denn um den Preis des politischen Scheiterns.


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