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[Seite der Druckausg.: 87]



Henning Westheide
Wissenschaftliche Migration –
Erfahrungen aus den Niederlanden


Einleitung

Vielen Bildungspolitikern in der Bundesrepublik erscheinen die Niederlande als leuchtendes Beispiel für die Bewältigung aktueller Probleme. Als solches verstehen sich auch die Niederlande selbst, wie sich bei Besuchen von Bildungsausschüssen deutscher Länder in Leiden feststellen lässt. Die Niederlande haben ja auch viel erreicht: drastische Kürzungen der Bildungsausgaben, Verkürzung der Studienzeiten, so daß das Gros der Hochschulabsolventen mit 22 Jahren fertig ist, erneuerte Studiengänge, die den internationalen Verflechtungen und den Anforderungen der Informationsgesellschaft Rechnung tragen und zur Quasivollbeschäftigung beitragen. Selbst in der Forschung zeigen zumindest die Zahl der Veröffentlichungen in den führenden englischsprachigen Publikationsorganen, dass die niederländischen Wissenschaftler zur Spitzengruppe gehören.

Im ersten Teil meines Beitrags soll untersucht werden, wie dieser Modernisierungserfolg gelang und womit er bezahlt wurde. Denn Modernisierung heißt ja nicht unbedingt Verbesserung, sondern nur Anpassung an Zwänge, denen man als Folge der Veränderungen in Politik, Gesellschaft, Technik etc. zu unterliegen glaubt. Im zweiten Teil sollen einige Probleme angesprochen werden, die deutsche Migranten in den Niederlanden haben können.

Universitätsausbildung im holländischen Modell

Oberstes Ziel der niederländischen Politik ist die optimale Position in der internationalen wirtschaftlichen Konkurrenzsituation. Der Staat hat vor allem die Aufgabe, hierfür die günstigsten Bedingungen zu schaffen. Schon seit Ende der siebziger Jahre spricht man von der "Bv Nederland" (Niederlande GmbH), deren Betriebszielen sich alle unterzuordnen haben, auch Lehre und Forschung an den Hochschulen. Dieses betriebsmäßige Denken ist die Grundlage des niederländischen Erfolgs wie auch die des Images von diesem Erfolg, in dem auch die Informationspolitik am Verkauf der eigenen Ideen orientiert ist. Die Hochschulen sind hauptsächlich auf zweierlei Weise durch diese Faktoren betroffen: einmal als Teil des nach dem Sozialwesen größten Ausgabenpostens Bildung, zum anderen als wichtiger Faktor für die Qualifikation von Arbeitskräften und die Bereitstellung von Wissen.

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Der Erfolg der niederländischen Ökonomie ist vor allem durch den Abbau des staatlichen Geldbedarfs und die Senkung der Lohnkosten verursacht. Der Bildungssektor ist daran in zweierlei Weise beteiligt: erstens ist der Anteil der Bildungsausgaben von 7 % des Bruttosozialprodukts im Jahre 1987 auf 5,1 % im Jahre 1997 gesunken, während dieser in der OECD im gleichen Zeitraum gerade um 2,5 % zugenommen hatte.[Fn_1] Dieser Trend hat sich bis heute fortgesetzt. Da die Lohnkosten in diesem Bereich einen erheblichen Teil des Gesamtbudgets ausmachen, weisen die Zahlen auf einschneidende Kürzungen hin, einmal durch Stellenabbau und zum anderen durch Lohnsenkungen auf Grund von Nullrunden (z. T. durch Arbeitszeitverkürzungen kompensiert) und durch niedrigere Einstufungen im Zusammenhang mit Umstrukturierungen der Stellen. So wurde ich persönlich von der Personalstrukturreform so betroffen, dass ich in der Gehaltsklasse so lange auf einer niedrigen Stufe blockiert wurde, bis ich im Rahmen der Reform einer niedrigeren Gehaltsklasse zugewiesen wurde, wo dieses Gehalt die Endstufe darstellte. Solche Maßnahmen setzen natürlich einen erheblichen Machtverlust korporativer Standesvertretungen voraus.

Die Kunst bestand nun darin, diese Einsparungen mit einer effizienteren Arbeit in Forschung und Lehre zu verbinden. Diesem Ziel diente eine Reihe von Hochschulreformen, die in den letzten zwanzig Jahren die niederländischen Hochschulen einschneidend verändert haben. Im Zuge dieser "Modernisierung" wurde das der Humboldtschen Idee verpflichtete Selbstverwaltungsmodell zusammen mit den Mitbestimmungsräten als Erbe der 68er Zeit durch einen finanziell selbständigen hierarchischen Verwaltungsapparat mit einer schwachen Personalvertretungskomponente ersetzt, der dem Erziehungsministerium direkt unterstellt ist.

Diese Reformen dienten aber auch noch zwei weiteren Zielen, nämlich einer effizienteren Ausbildung und einer weitgehenden Trennung von Forschung und Lehre. Die staatliche Mittelvergabe für die Forschung wurde weitgehend aus den Anstellungsverträgen mit den einzelnen Dozenten gestrichen und in Forschungsinstitute verlagert, die ihre Projekte aus einer selbstverwalteten Mittelvergabeinstitution beziehen. Auf die Folgen, die sich für Forschungen im Bereich kleinerer Fachrichtungen daraus ergeben, kann ich hier nicht eingehen. Immerhin sei darauf hingewiesen, dass sich in Zukunft ein erhebliches Nachwuchsproblem in solchen Bereichen ergeben wird, die sich momentan nicht durchsetzen können, weil sie etwa wie die Germanistik in diesem Aushandlungsprozeß kaum vertreten sind.

Was die Ausbildung betrifft, so ist der Erfolg in den Niederlanden in dieser Hinsicht kaum bestreitbar, aber er hat auch seinen Preis. Ich nenne das System, das es fertiggebracht hat, eine Regelstudienzeit von 4, in Ausnahmen 5 Jahren für einen

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Großteil aller Studierenden durchzusetzen, den "gläsernen Studenten". In Groningen werden alle dazu benötigten Daten gesammelt und ausgewertet. Über ein Studiengehalt, das aus einer allgemeinen Ausbildungsbeihilfe hervorgegangen war, wurde ein System von Geben und Nehmen entwickelt, das die Studenten über finanzielle Sanktionen zur Einhaltung der Regelstudienzeit zwingt.[Fn_2] Die später eingeführten und ständig erhöhten Studiengebühren übersteigen inzwischen die Einnahmen durch das Studiengehalt. Da dessen Zahlung an den Erwerb von Studienpunkten gebunden wurde, ist die disziplinierende Wirkung auf die finanziell arg gebeutelten Studenten gesichert. Die Verschuldung, die die Studenten zur Finanzierung ihres Studiums eingehen müssen, beeinflusst zunehmend die Wahl der Studiengänge; die Studenten bevorzugen deutlich solche Studien, die einen günstigen Einstieg in den Arbeitsmarkt versprechen. Meine Fakultät unterstützt diese Marktorientierung durch ein effizientes Büro "Student und Arbeitsmarkt".

Die Einführung eines Propädeusejahrs mit Kontraktstudiencharakter zwingt auch die Dozenten zu einer realistischen Programmierung, zumal die Mittelzuweisungen an die Input-Output-Bilanz gebunden wurden. Ein System von externen Evaluierungen ergänzt diese indirekte Führung der sonst sehr selbständigen Universitäten. Die Einführung des Bachelor-Master-Systems bereitet deshalb auch kaum Schwierigkeiten, da man den wissenschaftlichen Anspruch auch durch die Umbenennung der Fachgruppen gestrichen hat. So wird es in der "Opleiding Duitse taal en cultuur" (Ausbildungseinheit für deutsche Sprache und Kultur), ehemals "Vakgroep Duitse taal- en letterkunde" (Fachbereich für deutsch Sprach- und Literaturwissenschaft), aller Wahrscheinlichkeit nach eine dreijährige Bachelorausbildung geben, die natürlich auch die vierjährige Masterausbildung auf ein praktischeres Niveau zieht, da man sich Parallelveranstaltungen nicht wird leisten können. Im Zusammenhang mit der um ein Jahr kürzeren Schulausbildung wird das bedeuten, dass die meisten niederländischen Studenten schon mit 21 Jahren ihr Studium absolvieren werden. Das wird nicht ohne Einfluss auf das Studienverhalten sein und kann einen Teil der Ausbildung in Betriebe und Abendschulen verlagern.

Überhaupt zwingt die kontrollierte Programmierung der nach Studienpunkten berechneten Studieneinheiten zu einer starken Standardisierung. Auch die Verwendung von computergestützten Lernprogrammen – in diesem Bereich sind die Niederlande Deutschland wohl weit voraus – ist auf diese Weise viel einfacher zu bewerkstelligen. Allerdings werden die Programme dadurch unflexibel, die Eigeninitiative aller Beteiligten erlahmt und die Lehre hält mit der Forschung nicht Schritt.

Für den wissenschaftlichen Nachwuchs gibt es noch ein großzügig dotiertes Promotionsstudium von vier Jahren, das an die Forschungsinstitute angegliedert ist. Hatte bei fehlender Habilitation die Promotion früher häufig sehr lange Zeit in Anspruch genommen – nicht promovierte Dozenten waren keine Seltenheit –, so bringt

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dieses Promotionsstudium seit einiger Zeit junge zielgerichtet ausgebildete Nachwuchskräfte hervor, allerdings – wie schon angedeutet – eher in Großforschungsbereichen.

Obwohl in den Niederlanden viel von Elite und wissenschaftlicher Qualität die Rede ist, so scheinen sich die Universitäten in Organisation und Niveau eher den Fachhochschulen (niederländisch: "Hoge Scholen", ein Name, der nicht ungewollt zu großen Missverständnissen führen kann) anzugleichen. Dort erhalten die Studenten nach einer nur elfjährigen Schulzeit eine sehr praxisbezogene Ausbildung, ihre Lehrer haben auch keinen wissenschaftlichen Anspruch. Der "Bachelor" wird die Ausbildung in beiden Bereichen wohl in Zukunft noch mehr einander angleichen. Erste Schritte in diese Richtung sind bereits durch Fusionen gemacht. Wirklich wissenschaftliche Aufgaben werden auf eine kleine Elite beschränkt werden. Durch den geringeren Anteil der Universitätsabsolventen an der Gesamtheit der Auszubildenden unterscheiden sich die Niederlande bereits erheblich von der Bundesrepublik. Das entspricht auch sicher den aktuellen Bedürfnissen des Arbeitsmarktes, ob es auch den Bedürfnissen von Gesellschaft und Kultur entspricht, ist füglich zu bezweifeln.

Remigrationsprobleme

Wissenschaftliche Migration heißt ja nicht automatisch Emigration. Gerade für einen Deutschen ist ein Leben in den Niederlanden nicht unbedingt dazu angetan, sich wohl zu fühlen. Ich weiß nicht, wie das in anderen Ländern aussieht, die im Zweiten Weltkrieg unter deutscher Besatzung gelitten haben, in den Niederlanden wird man als Deutscher jeden Tag mit der Vergangenheit konfrontiert.[Fn_3] Zudem geht man als Wissenschaftler in der Regel in einem Alter ins Ausland, in dem man durch die Kultur des Herkunftslandes so geprägt ist, dass man im Alter wieder in ihr leben will. Leider kann sich eine Arbeit im Ausland besonders im Alter nachteilig auswirken, vor allem wenn man nach Deutschland zurückkehrt.

Das betrifft in besonderer Weise Universitätsangehörige, die ja in Deutschland in der Regel Beamte sind. Als niederländischer Universitätsdozent bin ich zwar auch "ambtenaar", aber rechtlich entspricht dies nur einem Angestelltenstatus. Abgesehen davon, dass man unter besonderen Bedingungen entlassen werden kann – es gab Fälle, wo Kollegen durch die Drohung mit der Entlassung zu größten Zugeständnissen in Bezug auf ihre Arbeit gezwungen wurden – bei der Berechnung der Altersbezüge ergeben sich daraus Nachteile. Nehmen wir einmal meinen eigenen Fall: Da ich bei meiner Pensionierung mit 65 Jahren nur 30 Jahre in den Niederlanden gearbeitet habe, habe ich dort nicht auf 70 % meines Endgehalts Anspruch, sondern nur

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auf 56 %. Für die Zeit meiner Ausbildung, des Wehrdienstes und der Arbeit als deutscher Beamter bekomme ich von der Deutschen Angestelltenversicherung, bei der ich bei meiner Kündigung nachversichert wurde, eine Pension entsprechend 12 Berechnungspunkten für 16 Anrechnungsjahre, das sind zurzeit etwa monatlich 600 DM. Obwohl ich also sechs Jahre über der Zeit für die volle Pension liege, bekomme ich also effektiv weniger als meine Kollegen, die in der Regel nach 40 Dienstjahren in Pension gehen.

Hinzu kommt eine spezifisch niederländische Regelung, die in der Europäischen Union als Skandal empfunden werden kann. Die niederländische Endpension von 70 % des Endgehalts setzt sich nämlich aus einem Betrag aus der Pensionskasse, in die die Beiträge geflossen sind, zusammen und zum andern Teil aus der Volksversicherung, die jedem Bürger der Niederlande zusteht für die Zeit, die er in den Niederlanden gewohnt hat. Auch dafür werden Beiträge vom Gehalt abgezogen. Da dieser Pensionsanteil vom 14. bis 65. Lebensjahr erworben wird, ergibt sich in meinem Fall für meine Frau und mich eine Lücke für die Zeit vor unserer Übersiedlung. Diese Lücke, die heute einem jährlichen Betrag von etwa 10 000 Fl. entspräche, wird von meiner Pension aufgrund der 30 Berechnungsjahre abgezogen. Ich werde also dafür bestraft, dass für meine Ausbildung nicht der niederländische Staat aufgekommen ist und ich zu einer Zeit nicht in den Niederlanden gewohnt habe, in der auch meine Kollegen noch nicht in die Volksversicherungskasse eingezahlt haben.

Entsprechen diese Regelungen, bei denen Unterschiede in den Sozialsystemen automatisch zur Benachteiligung von Arbeitsmigranten führen, dem in den entsprechenden Verträgen immer wieder festgelegten Grundsatz, dass einem Bürger der EU durch den Wechsel des Arbeitsplatzes keine Nachteile erwachsen dürfen? Ich muss mich tatsächlich fragen, ob meine deutschen Europapolitiker die Arbeit tun, für die ich sie gewählt habe. Auch die Information, dass in den Niederlanden Pensionen besteuert werden, und zwar nach der Steuerreform vom Jahr 2000 bis zu 52 %, wird nicht jedem bekannt sein.

Hinzu kommen meine Erfahrungen mit der Krankenversicherung. Ich bin kollektiv durch die Universität bei einer privaten Krankenversicherung versichert. Auf Anfrage wurde mir mitgeteilt, dass ich nach einer Übersiedlung nach Deutschland nicht weiterversichert würde. Nur die Tatsache, dass ich früher in der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) war, bewahrte mich davor, mich in Deutschland mit 65 Jahren zu horrendem Tarif privat versichern zu müssen.

Ich möchte die Zeit, die ich an niederländischen Hochschulen verbracht habe, nicht missen. Auch glaube ich, dass meine Arbeit als Dozent für deutsche Sprache und Kultur im Interesse der Bundesrepublik war – immerhin wurde sie vom DAAD vermittelt und in den ersten Jahren mitfinanziert, meine Erfahrungen mit der Remigration lassen aber dieses Interesse nicht erkennen. Da die Ausbildung von Germanisten in den Niederlanden den Bedarf nicht annähernd deckt, wird man auch

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weiterhin auf Dozenten aus Deutschland angewiesen sein; mit der Werbung wurde bereits begonnen. Kann man unter diesen Bedingungen potentielle Bewerber tatsächlich ermutigen, diese Angebote anzunehmen?



    [Fußnoten]

    1. - NRC Handelsblad vom 1.5.2001.

    2. - Für eine detaillierte Darstellung vgl. den Beitrag von Rainer Fremdling, oben S. 71 ff.

    3. - Vgl. Henning Westheide, Trügerische Nähe, Münster 1997.



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