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[Seite der Druckausg.: 9 (Fortsetzung)]



Vergleich der betrieblichen Arbeitsbeziehungen


Die Unternehmensstrukturen und ihre Rahmenbedingungen haben sich im Zuge der Marktwirtschaft grundlegend geändert, weniger allerdings die Führungssysteme und Beziehungen zwischen den Betriebsparteien. Insbesondere lässt sich auf dieser Ebene feststellen:

  • Es gibt einen eindeutigen Trend zu kleinräumigen Betriebsstrukturen in Gestalt von KMU und Kleinstbetrieben als Folge der Aufteilung bzw. Privatisierung von Großbetrieben sowie unter dem Zwang der spezifischen Marktbedingungen, zugleich auch eine Unzahl von Unternehmensneugründungen. Parallel dazu entsteht eine neue Schicht von selbständigen Unternehmern und Arbeitgebern, während die Gewerkschaften sich diesem Strukturwandel weniger flexibel anzupassen in der Lage sind. Vor allem ihre Präsenz vor Ort vermag mit diesem raschen Wandel nicht Schritt zu halten.

  • Zugleich gibt es bisher relativ wenig neue Impulse von Seiten des Managements. Es erscheint mit den Herausforderungen des Überlebens am Markt, neuer Technologien und bürokratischer Probleme mehr als ausgelastet, so dass für die Einführung neuer Führungssysteme und einer modernen Arbeitsorganisation mit ihren Möglichkeiten entscheidender Produktivitäts- und Qualitätssteigerungen kaum Kapazitäten verbleiben. Hinzu kommt, dass die Schwäche der Arbeitgeberverbände entsprechende Fortbildungsaktivitäten oder Beratungsleistungen kaum erlaubt.

  • Das eher traditionelle Verhalten der Gewerkschaften vermag kaum neue Anstöße zu vermitteln, da sie sich durch die negativen sozialen Auswirkungen der Transformation zu einer primär defensiven Reaktion gedrängt und zum Festhalten an bestehenden sozialen und rechtlichen sowie Lohn-Standards gezwungen sehen. Ihre Rolle als gestaltende Kraft wird daher von ihnen noch kaum wahrgenommen. Eine Effektivierung der Interessenvertretung durch mit mehr Beteiligungsrechten ausgestattete Gremien wie z.B. Betriebsräte sehen sie als Gefährdung (noch) bestehender Besitzstände und blockieren sie daher vor allem in ihren jeweiligen Leitungsebenen.

  • Gleichzeitig findet eine allgemeine Erosion der gewerkschaftlichen Repräsentanz in der Mehrzahl der (privatisierten) Betriebe statt. Dort sind gewerkschaftliche Organisationen nur noch in einer kleinen Minderheit vertreten, ihre „Marginalisierung„ nimmt bedrohlich zu – vor allem, wenn sie sich im Zuge eines ausgeprägten Gewerkschaftspluralismus noch wechselseitig konkurrieren (in Litauen besonders dramatisch: Hier sind die Gewerkschaften in rund 90% der Betriebe nicht mehr präsent).

  • Objektiv erschwert wird die gewerkschaftliche Vertretungsarbeit durch ungenügende Beteiligungsrechte im Unternehmen. Noch ist ein Kanon gesicherter Informations- und Konsultationsrechte für sie eher die Ausnahme und vom „good will„ des Managements abhängig. Faktische Mitwirkungsrechte sind äußerst beschränkt je nach Präsenz und Stärke einer Gewerkschaft im Betrieb.

Aus dieser Ausgangslage ergibt sich als Fazit eines Vergleichs der Formen der betrieblichen Interessenvertretung in den baltischen Staaten:

  • Eine pluralistische Vielfalt zeigt sich auf beiden Seiten der Verbändelandschaft in Gestalt einer Vielzahl von Organisationen sowohl bei den Arbeitgebern nach ihrer Gründungsphase wie auch bei den in der Umstrukturierung begriffenen Gewerkschaften – mit Ausnahme im wesentlichen der lettischen Einheitsgewerkschaft. In Litauen allerdings ist der Gewerkschaftspluralismus exorbitant und erweist sich im Ergebnis eher als hemmend für eine gestaltende Interessenvertretung.

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  • In den drei Ländern sind z.T. dramatische Mitgliederverluste der Gewerkschaften zu verzeichnen. Damit drohen diese im betrieblichen Alltag zu einer marginalen Größe zu werden ohne reale Vertretungsmacht außerhalb ihrer Hochburgen in (noch staatlichen bzw. privatisierten) Großbetrieben (vgl. auch Übersicht 1 am Ende). Zugleich zeigt sich innerhalb der Arbeitnehmerorganisationen zumal auf der Ebene der Spitzenverbände noch keine ausgeprägte Tendenz, über adäquate Antworten auf diese Herausforderungen nachzudenken und sich ihnen zu stellen.

  • Das Management verharrt ebenfalls überwiegend im Denken und in der Praxis überkommener Führungssysteme und traditioneller Unternehmenskulturen. Die Qualität der Arbeitsbeziehungen wird erst in Ansätzen als ein Produktivität wie auch Produktqualität förderndes und somit wirtschaftlich relevantes Gut angesehen. Innovationen auf diesem Gebiet sind die Ausnahme und z.T. Folge von Inputs von außen durch ausländische Investoren.

  • Gleichwohl bemängeln Arbeitgebervertreter in den baltischen Staaten zunehmend das Fehlen von Ansprechpartnern der Belegschaften in den Betrieben. Die Situation der Interessenvertretung wird zudem dort erschwert, wo – wie in Litauen – ein extremer Gewerkschaftspluralismus vor allem in den größeren Betrieben bzw. in bestimmten Branchen vorherrscht. Außerdem fehlt bei einem Vertretungsgremium, das wie die betrieblichen Gewerkschaftsorganisationen primär für den Abschluss von Firmentarifverträgen zuständig ist, naturgemäß oft das für die Entwicklung von Kooperationsbeziehungen mit dem Management notwendige Vertrauensverhältnis.

  • Nötig wäre daher die Reflexion über ein „Konzept der Funktionsaufteilung zwischen institutionalisierter betrieblicher Interessenvertretung und gewerkschaftlicher Interessenvertretung„ im Rahmen eines funktional aufeinander bezogenen Gesamtkonzepts (so M. Weiss in: Hörburger , Einbahnstraße EU-Erweiterung?, 2001, S. 214).

Es gibt – angeregt durch die Praxis in Mitgliedsländern der EU, durch internationale Gewerkschafts- und Managementkontakte sowie auch erste Erfahrungen in Euro-Betriebsräten – indessen bereits erkennbare Bemühungen, Lösungen aus dem bestehenden Dilemma des sich ausweitenden vertretungspolitischen Vakuums zu finden.

Die Regierung in Litauen zeigt sich in dem jetzt dem Parlament zur Entscheidung vorliegenden (elften!) Entwurf eines neuen Arbeitsgesetzbuchs am konsequentesten: Sie beabsichtigt die Einführung einer gesicherten Mindest-Arbeitnehmervertretung im Unternehmen durch Gesetz gemäß dem „tschechischen Modell„ mit einer eingliedrigen Vertretung – entweder durch einen „Betriebsrat„ oder eine betriebliche Gewerkschaftsorganisation im Rahmen ihrer für 2002 vorgesehenen Änderung des kollektiven Arbeitsrechts. Nur solange im Unternehmen keine Gewerkschaftsorganisation vorhanden ist, kann ein Betriebsrat mit dem Recht der Information und Konsultation – und ggf. auch des Abschlusses betrieblicher Kollektivvereinbarungen – errichtet werden. Offensichtlich stehen im Hintergrund dieser Neuregelung die Standards des z.Z. in den EU-Gremien diskutierten Richtlinienentwurfs zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer im Unternehmen.

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Vergleich der sektoralen Arbeitsbeziehungen und der Tarifvertragslandschaft

Die sektorale Ebene mit ihren weitgehenden Übereinstimmungen in den drei baltischen Staaten weist ganz offensichtlich die größten Defizite im Vergleich mit der EU auf. Der Grund dafür ist, dass in den analysierten Ländern Branchentarifverträge weitestgehend nicht den in der EU üblichen Stellenwert und Standard besitzen, sondern die Ausnahme darstellen. Dieses „Loch in der Mitte„ der Arbeitsbeziehungen zwischen der betrieblichen und nationalen Ebene erscheint konstitutiv für Länder, in denen es die Gewerkschaften bisher weder anstreben

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noch zu realisieren vermögen, vereinheitlichende Arbeitsbedingungen in der Branche zu schaffen und damit die Voraussetzungen für eine unternehmensübergreifende Branchensolidarität und mehr Druck zur Durchsetzung der eigenen Verteilungsforderungen zu entwickeln. Verteilungs- und Einkommenspolitik ist dann konsequenterweise weniger eine Sache, die in einem Sektor oder in der Gesamtgesellschaft austariert und geregelt wird, sondern spielt sich außerhalb des staatlichen Budgetsektors (d.h. des öffentlichen Dienstes) in der betrieblichen Arena mit ihrer jeweils spezifischen Situation (wirtschaftliche Lage, Kräftekonstellation etc.) ab.

Festzuhalten ist aber auch, dass die Debatte und die Bereitschaft zur Änderung dieser Verhältnisse bei den Tarifparteien insbesondere bestimmter Branchen in jüngster Zeit deutlich intensiviert wurde. Auch wurden bereits gemeinsame Projekte zur Kontaktaufnahme mit internationalen Partnern innerhalb der EU sowie gemeinsame Trainingsmaßnahmen auch konkurrierender Organisationen über die Führung von Tarifverhandlungen gestartet (u.a. in Kooperation mit dem zuständigen FES-Büro Warschau, wie z.B. in Litauen in der Chemiebranche oder mit den drei dortigen Lehrergewerkschaften). Verhandlungstraining und das Erlernen einer auch betriebswirtschaftlicher Argumentation erweisen sich als wichtige Voraussetzungen für den Abschluss von Kollektivvereinbarungen.

Fortschritte in diesem Bereich hängen auch mit der Streikfähigkeit sowie vorhandenen oder auch fehlenden Streikerfahrungen zusammen. Auffallend ist jedenfalls, dass in allen Vergleichsländern Arbeitskämpfe eher die Ausnahme sind, obwohl laufend reale Kaufkraftverluste bei gleichzeitig starkem Wirtschaftswachstum zu verzeichnen sind.

Die sich hier offenbarende Schwäche der Gewerkschaften in der sektoralen Verteilungspolitik ist mehreren Faktoren geschuldet:

  • einmal einer starken gewerkschaftlichen Aufspaltung wie in Litauen bzw. einem allgemeinen betriebssysndikalistischen Verhalten und damit Fehlen von übergreifender Solidarität der Beschäftigten innerhalb einer Branche;

  • einer bewussten Schwächung der Gewerkschaften durch sich liberal verstehende Regierungen oder aber einer Neutralisierung ihres Druckpotentials durch ihre Einbindung in tripartistische, vom Staat dominierte Strukturen;

  • fehlenden Arbeitgeber-Vereinigungen bzw. da, wo sie sich gebildet haben, ihrer Ablehnung von Kollektivverhandlungen oberhalb der betrieblichen Ebene;

  • dem allgemeinen Druck stets wachsender Arbeitslosigkeit im Zuge von Umstrukturierung und Privatisierung und dadurch bedingten lohnpolitischen Rücksichtnahmen.

Die Arbeitgeberseite wiederum ignoriert auch den von westeuropäischen Dachverbänden (einschließlich UNICE) hochgehaltenen Nutzen vergleichbarer Lohnkosten (Standardentlohnung), da sie Lohnunterschiede auch zur Personalrekrutierung (d.h. Abwerbung) ebenso wie auch regionale Unterschiede auszunutzen gewillt sind mit den entsprechenden Konsequenzen für ihre eigenen Wettbewerbs- und Gewinnchancen. Die Arbeitgeberorganisationen verstehen sich – ähnlich wie auch in anderen MOE-Ländern – vielfach noch weit weniger als kompromissbereiter Sozialpartner denn als Lobby-Organisation gegenüber der Regierung.

Andererseits gibt es in allen drei Vergleichsländern in Einzelbranchen auch für die Zukunftsentwicklung maßgebliche Positivbeispiele, deren Effekte Schule machen könnten. Positive Auswirkungen hinsichtlich der Tarifvertragslandschaft sind durch die jetzt anstehende Novellierung der Arbeitsgesetzbücher in Lettland sowie Litauen zu erwarten. Hervorzuheben ist hier auch die im litauischen Tarifvertragsgesetz vorgeschriebene aktive Einbeziehung der Belegschaften im Vorfeld des Abschlusses von Kollektivverträgen.

Vergleicht man die Deckungsraten der Tarifverträge der Mitgliedsstaaten mit den derzeitigen EU-Beitrittskandidaten der ersten Runde (vgl. im einzelnen Übersicht 1 im Anhang), so finden

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sich die baltischen Staaten ganz am Ende dieser Skala. Diese Verteilung ist zwar nicht ausschließlich, aber dennoch in erster Linie ein Reflex sowohl des gewerkschaftlichen Organisationsgrads als auch der Bereitschaft der Arbeitgeber zum Verbandsbeitritt und zur Etablierung einer gemeinsamen Lohn- und Beschäftigungsstrategie. Eine wesentliche Rolle für eine weiterreichende Geltung von Kollektivvereinbarungen über den Kreis der unmittelbaren Mitglieder von Wirtschaftsverbänden oder Gewerkschaften hinaus spielt schließlich die Frage der Allgemeinverbindlicherklärung von vorhandenen Regelungen für alle Unternehmen einer Branche, wie sie nun beispielsweise auch in Lettland als Möglichkeit eingeführt werden wird.


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Praxis des Tripartismus auf nationaler und regionaler Ebene

Die tripartite Kooperation auf nationaler Ebene ist in allen drei Ländern vergleichsweise sehr differenziert und in ständiger Weiterentwicklung. Die Arbeitsbeziehungen erfahren daraus eine gewisse Stärkung, die aber deren Schwächen in anderen Bereichen kaum kompensieren können. Hier auftretende Probleme sind u.a. ungeklärte rechtliche Kompetenzen, nicht ausreichende legale Grundlagen der Beteiligung sowie ein teilweise vorgetäuschter Fassaden-Dialog ohne praktischen politischen Vollzug, damit auch die Frage der Verbindlichkeit der Abstimmungsprozesse in Wirtschafts- und Sozialräten.

Im Detail bleibt bei einem Vergleich der drei Länder festzuhalten:

  • Alle baltischen Staaten haben auf der Spitzenebene prinzipiell funktionierende Arbeitsbeziehungen und vielfältige drittelparitätische Dialogstrukturen. Unterschiede zeigen sich in der Verbindlichkeit der beim tripartistischen Dialog erzielten Ergebnisse im politischen Willensbildungsprozess. Am weitesten entwickelt zeigt sich derzeit auf diesem Terrain Litauen, das die rechtlichen Regelungen der Absprachepraxis in jüngster Zeit bedeutend verfeinerte und zudem das tripartistische Strukturprinzip nicht nur auf weitere Fachbereiche, sondern auch auf die Ebenen der Region und Gemeinden auszuweiten im Begriff ist. Der litauische Nationale Tripartite Rat hat außerdem seit 1999 das Recht zur Gesetzesinitiative. Ebenso wurden die Kompetenzen des lettischen Kooperationsrats nach 1998 erweitert. Die Nutzung dieses Steuerungsinstruments hängt stets maßgeblich von dem politischen Willen der jeweiligen Regierungen ab: Die Sozialparteien sind zwar in den politischen Entscheidungsprozess eingebunden, die definitiven Entscheidungen werden jedoch an anderer Stelle getroffen.

  • Eine pluralistische Vielfalt zeigt sich auf beiden Seiten der Verbändelandschaft durch die Vielzahl von Spitzenorganisationen. Dadurch entstehen z.T. bei den Arbeitgeberverbänden, aber verstärkt bei den gewerkschaftlichen Dachverbänden – mit Ausnahme der lettischen Einheitsgewerkschaft LBAS – Probleme bei der Abstimmung der in den Gremien vertretenen Positionen, was sich im Ergebnis als kontraproduktiv für eine gestaltende, durchsetzungsorientierte Interessenvertretung erweist.

  • Dies wiederum weist auf ein gemeinsames Problem der drei Vergleichsländer hin: die notwendige Stärkung der Akteure des Sozialdialogs. Gerade im Rahmen des Tripartismus werden diese vom Staat als dominierender Größe faktisch nur dann ernst genommen, wenn sie selbstbewusst und mit latentem Druckpotential gegenüber der Politik auftreten können. Ein stärkerer Druck in tripartiten Verhandlungsgremien kann auch als Folge bilateral abgestimmter gemeinsamer Positionen ausgeübt werden, was dann aber auch Kooperation auf anderen Ebenen (Unternehmen, Sektor) grundsätzlich voraussetzt. In der Regel hat der Staat hier den größeren Handlungsspielraum, der um so mehr wächst, je schwächer die Sozialpartner sind und je weniger sie wechselseitig kooperieren. Der dadurch bedingte Verlust der Sozialpartner an politischer Mitverantwortung und Gestaltungskompetenz bewirkt ggf. auch ein Verkümmern der Institution Sozialpartnerschaft und ihrer Träger von Seiten der Gewerkschaften und der Arbeitgeberorganisationen auf den unteren Ebenen.

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Ließe sich umgekehrt der Tripartismus im positiven Falle als Elixier und Übungsfeld des sozialen Dialogs aktiver Sozialpartner interpretieren? Dies wäre dann der Fall, wenn er in den Transformationsländern als Durchgangsstadium zur Initiierung von mehr zivilgesellschaftlicher Beteiligungsdemokratie auch in anderen Bereichen angesehen würde. Für die weitere Entfaltung der Arbeitsbeziehungen könnte dies positive Folgen u.a. dann haben, wenn die jeweiligen Regierungen neben der Praxis der tripartistischen Abstimmungsprozesse im staatlich-politischen Gestaltungsbereich auch den Trend zu einer bilateral praktizierten Tarifautonomie befördern und die Akteure als selbstverantwortliche Partner der Regelung der Löhne und Arbeitsbedingungen bewusst aus der staatlichen Kuratel entlassen würden. Ansätze dazu zeigen sich, wenn auch erst vereinzelt.

Wenig erkannt und bewusst genutzt ist schließlich in den drei Vergleichsländern bisher eine weitere potenzielle Funktion einer tripartistischen Praxis: die der Projektgenerierung im Zuge des sozialen Dialogs z.B. für die regionale Strukturentwicklung oder die Modernisierung von Branchen und Unternehmen sowie die Anpassung ihrer Belegschaften im lokalen und regionalen Kontext. Diese zumeist im Rahmen internationaler Kooperation angesiedelte Praxis wird im Rahmen der Heranführung an die EU als wichtig erachtet durch spezielle Projekt-Förderung (Agenda 2000 bzw. der ESF- und PHARE-Programme) auch in den Beitrittsländern. Diese Chance des Tripartismus könnte und sollte im Rahmen der vorhandenen tripartiten Strukturen im wechselseitigen Interesse in der Vorbeitritts-Phase viel stärker offensiv genutzt werden.

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Im Vorfeld des EU-Beitritts

Die drei baltischen Staaten haben enorme Anstrengungen aufzuweisen, die formalen Beitrittsvoraussetzungen im Bereich des Sozial-Acquis zu erfüllen. Sie befinden sich in einem Prozess einer zunehmend aktiven Einstellung zur Heranführungs-Strategie an die EU mit unterschiedlichem Engagement der einzelnen Akteure der Arbeitsbeziehungen. Dabei entstehende Probleme im allgemeinen Bewusstsein haben Ihre Ursache z.T. wiederum in Defiziten des sozialen Dialogs – wenn auch mehr indirekter Natur.

  • Soweit hier Fragen der Wettbewerbsfähigkeit eine Rolle spielen, die aus Produktivitätsunterschieden herrühren, so entsteht normalerweise neben Anreizen durch ein intensiveres Marketing oder technische Innovationen ein fühlbarer Druck auf eine kontinuierliche Wirtschaftsentwicklung vor allem auch durch die die jeweilige Nachfrage stärkenden Lohnbewegungen. Soweit deren Dynamik fehlt – was hier noch verbreitet der Fall ist –, bleiben auch die übrigen wirtschaftlichen Aggregate und die soziale Sicherung prekär. Kurzfristig kann dies mikro-ökonomisch durch den Vorteil von Lohnkostenunterschieden aufgefangen werden, auf mittlere Sicht sehen sich aber alle Beitrittsländer gezwungen, voll in den internationalen Qualitätswettbewerb einzutreten, während Billiglohnprodukte in bestimmten Branchen (wie z.B. der Textilindustrie) im globalen Wettbewerb ohnehin in der Tendenz abwandern.

  • Das größte Problem aller Transformationsländer in der Wahrnehmung der Bevölkerung ist derzeit die Gefährdung der Beschäftigung durch eine andauernd hohe, bisher noch kaum zurückgehende Massenarbeitslosigkeit auf einem durchschnittlich oberhalb des westeuropäischen liegenden Niveau. Die im Zuge der EU-Integration zu erwartende und in nächster Zeit nur ausnahmsweise oder nur in bestimmte Mitgliedsländer mögliche Migration kann dafür nur in begrenztem Umfang eine Lösung bieten.

  • Weniger Probleme bereiten nach dem jüngsten Screening-Verfahren der EU 2001 die formalen Arbeitsbeziehungen sowie das Arbeitsrecht. Hier werden u.a. in den Bereichen Gleichbehandlung von Mann und Frau, Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz sowie Diskriminierung zwar noch einzelne Vollzugsdefizite angesprochen, jedoch sind – mit Ausnahme der Informations- und Konsultationsrechte – teilweise intensive Vorarbeiten gelaufen bzw. derzeit im Prozess. Defizite zeigen sich in der teilweise noch

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    nicht stabilisierten Position der Sozialpartner, bei den Gewerkschaften und insbesondere auf der Seite der Arbeitgeber. Der Tenor der Screenings für alle drei baltischen Staaten besagt, dass zusätzliche Anstrengungen vor allem im Bereich des „autonomen Sozialen Dialogs„ sowie auch hinsichtlich „mehr und besserer Tarifverträge auf Sektorebene„ erforderlich sind (vgl. Fortschrittsberichte 2001 für Litauen, Lettland, Estland). Hier besteht in allen Transformationsländern großer Nachholbedarf und damit auch eine Notwendigkeit verstärkter Kooperation mit den jeweiligen westeuropäischen Partnern, desgleichen ein gesteigerter Bedarf eines Erfahrungsaustauschs untereinander.

  • Teilweise wird diese Aufgabe schon seit Jahren über die entsprechenden EU-Programme (wie z.B. das Phare-Programm) zu leisten versucht, mit ersten, aber noch keineswegs ausreichenden Erfolgen. Seit Anfang 2000 haben z.B. Vertreter des estnischen Gewerkschaftsbundes EAKL die Möglichkeit, sich an Bildungsveranstaltungen zu beteiligen, bei denen die Europäischen Strukturfonds und vor allem die sog. Vor-Beitritts-Strukturfonds mit ihren Zielen, Grundsätzen und Funktionen vorgestellt werden. Seit Mitte 2000 arbeiten Vertreter des EAKL auch an einem Projekt mit, dessen Ziel die Förderung des Sozialdialogs auf Branchenebene ist – mit einer Akzentsetzung auf Kollektivverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen. Dieses Feld ist potentiell zu intensivieren, da die Mittel der Agenda 2000 gerade auch für die Zwecke der Modernisierung der Wirtschaft und der Unternehmens- und Sozialbeziehungen für die Periode bis 2006 in erweitertem Maße aufgelegt wurden. Hinzuweisen ist ergänzend auf das Interreg-Programm der EU sowie das Phare-Programm für die Grenzlandregionen in den Beitrittsländern.

EGB und UNICE werden künftig auf diesem Terrain stärker gefragt sein. Auch sollte der entsprechende transnationale Erfahrungsaustausch zwischen den Beitrittskandidaten viel stärker von diesen selbst angepackt werden, da sie vielfach mit analogen Problemen konfrontiert sind und daher Lösungswege z.B. auch innerhalb des Rates Baltischer Gewerkschaften auszutauschen wären. In dem Maße, wie auch in den baltischen Staaten die Beitrittsphase als positive Chance des Wandels erfahrbar gemacht werden kann, dürfte dies auch das öffentliche Interesse an der bevorstehenden EU-Integration steigern und die jetzt noch teilweise nicht ohne Grund vorhandenen Ängste zugunsten gezielter und realisierbarer Veränderungsstrategien abbauen helfen.

Mit dem tripartiten sozialen Dialog sind schließlich auch Steuerungsstrukturen etabliert worden, die – wenn auch unter anderen Vorzeichen – in der Mehrzahl der EU-Mitgliedsländer gerade auf dem Gebiet der Arbeitspolitik z.B. durch unterschiedliche „Bündnisse für Arbeit„ auch in der Regionalpolitik an Bedeutung gewonnen haben. Die hier gemachten positiven Erfahrungen (wie insbesondere auch in Ostdeutschland) sind auf die mittel-osteuropäischen Transformationsländer durchaus übertragbar.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2002

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