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Albrecht Ritschl
Die Situation in der Wirtschaftswissenschaft


1. Einführung

Dieser Beitrag will die wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildungen in Deutschland und im Ausland vergleichen. Dabei ergeben sich zwei Probleme und eine reizvolle Chance. Einerseits hat es Sonderentwicklungen der deutschen Wirtschaftswissenschaft gegeben; sie sind eng mit dem politischen Sonderweg Deutschlands zwischen 1848 und 1945 verbunden. Andererseits ist die strukturelle Misere von Ausbildung und Nachwuchsförderung in der Wirtschaftswissenschaft in Deutschland in großen Zügen ähnlich wie in vielen anderen Fächern. Jeder Bericht über dieses Fach ist insofern eine Darstellung pars pro toto. Soweit zu den Problemen, die gleich genauer erklärt werden. Die reizvolle Chance liegt darin, dass viele Fehlentwicklungen des deutschen Universitätswesens selbst in einem weiteren Sinne ökonomischer Natur sind: Die Wirtschaftswissenschaft ist nicht nur ein leidtragendes Fach, sondern selbst auch eine hochwirksame Methode, um die Schwierigkeiten im deutschen Universitätssystem und die Probleme bei einer europäischen Harmonisierung der Ausbildung zu analysieren. Auch das wird noch genauer erklärt.

Sonderentwicklungen des Fachs sollen allerdings am Anfang stehen. Der folgende Abschnitt 2 skizziert den Sonderweg der deutschen Wirtschaftswissenschaft und geht der Frage nach, inwieweit die Schwierigkeiten des akademischen Nachwuchses noch heute davon geprägt werden. Abschnitt 3 skizziert Überlegungen zu einem möglichen Vergleich der Ergebnisse mit anderen Fächern, ohne dies allerdings hier vertiefen zu können.

Allgemeine Schwierigkeiten des Fachs Wirtschaftswissenschaften und einen Vergleich mit Entwicklungen in anderen Ländern stellt Abschnitt 4 vor. Abschnitt 5 verallgemeinert diese Überlegungen, wechselt von der Betrachtung der Ökonomie als Gegenstand zu ihrer Verwendung als Methode und skizziert eine anreizökonomische Interpretation des deutschen Universitätssystems. Abschnitt 6 fasst die Ergebnisse zusammen, Abschnitt 7 zieht vorsichtig skeptische Schlussfolgerungen zu den mittelfristigen Zukunftsperspektiven. Das Nachwort (am Ende des Buches) skizziert unter dem Titel "Die verpatzte Reform" die Situation im August 2002, d. h. kurz vor der Herausgabe des Tagungsbandes.

2. Die deutsche Wirtschaftswissenschaft nach dem Sonderweg

Die deutsche Volkswirtschaftslehre ist gut hundert Jahre lang dem Sonderweg der deutschen Geisteswissenschaften gefolgt. Sie entwickelte dabei Traditionen und, wie man heute sagen würde, hermetische Forschungsdiskurse, die auf das westliche Ausland nur wenig Anziehungskraft ausübten. Unter dem Vorzeichen der "Histori-

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schen Schule" verbanden sich mentalitätsorientierte Ansätze mit einer Lehre von historischen Wirtschaftsstufen sowie einer schon zuvor entstandenen romantischen Volkswirtschaftslehre (daher der Name) zu einer Art von wirtschaftspolitischem "Nation Building". Über die Ablehnung der klassischen ökonomischen Wertlehre und ihren Ersatz durch die Arbeitswerttheorie bestanden Verbindungen nach links zum Marxismus, über die Bejahung weitgehender Staatsinterventionen und einer aktiven nationalen Machtpolitik ergaben sich Verbindungen nach rechts.

Dieser Sonderweg der deutschen Volkswirtschaftslehre hat über Generationen hinweg die Ausbildung deutscher Ökonomen geprägt. Ihr Unterrichtsprogramm bestand noch bis vor kurzem weitgehend in praxisnahen Fächern wie der Staatswirtschaftslehre oder Finanzwissenschaft, der Wirtschaftspolitik sowie der Betriebswirtschaftslehre; noch heute werden an den meisten deutschsprachigen Universitäten diese Fächer am Abschluss des Studiums gleichberechtigt mit der Wirtschaftstheorie und einem Wahlfach geprüft, die rein theoretische Ausbildung zählt im Examen gerade mal ein Fünftel.

Auch während des Sonderwegs ist allerdings das Ausland nicht ganz ohne Einfluss auf die ökonomische Theorie in Deutschland geblieben. Liberale Lehren drangen besonders durch die Vermittlung der Wiener Schule ein, die zwar die Kritik der Deutschen an der vermeintlich starren Ökonomik der Briten teilte, aber den Weg fort vom Individualismus nicht mitgehen wollte.

Ausgetragen wurden die Richtungskämpfe der deutschsprachigen Wirtschaftswissenschaft auf den Tagungen und in den Ausschüssen des Vereins für Socialpolitik. Gegründet von den Berliner Kathedersozialisten der ausgehenden Bismarck-Ära (daher die altertümliche Schreibweise), stellte dieser Verein eine Agitationsplattform für eine Sozialreform von oben dar. In seinen Enquêtenberichten entwickelte sich rasch ein reichhaltiges Programm für eine aktive Wirtschafts- und Sozialpolitik, das nicht ohne internationale Ausstrahlung blieb. Bald allerdings wandelte sich der Verein zu einem akademischen Berufsverband, in dem zunehmend konzeptionelle Debatten ausgetragen wurden und die tagespolitische Agitation in den Hintergrund geriet.

In den zwanziger Jahren stellte sich die akademische Landschaft der Nationalökonomie in Deutschland als ein buntes Gemisch verschiedenster Auffassungen dar, die von Max Webers Soziologie über alle Spielarten des Sozialismus bis hin zu einem orthodoxen Wirtschaftsliberalismus reichten, ohne dass hinsichtlich Gegen-stand, Methode und Ergebnis besonders viel Übereinstimmung hätte festgestellt werden können. Wenn es Tendenzen in der deutschen Wirtschaftstheorie vor 1933 gab, so waren es die ersten Anzeichen eines radikalen Umbruchs hin zur raschen Übernahme mathematischer und statistischer Methoden durch eine junge Forschergeneration, oftmals von Immigranten und unter starkem Einfluss einer ebenfalls sich mathematisierenden Gruppe der Wiener Schule.

Diese Tendenzen sind 1933 radikal unterbrochen worden; vor allem die österreichisch geprägte jüngere Generation mathematisch orientierter Forscher emigrierte vollständig und gelangte in den USA teilweise zu nachhaltiger Wirkung. Von geringerer Bedeutung blieb die sozialistische Emigration, im wesentlichen wegen eines

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radikalen Kurswechsels der amerikanischen Wirtschaftspolitik nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. Immerhin wanderten mit den Arbeitswerttheoretikern auch die Exponenten einer gemäßigt staatssozialistischen Finanzwissenschaft aus, deren Lehrbücher die internationale Entwicklung in diesem Fach z. T. bis in die siebziger Jahre bestimmten.

Zurück blieb ein Potpourri. Volkswirte aller denkbaren Richtungen von links bis rechts dienten sich ab 1933 dem neuen Regime an und beeilten sich, ihre jeweiligen Überzeugungen als besonders nationalsozialistisch anzupreisen. Man ist sich in der Forschung heute weitgehend darin einig, dass das Dritte Reich in wirtschaftspolitischen Fragen keine eigene Ideologie besessen hat und seine sozialdarwinistische Doktrin unterschiedliche wirtschaftspolitisch pragmatische Ausdeutungen zuließ. Der zunehmend umfassende Apparat der Devisenbewirtschaftung und kriegswirtschaftlichen Planung erzeugte seine ganz eigene Nachfrage nach Volkswirten mit praxisnaher Ausbildung, einem gewissen Überblick über verschiedene Aspekte des Wirtschaftslebens, jedoch nur geringen, über allgemeine Betrachtungen kaum hinausgehenden theoretischen Kenntnissen oder methodischen Fertigkeiten. Hitler selbst hat seine geringe Wertschätzung der Nationalökonomie gelegentlich in seinen berüchtigten Tischgesprächen und Monologen kundgetan, so einmal in der Bemerkung, der Kontinent lebe auf, man brauche bloß alle Lehrstühle der Volkswirtschaftslehre für zehn Jahre zuzusperren.

Dies alles prägte die Ausgangslage des Fachs nach 1945. Die personellen Kontinuitäten in der deutschen Volkswirtschaftslehre über den Zusammenbruch hinweg sind kollektivbiographisch bislang kaum beschrieben worden; eigene Versuche in früheren Jahren hat der Verfasser angesichts deprimierender Ergebnisse rasch wieder aufgegeben. Es scheint allerdings nicht unberechtigt, für die fünfziger Jahre von einer doppelten Isolation der deutschen Wirtschaftstheorie auszugehen, gegeben einerseits durch ihre Verstrickung im Dritten Reich, die beim Wiederanknüpfen internationaler Kontakte kaum dienlich sein konnte, andererseits durch die methodologische Isolierung der Dagebliebenen und ihrer Schüler. Verstärkt wurden beide Effekte noch durch die unvermeidliche Ideologisierung der Standpunkte sowie den stets mitschwingenden Vorwurf der Kollaboration deutscher Ökonomen bei der NS-Wirtschaftslenkung und besonders bei dem gesteuerten NS-Aufschwung.

Zugleich aber kann man argumentieren, dass vom praktischen Standpunkt aus eine Modernisierung der deutschen Volkswirtschaftslehre nach dem zweiten Weltkrieg nicht nötig schien. Tatsächlich war der wirtschaftspolitische Reformbedarf nach der Währungsreform von 1948 nur gering, er beschränkte sich im wesentlichen auf die Aufhebung der kriegswirtschaftlichen Planungs- und Preisvorschriften. Die Basis der wirtschaftlichen Gesetzgebung sowie das institutionelle Grundgerüst der Wirtschaftsordnung in Deutschland waren vom Dritten Reich nur sehr partiell beschädigt worden, im wesentlichen wurden ihr lediglich kriegswirtschaftliche Maßnahmegesetze übergestülpt. In großen Teilen stammten sogar wesentliche Regelungen zur Ordnung oder Beschränkung des Wettbewerbs in einzelnen Wirtschaftszweigen aus den frühen Tages des Regimes; im Bereich der Ausnahmen vom Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen sind viele dieser Bestimmungen noch bis vor kurzer Zeit fast unverän-

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dert in Kraft geblieben. Gefragt waren daher nach dem Krieg Experten, die sich mit den bestehenden Regelwerken auskannten und sie nach Aufhebung der kriegswirtschaftlichen Maßnahmen wieder in Kraft setzen und weiterentwickeln konnten. Eine fundamentale Krise war somit auch von der Nachfrage nach Fachwissen her zunächst nicht gegeben.

Eine Öffnung und Neuorientierung des Fachs setzte erst allmählich in den sechziger Jahren ein. Damals wurde der heute noch übliche Aufbau des volkswirtschaftlichen Studiums geregelt. Dabei kam es zu einem Kompromiss, der einen gewissen methodischen Kenntnisstand wohl garantierte, aber hinter den Anforderungen des westeuropäischen oder angelsächsischen Forschungsbetriebs zurückblieb. Infolgedessen blieb der Austausch zwischen deutscher und internationaler Forschung gering und wurden neue Techniken, Paradigmen und Unterrichtsweisen oft erst nach geraumer Zeit vermittelt. Unvollständig ausgebildet, beschränkten deutsche Nachwuchskräfte ihre Migration ins Ausland meist auf einen eher frustrierenden einjährigen Gastaufenthalt in den USA oder England. Ausnahmen gab es nur in Randbereichen, so etwa bei den ökonomisch relevanten Teilgebieten der Statistik, in der auch in Deutschland die Ausbildung auf international vergleichbarem Stand war, oder in meinem eigenen Fach, der Wirtschaftsgeschichte, wo auch mit der üblichen deutschen Ausbildung eine international wettbewerbsfähige Forschungsleistung erzielt werden konnte. In beiden Fächern fand ein reger Austausch von Personen und Ideen in beiden Richtungen über die Landesgrenzen statt.

Seit Ende der siebziger Jahre hat sich diese Lage geändert. Angestoßen wurde das weitgehend durch die Volkswirtschaftliche Fakultät der Universität Bonn. Hier orientierte man Ausbildung und Berufungspolitik stark an der mathematischen Gleichgewichts- und Spieltheorie, führte nach dem Vorbild der Ingenieurwissenschaften ein kumulatives Diplom mit Anrechnungspunkten ein und tat sich mit der "London School of Economics" sowie der Universität von Louvain in Belgien zum Europäischen Doktorandenprogramm zusammen, in dem Bestreben, durch gemeinsame Anstrengungen ein theoretisch hochkarätiges Doktorandenstudium nach amerikanischem Muster anbieten zu können. Das hatte zwei Konsequenzen. Einerseits erhöht sich seitdem stetig die Anzahl deutscher Nachwuchswissenschaftler, die in der Forschung international beachtete Leistungen erbringen. Andererseits hat sich die Abwanderung deutscher Wissenschaftler eher verstärkt. Konkurrenzfähig ausgebildet und mit Auslandserfahrung und -kontakten versehen, nahm eine ganze Reihe erstklassiger Nachwuchskräfte akademische Karrierechancen im Ausland wahr; nur ein Teil ist bisher nach Deutschland zurückgekehrt. Das Vorbild Bonns hat mittlerweile auf andere Universitäten gewirkt und zu Nachahmungen geführt, entweder dem Eintritt in ähnliche transnationale Doktorandenprogramme (Mannheim) oder dem Aufbau eigener Strukturen für die Doktorandenausbildung (u. a. München).

Ebenfalls auf einer erfolgreichen Einzelinitiative beruht der Aufbau eines internationalen Forscherverbandes nach dem Fellow-System am "Center for Economic Studies" der Universität München. Mit einem gewissen Schwerpunkt auf Finanzwissenschaft und Wirtschaftspolitik, also auf die traditionellen relativen Stärken der deutschen Wirtschaftswissenschaft, ist hier ein international beachtetes Kommunika-

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tionsforum geschaffen worden, das einen regelmäßigen internationalen Austausch von Wissenschaftlern ermöglicht und die Verbindung zwischen akademischer Wirtschaftswissenschaft und Politik institutionalisiert hat. Infolge dieser Initiative kann in diesen Bereichen die internationale Integration der deutschen Wirtschaftswissenschaft heute als vollständig angesehen werden. Ausgestrahlt haben diese Modernisierungsprozesse auch auf den Verein für Socialpolitik, der in den vergangenen Jahren rasch und systematisch vom altehrwürdigen akademischen Berufsverband zu einer modernen Tagungsplattform umgestaltet worden ist.

3. Vom Sonderweg zum Sonderfall? Skizze eines Vergleichs

Naheliegend ist nun der Einwand, mit dem Sonderweg sei das Problem der deutschen Wirtschaftswissenschaft ja hinreichend erklärt, weiterer Überlegungen bedürfe es nicht, vor allem und schon gar nicht einer Reform. Universitäts- und Ausbildungsreform wären dann die falsche, weil verallgemeinernde Reaktion auf einige Sonderprobleme in diesem und vielleicht noch einigen anderen Fächern. Das scheint mir aber nicht haltbar: Andere Fächer, die nicht gleichermaßen vom Sonderweg betroffen waren, müssten dann ja erheblich besser abschneiden. Sei diese These einmal für den Moment weiterverfolgt. Immerhin gibt es ja solide Hinweise darauf, dass es etwa den Naturwissenschaften in Deutschland nicht so schlecht gehen kann. Bestätigt wird das durch die Zahl der Nobelpreise, die seit einer Reihe von Jahren wieder an Deutsche vergeben wurden, auch wenn nicht mehr die hohen Prozentsätze von vor 1914 erreicht werden (ca. 30 % aller Preise).

Ohne viel von den Forschungsstrukturen der Naturwissenschaften zu verstehen, möchte ich allerdings einige Beobachtungen machen, auch wenn diese vielleicht nicht repräsentativ, womöglich widerlegbar und unter Umständen ganz falsch sind. Dem politisch denkenden Ökonomen fällt auf, dass ganz selten die Forschungen, die in Deutschland zum Nobelpreis führten, an einer deutschen Universität durchgeführt wurden. Rechnen wir die Handelsbilanz der Nobelpreise nicht nach der Staatsangehörigkeit der glücklichen Gewinner, sondern nach dem Standort der Forschungseinrichtungen ab, an denen der jeweilige Geniestreich ausgeführt wurde, dann sieht es für Deutschland als Forschungsstandort (im Gegensatz zu Deutschland als Exporteur potentiell nobelpreisverdächtiger Köpfe) vermutlich noch heute sehr schlecht aus. Wie viele amerikanische Nobelpreise beruhen auf Arbeiten an deutschen Forschungseinrichtungen? Ich vermute, keine einzige!

Schlimmer noch: im letzten Absatz sind wir einem öffentlichen forschungspolitischen Diskurs gefolgt, der vorschnell Forschungseinrichtungen als ganzes mit der Universität identifiziert. In vorsichtigerer Analyse wäre hier erneut zu differenzieren. Forschungsförderung in den deutschen Naturwissenschaften wird zu großen Teilen außerhalb der Universitäten betrieben, eine Tradition, die im übrigen mit der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückreicht und einige ihrer Wurzeln vermutlich in den schon damals entstehenden Disfunktionalitäten der deutschen Universität haben dürfte.

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Immerhin gibt es erfolgreiche Repatriierungen von Nobelpreisträgern nach Deutschland, gelegentlich jedenfalls. Ich erinnere mich an das Gegenbeispiel eines Physikers, der in einem bekannten Industrielabor in der Schweiz eine Konstruktion miterfunden hatte, die ihm anteilig den Nobelpreis eintrug. Der Mann wollte, frisch im Besitz des Preises, nach Deutschland zurück und erhielt nach langem Gerangel an einer großen süddeutschen Universität mit einer früher mal weltberühmten physikalischen Fakultät eine C3-Professur, immerhin. Nach kurzer Zeit war er wieder fort. Es sei zugegeben, dass dieser Vorfall über ein Jahrzehnt her ist und sich seitdem manches geändert haben mag. Ich möchte trotzdem betonen, dass von erfreulichen Erfolgen deutscher Wissenschaftler nicht auf die strukturelle Gesundheit des deutschen Universitätsbetriebs geschlossen werden darf. Das Phänomen des Brain Drain unterscheidet sich nicht wesentlich nach Fächern, wenn oder sobald eine gewisse Konkurrenzfähigkeit der Ausbildung in Deutschland gegeben ist.

4. Die Situation nach der Bologna-Übereinkunft

Vor diesem Hintergrund muss die deutsche Situation in den Wirtschaftswissenschaften nach der Bologna-Deklaration und ihrer Umsetzung in den anderen europäischen Ländern gesehen werden. Einige Länder Westeuropas sowie Skandinaviens haben mit der Teilung des Studiums in ein Untergraduierten- und ein Graduiertenstudium schon vor Jahren begonnen. In Spanien, wo ich fünf Jahre lang an einer neugegründeten Universität unterrichtete, existiert ein vorgeschriebenes Graduiertenstudium als sogenannter Dritter Zyklus, ohne den die Promotion nicht mehr erteilt wird. Ebenso ist es in England, wo noch bis vor nicht allzu langer Zeit nicht einmal die Promotion für eine Universitätskarriere erforderlich war. Ich hatte deswegen einmal Schwierigkeiten, einen britischen Kollegen zur Teilnahme an einem Rigorosum einzuladen, weil das spanische Promotionsrecht dafür nur Promovierte akzeptiert. Beide Länder sind in der Wirtschaftswissenschaft zu einer regelrechten Attraktion für Doktoranden aus dem europäischen Ausland geworden, auch für Deutsche. Ebenso findet man Europäer in wachsender Zahl unter der sogenannten "junior faculty" dieser Universitäten, namentlich in England in den kleineren Provinzuniversitäten. Auffallend ist in beiden Ländern im Vergleich zu Deutschland die schlechte Bezahlung, bei den Doktoranden auch die Belastung durch hohe Studiengebühren. In England gesellt sich das Problem eines eigenen Brain Drain in die USA hinzu. Trotzdem können sich diese Programme über Zulauf nicht beklagen und die Fakultäten werden mit Bewerbungen für Juniorpositionen regelrecht überschwemmt.[Fn_1]

Der Brain Drain hat in Deutschland im Bereich der Wirtschaftswissenschaften die Lage schnell entspannt. Es wird allgemein Klage geführt, dass man keine Assistenten mehr findet, weil gute Nachwuchskräfte sich für die deutsche Universitätskar-

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riere nicht mehr interessieren und entweder in die Wirtschaft oder gleich ins Ausland gehen. Meine eigene Erfahrungen schienen diesen Eindruck nicht rundweg, aber doch im Großen und Ganzen zu bestätigen.

Dabei kam man sich auch nicht darauf verlassen, dass deutsche Graduiertenprogramme etwas bringen. Zwar gibt es dafür zahlreiche Interessenten, in den meisten Fällen aber scheinen sie das nur als akademischen "Durchlauferhitzer" zu nutzen, um so rasch wie möglich nach England oder Amerika weiterzuziehen. Damit wiederholt sich eine Erfahrung, die schon die Karlsuniversität in Prag und die "Central European University", jetzt in Budapest, gemacht haben. Offenbar gibt es etwas im deutschen System, was den Verbleib uninteressant macht, gerade wenn der Ausbildungshintergrund konkurrenzfähig ist. Die Verbesserung der theoretischen Ausbildung in der Wirtschaftswissenschaft in Deutschland hat also ein altes Defizit beseitigt, aber zu einem neuen Problem geführt. Je mehr sich unter der Bologna-Übereinkunft die Ausbildung an das zweistufige System angleicht, wird sich auch dieses Problem weiter verschärfen.

5. Anreizökonomische Überlegungen zur Ausbildung und Struktur an der deutschen Universität

Noch immer bleibt zu erklären, warum die deutsche Universität Fehlfunktionen aufweist, auch und gerade dann, wenn sie ihre Ausbildung dem internationalen Standard annähert, wie etwa in der Ökonomie. Junge Wissenschaftler haben augenscheinlich einen Anreiz, dem deutschen Universitätssystem den Rücken zu kehren, sobald sie nur können. Je mehr ihnen die Ausbildung dabei hilft, um so größer wird die Zahl derer, die diese Möglichkeit wahrnehmen. Anscheinend sind im Ausland, insbesondere in den USA oder unter ähnlichen institutionellen Voraussetzungen, die Bedingungen für Nachwuchswissenschaftler besser – eine triviale Feststellung für jeden, der es selbst erlebt hat.

Das führt zu einer zynischen, für das Verständnis der Problematik aber leider notwendigen Schlussfolgerung: Wer den Brain Drain ausdünnen und gleichzeitig auch sonstige Universitätsreformen verhindern will, der sorge am besten für eine Ausbildung, die mit dem angelsächsischen Standard inkompatibel und von möglichst schlechter Qualität ist. Dem Nichtökonomen klingt das machiavellistisch; auf dem freien Markt gibt es das Problem aber täglich. Warum soll eine Firma in die Ausbildung ihrer Mitarbeiter investieren, wenn sie sie danach um so wahrscheinlicher an die Konkurrenz verliert? Praxis und Theorie finden im Fall eines Unternehmens die einfache Lösung, möglichst ausschließlich in firmenspezifische Fähigkeiten zu investieren. In der Firma selbst lohnt sich eine solche Ausbildung für den Mitarbeiter, außerhalb kann er damit nichts anfangen.

Gerade dies tut die deutsche Universität, allerdings mit abnehmendem Erfolg. Promotion und Habilitation haben bekanntlich in den angelsächsischen Ländern keine richtigen Parallelen; der PhD oder DPhil liegt in der fachlichen Anforderung irgendwo zwischen beiden und kommt im Lebenszyklus normalerweise früher als

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die deutsche Habilitation. Beide Promotionsschritte gehen in Deutschland mit höheren Graden persönlicher Abhängigkeit einher, als das im angelsächsischen System der Fall ist. Ein wichtiges Spezifikum der Fähigkeiten deutscher Nachwuchs-wissenschaftler richtet sich damit auf die Person des Professors. Mit ihm auszukommen, die ihm gefallenden Themen zu suchen und andere zu meiden, seine Freunde und Feinde zu den eigenen zu machen, sind jederzeit notwendige und gelegentlich auch hinreichende Bedingungen für das akademische Fortkommen im deutschen System. Bei einem Wechsel von einem Lehrstuhl zum anderen würden diese Fähigkeiten entwertet und müssten am neuen Ort neu erworben werden, mit allen entsprechenden Einbußen. Was für Folgen das im Einzelfall hat, wie viele intellektuelle Gefängnisse hier schon errichtet worden sind, von wie vielen halb angefangenen und nachher für ein anderes Thema aufgegebenen Habilitationsschriften ich zu berichten wüsste (mit mir selbst als glücklicher Ausnahme), davon sei hier nicht die Rede, ebenso wenig von den leicht vorstellbaren Schwierigkeiten der Frauenförderung in diesem System der jahrelangen Abhängigkeit von einer einzelnen Person.

Die Habilitation und das Lehrstuhlsystem mit Assistenten hat es in Deutschland nicht immer gegeben. Historisch gesehen ist die Habilitation ein Produkt der Konkurrenz um Kolleggelder. Hatten in der frühneuzeitlichen Doktorenuniversität zahlreiche oft mittellose Doktoren um Einnahmen aus wenigen Studenten konkurriert, so verschaffte die Habilitation ab dem 18. Jahrhundert einem kleinen Kreis von Pfründeninhabern eine Steuerungsmöglichkeit. Durch Kooptation in den Kreis der Lehrberechtigten und durch Festlegung der venia legendi konnte der Zugang zu den lukrativen Kolleggeldern kontrolliert werden, der Doktorgrad allein berechtigte hierzu nun nicht mehr. Die Habilitation war also eine Marktzugangsbeschränkung, in den Händen des Kartells örtlicher Hochschullehrer wirkte sie wie ein zünftlerisches Steuerungsinstrument, der Meisterprüfung im Handwerk nicht unähnlich. Dass dies nicht in jedem Fall zum besten der Wissenschaft gereicht, sondern oft anderen, individuellen Interessen diente, darf man annehmen. In der Wirtschaftswissenschaft nennt man das "moral hazard" oder "moralisches Risiko".

Die Konkurrenz um Hörergelder ist auch einer der Hintergründe beim Ausbau der Lehrstuhlsystems zu Miniaturinstituten mit Assistenten im frühen 20. Jahrhundert gewesen. Hintergrund war die Hochschulexpansion mit einem System finanzieller Anreize für Professoren, das ein sehr niedriges Fixum mit erheblichen Kolleggeldern und beträchtlichen Funktionszulagen verband. An der Heidelberger Universität soll noch vor dem Ersten Weltkrieg die Übernahme des Rektorats für ein Jahr lukrativ genug gewesen sein, um mit der Zulage ein Haus erwerben zu können. Es lag nahe, dass die Kollegen auf der häufigen Rotation dieses Amtes bestanden. Der Einnahmevergrößerung aus Kolleggeldern hingegen setzten architektonische Gegebenheiten eine offensichtliche Grenze. Allerdings nur kurzfristig: Im Vergleich zu ausländischen Universitäten fällt am meisten die beträchtliche Größe der Hörsäle in den erhaltenen deutschen Universitätsbauten des Kaiserreichs auf. Für die Professoren war es finanziell interessant, möglichst viele Studenten anzuziehen und im jeweiligen Fachgebiet die "Große Vorlesung" zu halten. Für dieses Unternehmen brauchte es aber eine personelle Infrastruktur. Assistenten und später dann das eige-

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ne Sekretariat wurden zum Attribut des in der Fakultät dominierenden "Mandarins", vor allem aber auch zum unersetzlichen Hilfsmittel seiner Einkommensvermehrung. Unmittelbar wird sichtbar, worin der nicht immer unausgesprochene implizite Kontrakt zwischen Lehrstuhlinhaber und Mitarbeitern bestand. Nach loyaler Mitarbeit winkte dem Doktoranden, nach Möglichkeit durch den Einfluss des Lehrherrn vermittelt, die Anstellung außerhalb der Universität, dem Habilitanden die Berufung auf eine Professur mit ähnlichen Möglichkeiten.

Voraussetzung hierfür war allerdings die umfassende ständische Kontrolle des Ausbildungs- und Beförderungswesens, das die Konkurrenz beschränkte und die Definition von Qualität auf jeder Stufe von Ausbildung und Laufbahn nicht dem akademischen Arbeits- oder Publikationsmarkt, sondern der eigenen Fakultät überließ.

Man kann sich die Frage vorlegen, warum diese Struktur anscheinend dabei ist, aufzubrechen. Der schiere Umstand, dass Tagungen wie die heutige stattfinden und das akademische Ausbildungswesen in den Blickpunkt des ökonomischen Interesses gerückt ist, weist schon auf eine Änderung der Umstände hin.

Um im anreizökonomischen Modell zu bleiben: dies hat augenscheinlich mit einem Kontrollverlust zu tun. Der Grad der Marktbeherrschung durch das akademische Zunftwesen hat abgenommen, es existieren attraktivere Wahlmöglichkeiten, das Professorenkartell verliert sozusagen Marktanteile. Wenn junge Nachwuchskräfte wählen können, werden sie natürlich das tun, was ihnen am attraktivsten scheint, was ihnen weniger "Ochsentour" und mehr Unabhängigkeit verspricht. In der Ökonomie nennt man das "outside option" oder "Ausstiegsoption". Ist erst einmal ein Zustand eingetreten, in dem solche Möglichkeiten zum Ausstieg sich eröffnen und interessant erscheinen, kann man den alten Strukturen zwei Perspektiven voraussagen: entweder eine Implosion oder, schlimmer, ihre Beschränkung auf drittrangige Kräfte, die auch bei verbesserter Ausbildung mit der internationalen Konkurrenz nicht mitkommen. In der Ökonomie nennt man das "adverse selection" oder "negative Auslese".

6. Was tun?

Unser Argument läuft darauf hinaus, dass akademische Ausbildung und Universitätsstruktur unmittelbar zusammenhängen und nur gemeinsam verbessert werden können. Die überkommene deutsche Universitätsstruktur war ein geschlossenes System von Handlungsanreizen – früher sogar ganz handfester materieller Art –‚ die es für jeden einzelnen Akteur lohnend machten, sich dem genius loci der alma mater zu unterwerfen und sich systemkonform zu verhalten. Genau dadurch pflanzte sich dieses System fort und selektierte positiv diejenigen, deren Verhalten selbst wieder das System stabilisierte. Gegenwärtig erleben wir den Zusammenbruch dieses Regelwerks von Anreizen durch die Öffnung nach außen. Knackt man aber ein solches Regelwerk an einer Stelle, funktionieren seine Anreize auch an anderen Stellen nicht

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mehr. Dieser Zustand scheint nunmehr einzutreten. Und er droht die Umsetzung der Bologna-Deklaration zu gefährden.

Ein leistungsfähiges zweistufiges Studium funktioniert wie bei einem guten Sportverein, nämlich durch die Trennung von Breitensport und Spitzensport. Ich bin ein schlechter Tennisspieler, aber ein nicht ganz so schlechter Fachwissenschaftler. Das bisherige deutsche Studium ist aber so, als wenn ich neben Boris Becker in der gleichen Tennishalle trainieren würde. Dass das schlicht widersinnig ist, versteht jeder. Man kann sich durchaus ein ganzes Stück weit in eine Wissenschaft einarbeiten und mit diesem Breitenwissen zu einem produktiven und respektablen Gebrauchsakademiker werden. Aber nicht jeder will und kann sich in die letzten Verästelungen und noch unbewiesenen Spekulationen des neuesten Forschungsstandes hineinwagen.

Im Sportverein braucht man aber Spezialkräfte, um die Abteilung Spitzensport überhaupt aufbauen und konkurrenzfähig machen zu können. Verschärft stellt sich dasselbe Problem in der Universität; leistungsfähige Lehre in einem Graduiertenprogramm setzt junge, hervorragend ausgebildete Dozenten voraus, deren eigenes Arbeiten sich wirklich am Forschungsstand orientiert und nicht Jahre dahinter. Beide Reformen, die des Ausbildungswesens und die der akademischen Laufbahn, hängen also zusammen. Will man die eine, muss man die andere wollen, oder man wird in die Falle der negativen Auslese stolpern. Wer die Ausbildung harmonisiert, muss das auch mit den Laufbahnvoraussetzungen tun, beides sind zwei Seiten derselben Medaille.

Hier kommen wir wieder zum Problem des Brain Drain. Als Gegenmaßnahme ist hierzu jüngst das Instrument der Juniorprofessur geschaffen worden. Die Logik des obigen Arguments funktioniert augenscheinlich: Mit der Öffnung des akademischen Marktes gibt es einen Domino-Effekt, bei dem eine Institution nach der anderen sich als hinderlich erweisen wird.

Dennoch muss man der Juniorprofessur einen gemischten Erfolg voraussagen. Einerseits wird es ihr, wenn sie sich überhaupt verbreiten darf, gelingen, das alte System der paternalistisch herbeigeführten Habilitation weiter zu unterminieren. Denn es führt Konkurrenz und einen Arbeitsmarkt dort ein, wo bislang nur Treue zum Dienstherrn zählte. Juniorprofessoren sind nicht mehr Mitarbeiter eines Lehrstuhls, sondern Fakultätsmitglieder. Damit gewinnen sie die Unabhängigkeit, die bislang zwischen Promotion und Habilitation nicht bestand. Ohne Frage wird dadurch das überkommene Lehrstuhlprinzip geschwächt. Andererseits krankt die Juniorprofessur an einem schweren Konstruktionsfehler, solange sie keine Anwartschaft auf eine Übernahme ins Dauerverhältnis ermöglicht. Die deutsche Juniorprofessur ist keine "tenure-track"-Position wie die vergleichbare amerikanische Assistenzprofessur, sie ist lediglich ein Zeitvertrag, der im amerikanischen Markt als weniger attraktiv bewertet wird, und steht in Wirklichkeit einer Post-Doc-Position wesentlich näher, allerdings mit umfangreicheren Lehrverpflichtungen.

Die Juniorprofessur ist also lediglich eine halbe Reform, so begrüßenswert sie als Fortschritt ist. Damit bleibt sie aber nur begrenzt attraktiv für alle, die auch im Ausland Arbeitsmarktchancen haben, also tendenziell gerade die besseren Nach-

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wuchskräfte, die für eine Ausbildungsreform à la Bologna dringend gebraucht werden. Es hilft auch wenig, dass die Juniorprofessur noch kein Weg an der Habilitation vorbei ist. Die Habilitation ist ihrer Natur nach berufsständisch, die Juniorprofessur karriereorientiert, beide Instrumente passen nicht zueinander

Dienstrechtlich wäre es relativ unproblematisch, den amerikanischen "tenure track" zu übernehmen, allerdings müsste dafür die Habilitation völlig fallen. In der Schweiz ist die Entfristung von Assistenzprofessuren ein bekanntes Instrument, der nächste Schritt ist dann die Beförderung ins Extraordinariat, später die Bestallung als ordentlicher Professor. Auch in anderen europäischen Ländern haben sich Möglichkeiten gefunden, die Anwartschaftsprofessur dienstrechtlich zu ermöglichen.

Der Widerstand gegen eine solche Lösung in Deutschland wird oft mit dem Hausberufungsverbot begründet. Das Verbot von Hausberufungen ist eine gute und richtige Sache, da es Dynastiebildungen und wissenschaftliche Inzucht erschwert. Die oft erschreckenden Folgen seiner Abwesenheit kann man etwa in Spanien beobachten, wo an zahlreichen eher traditionsorientierten wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten nur selten Berufungen von außen vorkommen. Allerdings gibt es das Hausberufungsverbot, im 19. Jahrhundert aus Deutschland übernommen, in aller Strenge auch in Amerika, wo das "tenure-track"-System gilt. In den USA ist es so organisiert, dass niemand ohne mehrere Jahre der Abwesenheit eine Assistenzprofessur an derselben Universität erhalten kann, an der der Doktorgrad erworben wurde. Diese Lösung würde sich anbieten, wenn man die Defekte der gegenwärtigen Juniorprofessur beseitigen und sie zu einer echten Assistenzprofessur mit periodischer (auch externer) Evaluation und der Möglichkeit zur Entfristung fortentwickeln will. Erst wenn das gewährleistet ist, wird die Juniorprofessur attraktiv genug sein, um eine echte Karriereoption für wirklich qualifizierte Leute darzustellen. Und nur dann wird gesichert sein, dass das zweistufige System der Ausbildung funktioniert, erst dann kommt mit den Reformen ein neues System und nicht hinter neuer Verkleidung wieder das alte.

Auch das wird den Erfolg des neuen Ausbildungssystem allein nicht garantieren. Die Umgestaltung der Graduiertenstudiengänge in Westeuropa geht regelmäßig mit neuen Finanzierungsformen einher. Eine der wichtigsten ist natürlich die Zuteilung von Lehrverpflichtungen. Es gehört in jedem guten Graduiertenprogramm zur Ausbildung, die Kandidaten durch verschiedene Lehrverpflichtungen hindurchzuschleusen. Das wird zentral von einem Studiendekanat entschieden; Erbhöfe oder gar die Bindung der Lehre an einen Lehrstuhl gibt es hierbei nicht. Zusätzliche Finanzmittel werden durch Studiengebühren, besonders von den weniger guten Studenten, eingenommen. Ein gut geführtes Graduiertenprogramm ist eine "cash cow" der Fakultät.

Man stelle sich die Schwierigkeiten vor, die bei einer Übertragung dieses Modells auf eine deutsche Lehrstuhluniversität entstehen. Das nötige Zusammenwerfen der Ressourcen, die Konzentration weitreichender Entscheidungsbefugnisse in einer Hand und die Entscheidung über die Verwaltung der eingenommenen Ressourcen wird sich nur schwer mit dem Prinzip der kollektiven Leitung vereinbaren lassen, wie es in Deutschland noch weitgehend üblich ist.

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7. Schlussfolgerungen

Für die Wirtschaftswissenschaft gibt es für die Zukunft kaum Sonderprobleme, allenfalls werden sich die Defizite der deutschen Reformversuche hier besonders stark auswirken. Einerseits ist das Fach inzwischen international offen und der Konkurrenz ausgesetzt, andererseits existiert kaum außeruniversitäre Forschung, die ein Ausweichen ermöglichen würde.

Die bisherigen deutschen Reformen und Harmonisierungsversuche sind zu begrüßen. Sie sind aber unvollständig, und das wird ihren Erfolg gefährden. Akademische Ausbildung, universitäre Laufbahn und die Organisation der Fakultäten hängen eng zusammen, man kann nicht das eine ohne das andere reformieren wollen. Habilitation, Lehrstuhlsystem und einstufiges Studium bedingen einander. Will man das zweistufige System, wird man auch Habilitation und Lehrstuhlsystem abschaffen müssen. Eine halbe Reform ist schlimmer als gar keine Reform, sie kann nicht funktionieren, wie man das erwartet. Der Grund hierfür und zugleich das Antriebsmittel für weitere Reformen ist und bleibt der Brain Drain.

Um die Dinge voranzutreiben und nicht von den Ereignissen getrieben zu werden, sind die folgenden Reformen gleichzeitig notwendig:

  • Abschaffung des Lehrstuhlssystems, Einbringen der Doktorandenstellen in Graduate Schools als gemeinsame Ressource der Fakultäten.
  • Abschaffung der kollektiven Leitung der Fakultäten.
  • Einführung von Studiengebühren für Graduiertenprogramme.
  • Abschaffung der Habilitation, dafür Hausberufungsverbot für eigene Doktoranden.
  • Ausbau der Juniorprofessur zur Anwartschaftsprofessur etwa mit den Stufen C2-C3-C4 nach externer Evaluierung.
  • Ausbau finanzieller Anreize, sowohl für die individuelle Evaluierung als auch auf Fakultätsebene, etwa nach einer zu verbessernden Variante der britischen Forschungsevaluierung.[Fn_2]

[Fußnoten]

1. - Ich hatte einmal als "recruiting officer" der Universität Pompeu Fabra in Barcelona mit ca. 400 Bewerbungen, davon 300 ernsthaften, für 4 Stellen zu tun.

2. - Vgl. dazu den Beitrag von Till Geiger, oben S. 41 ff.


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