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[Seite der Druckausg.: 4]



Zum Projekt


Der Beitritt einer Reihe von Staaten Mittel- und Osteuropas in die Europäische Union rückt näher. Damit wächst das Bewusstsein, dass es nicht nur darauf ankommt, die von Brüssel vorgegebenen rechtlichen Anpassungsschritte und die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen nachzuweisen, sondern sich auch die soziale Dimension und den sozialen Besitzstand der Union im Prozess der Integration anzueignen. Die Frage der Arbeitsbeziehungen und des realen sozialen Dialogs in den Kandidatenländern
rücken damit in den Mittelpunkt.

Ziel des Vergleichsprojekts der Friedrich-Ebert-Stiftung (Büro Warschau unter der Koordination von Frank Hantke) und seines Projektteams war es, Mosaiksteine zum Verständnis der Transformationsprozesse am Beispiel der baltischen Staaten zu liefern und eine erste Zwischenbilanz vorzulegen. Trotz der sich mittlerweile auf dem Pfad der Annäherung stabilisierenden Entwicklungen bleibt bisher für den Außenstehenden, aber auch die Akteure in den einzelnen Ländern die Gesamtsituation im Bereich der industriellen Beziehungen in den Beitrittsländern noch wenig transparent.

Um die realen Fortschritte, aber auch Funktionsprobleme und Strukturdefizite der Arbeitsbeziehungen in den baltischen Staaten differenziert ermitteln zu können, wurde ähnlich wie in dem vorangegangenen Vergleichsprojekt der Friedrich-Ebert-Stiftung hinsichtlich der Kandidatenländer Polen, Tschechien, Ungarn und Slowenien ein mehrstufiger Untersuchungsansatz gewählt (siehe Näheres in: Kohl/Lecher/Platzer, Bonn 2000, sowie jetzt in dem Abschlussbericht: der neuen Studie Kohl/Platzer, Berlin 2002).

Die vorliegende Analyse beruht zum einen auf von Fachleuten aus den jeweiligen Ländern verfassten Expertisen, die den Entwicklungsstand und die Perspektiven der Arbeitsbeziehungen in Estland, Lettland und Litauen zum Gegenstand haben. Dabei interessieren naturgemäß am meisten die arbeits-, mitbestimmungs- und tarifpolitischen Grundlagen sowie die sie jeweils bestimmenden Akteure. Ebenso sind die Strukturen und das Zusammenwirken der Tarifparteien auf den unterschiedlichen Ebenen sowie die gesellschaftliche Rolle und Handlungsfähigkeit der Sozialpartner untereinander und gegenüber dem Staat für die vergleichende Auswertung von Bedeutung.

Das Projekt stützt sich zum anderen auf eine Reihe von Workshops mit maßgeblichen Experten der Regierung, der Sozialpartner und der Fachwissenschaft in den drei untersuchten Ländern. Darüber hinaus wurde abschließend ein Quervergleich zwischen den baltischen und den weiteren ex-sozialistischen Beitrittsländern vorgenommen, der Gemeinsamkeiten, aber auch wesentliche Unterschiede erkennen lässt . Daraus lassen sich durchaus verschiedene Profile des Übergangs erkennen, die ihre Wirkungen nach erfolgtem Beitritt auch in der grösseren Europäischen Union zeigen dürften.

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Sozialkultureller Hintergrund der Arbeitsbeziehungen

Nichts wäre falscher, als die drei baltischen Länder nur als ex-sozialistische Länder zu charakterisieren und lediglich Parallelitäten in ihrem Modernisierungsprozess zu erwarten. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich durchaus unterschiedliche Reaktionsweisen in den einzelnen Ländern auf die neuen Herausforderungen. Diese sind keineswegs nur von der Couleur der jeweiligen Regierungsmehrheiten bestimmt, sondern wesentlich auch durch kulturelle Verhaltensweisen und Traditionen, die in der Zeit vor und während der sozialistischen Ära ausschlaggebend waren und weiter wirksam sind.

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Das Baltikum

Das sog. „Baltikum„ ist keineswegs ein einheitliches Gebilde und hat in dieser Form – abgesehen von Perioden der Fremdherrschaft – nach dem Willen seiner Bewohner nie existiert. Die drei unterschiedlichen kulturellen und ethnischen Einheiten der Esten, Letten und Litauer unter diesem Begriff zu subsumieren, entsprach nahezu ausnahmslos dem Blick von außen. Die vergleichsweise kleinen Völkerschaften verbindet zwar eine gemeinsame Geschichte oft leidvoller Erfahrungen, aber im Kern doch individueller Natur.

Kennzeichen dafür ist zunächst einmal ihre unterschiedliche Sprache – die Esten zählen zur finnisch-ugrischen Sprachgruppe, die Letten und Litauer verstehen sich trotz ihrer singulären indogermanischen Herkunft ohne Verwandtschaft mit anderen Sprachfamilien untereinander praktisch nicht. Zum zweiten trennt sie ihre Religionszugehörigkeit: Sind die Litauer vorwiegend katholisch geprägt, so die Bewohner der beiden nördlichen Nachbarn überwiegend Protestanten – oder soweit russischer Herkunft Anhänger der orthodoxen Kirche. Hinzu kommen Unterschiede, die sich grob so skizzieren lassen:

Die Litauer bezeichnen sich selbst als Individualisten, für die nicht in erster Linie Solidarität (im Sinne des Zusammenstehens der legendären „drei Musketiere„) ausschlaggebend ist. Dies äußert sich im Bereich der Arbeitsbeziehungen u.a. deutlich in der Vielzahl der vorhandenen Dachverbände auf beiden Seiten der Sozialpartner: Auf Landesebene gibt es vier Gewerkschaftsbünde, die um die Gunst der gerade mal eine zweistellige Prozentzahl ausmachenden gewerkschaftlich Organisierten streiten. Weniger komplex zeigt sich die Arbeitgeberseite: Zwar agieren hier acht unterschiedliche Organisationen auf nationaler Ebene, gleichwohl haben auf Spitzenebene lediglich zwei einflussreiche Vereinigungen (der Industrie- wie auch der Arbeitgeber-Verbände) hier das Sagen. Diese plurale Zersplitterung der Sozialpartner führt keineswegs zu größerer Handlungsfähigkeit, sondern eher zu Blockaden gerade gegenüber notwendigen Innovationen der Arbeitsbeziehungen. Der soziale Dialog – sowohl bilateral wie trilateral auf nationaler Ebene bleibt erschwert und äußert sich in bestimmten Fragen eher als eine Koalition der Neinsager gegenüber der Regierung, auch wenn diese kompromissfähige Vorschläge macht. Litauen kann im übrigen als einziges Land auf eine Vergangenheit als regional dominierende Großmacht (im 14. Jh.) – z.T. gemeinsam mit Polen – zurückblicken. Diese Erfahrung und sein spezieller Katholizismus unterstreichen seine Westorientierung und damit die gewachsene Affinität zum größeren Europa.

Die Esten erscheinen demgegenüber von einer protestantischen Ethik und eher nordisch-skandinavischen Lebensweise geprägt. Insofern fiel ihnen auch die quasi komplette Anlehnung an die Formen der Arbeitsbeziehungen ihrer nördlichen Nachbarn nicht schwer. Mit dem Unterschied allerdings, dass ihr gewerkschaftlicher Organisationsgrad in keiner Weise den in Finnland und Schweden um 90 Prozent pendelnden Größenordnungen entspricht. Daher können sich hier auch Präsenz und Einfluss der Gewerkschaften in den Betrieben wie auch die Wirkungskraft des Tarifvertrags nur vergleichsweise wenig entwickelt zeigen. Die sog. „singende Revolution„, geboren im Rahmen riesiger Sängerfestivals Ende der 80er Jahre mit ihrer kollektiven Erinnerung an das in Estland verwurzelte reichhaltige Liedgut, verhalf dem Land, sich im Gegensatz zu ihren Nachbarn ohne Blutvergießen vom sowjetischen Joch zu lösen. Es offenbart dies als weiteren estnischen Charakterzug die Besinnung auf tradierte kulturelle Werte.
Dies und die Bereitschaft zu gewaltfreiem kompromissorientiertem Wandel ermöglichten den vergleichsweise raschen Übergang zu neuen Strukturen und das Einlassen auf neue Gegebenheiten. Hilfreich erwies sich zudem, dass sich die Esten zu einem raschen wirtschaftlichen Aufholprozess in der Lage zeigten. Hinzu kommt, dass man sich in einem kleinen Land mit gut 1,4 Mio. Einwohnern (hierin vergleichbar mit dem weiteren Kandidatenland Slowenien) gegenseitig kennt und somit eher als Solidar- und Notgemeinschaft versteht. Dies verhalf auch, die Probleme der 35% Nicht-Esten im Lande und vor allem in bestimmten Regionen unspektakulär zu lösen.

Die Letten wiederum haben mit ihrem um rund eine Million größeren Staatsvolk mit dem größten Minderheitenproblem infolge der besonders in der Stalin-Ära forcierten Russifizierung zu kämpfen: Der russische Bevölkerungsanteil dominiert nach wie vor z.B. mit 48% in der Millionenhauptstadt Riga. Die Fremdherrschaft als beständige Erfahrung in der lettischen Geschichte (ausgehend von der Gründung Rigas im Zuge der Expansion der Hanse 1201 über die sogenannte Polen-, die Schweden- und die Russenzeit, wie sie in der Bevölkerung immer noch genannt wird) verlangte Arrangements, die in den Sozialbeziehungen weiterwirken: in positiver Form als außergewöhnliche Toleranzbereitschaft, die das jeweilige Anderssein akzeptiert und Kompromissfähigkeit signalisiert. Insofern sind in Lettland auch die Weichen zu einer Entwicklung des Sozialdialogs gestellt. Auf der anderen Seite steht dem eine nicht auf raschen Wandel drängende Zurückhaltung der sozialen Akteure entgegen. Sie tendiert bei aller Neigung zu Auseinandersetzungen im Grundsätzlichen eher zur Konsenfindung in tripartistischen Runden und geordneten Bahnen als zu schnellen autoritären Entscheidungen mit der Gefahr einer gesellschaftlichen Polarisierung.

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Um dies zu verdeutlichen, haben wir an den Anfang des Vergleichsprojekts der Arbeitsbeziehungen eine Kurzcharakterisierung bestimmender Trends gestellt, die aktuelle Entwicklungen erklären helfen: knappe Schlaglichter auf einzelne Elemente, die Kontinuitäten jenseits zuvor aufgezwungener Verformungen aufzeigen und den Hintergrund der landesspezifischen Arbeits- und Sozialbeziehungen erhellen können.

Allen drei Ländern ist die konsequente Loslösung vom wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Stempel der Sowjetära gemeinsam und damit die keineswegs leichte Aufgabe der Neuformulierung ihrer eigenen Identität. Sie sahen sich gezwungen, ihre Überlebensfähigkeit als autonome Staaten unter Beweis zu stellen. Dies erwies sich angesichts ihrer extrem arbeitsteiligen wirtschaftlichen Unterordnung unter die Moskauer Zentrale als eine nur unter erheblichen Anstrengungen zu bewältigende Herausforderung. Um so eher berechtigen die hier erzielten Erfolge zu der Hoffnung, dass ihr weiterer Anpassungsprozess als souveräne Staaten nicht nur an die globale Marktwirtschaft, sondern auch an das Konzert und die Spielregeln im größeren Europa ebenso erfolgreich absolviert werden kann, auch wenn dies weiterhin außergewöhnliche Lerneffekte in allen Bereichen und nicht zuletzt auf dem Feld produktiv wirksamer Arbeitsbeziehungen verlangt.

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Bedeutung der Arbeitsbeziehungen in den Beitrittsländern

Weshalb sind gerade die Arbeitsbeziehungen und ihre Fortentwicklung im Beitrittsprozess so wesentlich? Es geht hier keineswegs nur vordergründig um die Anpassung an die Markterfordernisse oder die formale Erfüllung des »acquis communautaire«, vielmehr um die kooperative Gestaltung der für die arbeitenden Menschen existenziell wichtigen Fragen

  • der Einkommens- und Verteilungspolitik, und damit die Frage der Kaufkraftentwicklung und des wirtschaftlichen Aufschwungs insgesamt,

  • der Sicherung der Beschäftigung im Lande und damit eine wichtige Antwort auf das Problem der viel diskutierten „Freizügigkeit„ in der EU,

  • und schließlich des Aufbaus moderner Volkswirtschaften auf der Basis effizienter und auf qualitativ hohem Niveau agierender Unternehmen und Verwaltungen.

Nur so sind die Herausforderungen der Globalisierung und des Qualitäts-Wettbewerbs mit dem nötigen Erfolg zu bewältigen. Nicht ohne Grund spricht man deshalb hier auch von dem Zwang einer „doppelten Modernisierung„: der primären wirtschaftlichen und der umfassend gesellschaftspolitischen.

Der soziale Dialog als wesentliches und programmatisches Kennzeichen eines Umstrukturierungsprozesses ist ein entscheidend neues Element gegenüber der in der Phase des Staatssozialismus vorherrschenden Praxis. Von den hier erzielbaren Absprachen und Kompromissen hängt es wesentlich ab, inwieweit es gelingt, die sich mit der Transformation stellenden Probleme zu lösen, kooperativ zu gestalten und zugleich die drohenden sozialen Verluste und Schieflagen zu minimieren. Ziel ist also

  • der Aufbau einer sozial kontrollierten Marktwirtschaft mit einem Mindestmaß an
    Sozialstaatlichkeit;

  • die Etablierung eines angepassten Verteilungssystems auf der Grundlage von Kollektivverträgen, was zugleich eine hohe Verhandlungsfähigkeit und -bereitschaft der beteiligten Akteure voraussetzt;

  • die Entwicklung neuer Formen der Kooperation und Beteiligung im Unternehmen anstelle früherer Kommando-Strukturen mit einer allenfalls virtuellen Einbeziehung der „Werktätigen„ – und damit moderner Führungssysteme im Management.

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Neue Erfahrung: Kompromisse durch Verhandeln

Ein wesentliches neues Element ist dabei das marktwirtschaftlich und demokratie-konforme Aus- und Verhandeln auf sämtlichen Ebenen mit dem Ziel eines tragfähigen Interessenausgleichs. Dafür vermittelte die vorangegangene Epoche wenig Erfahrungen, da die Praxis in allen Ländern Mittel- und Osteuropas (MOE) anderen Prinzipien folgte: Konflikte und unterschiedliche Interessenlagen galten hier als Störfaktoren der von oben dekretierten Klassen-Harmonie. Insofern konnte der soziale Dialog als Vehikel der Konfliktregulierung von als gleichgewichtig angesehenen Partnern nicht zum Tragen kommen. Hierfür fehlen – vielfach noch bis heute – sowohl die für eine Güterabwägung und Kompromissfindung nötigen argumentativen Kenntnisse und Maßstäbe wie auch die nötige Verhandlungspraxis eines „collective bargaining„.

Zugleich zeigt sich mehr und mehr, dass ein funktionierender sozialer Dialog und darauf basierende neue Arbeitsbeziehungen wesentliche Voraussetzungen für eine gelingende und sozial verträgliche Modernisierung sind. Die Erkenntnis hat sich noch wenig durchgesetzt, dass weiterentwickelte Arbeitsbeziehungen auch einen positiven Produktions- und Wettbewerbsfaktor darstellen, deren Missachtung sich auf längere Sicht auch ökonomisch nachteilig auswirkt.

Dabei haben die drei baltischen Staaten gerade in wirtschaftlicher Hinsicht vergleichsweise „gute Karten„. Ihre Fortschritte dank ihrer Dynamik der ökonomischen Transformation, der Liberalisierung und Öffnung der Märkte sind gemessen an der Entwicklung anderer GUS-Staaten bemerkenswert. Auch im Vergleich zu den übrigen MOE-Ländern weisen sie hinsichtlich Wirtschaftswachstum, Zinsniveau, Staatsverschuldung und Inflationsraten seit Mitte der 90er Jahre beträchtliche Entwicklungsschritte auf. Beim Indikator wirtschaftliches Wachstum liegen sie sogar in der Spitzengruppe aller mittel-osteuropäischen Beitrittsländer. Estland, dem bereits 1997 seitens der EU das Prädikat einer „funktionsfähigen Marktwirtschaft„ attestiert wurde, steht dank der besonderen Anstrengungen Litauens und Lettlands inzwischen nicht mehr allein in der ersten Runde der Beitrittskandidaten. Problematisch bleibt indessen die Arbeitslosenquote, die 10 Jahre nach der Loslösung von der Sowjetunion in der Region auf einem hohen Niveau von rund 15% verharrt. Der Strukturwandel zeigt sich damit als noch keineswegs abgeschlossen. Er verlangt vor allem weiterhin größere Anstrengungen im Bereich der Beschäftigungspolitik sowie auch des Ausbaus der Grundlagen der sozialen Sicherung.

Welche neuralgischen Punkte der Arbeitsbeziehungen lassen sich in den baltischen Staaten somit erkennen? Sie zeigen sich, wie in den folgenden Abschnitten zusammenfassend zu verdeutlichen ist, vor allem auf der Ebene der betrieblichen Interessenvertretung, der Kollektivverträge insbesondere auf Branchenebene und, damit verbunden, einer besonderen Schwäche der sozialen Akteure gerade auf diesen Ebenen. Demgegenüber sind die dreiseitigen Arbeitsbeziehungen auf nationaler Ebene vergleichsweise stärker ausgebaut und in ständiger Weiterentwicklung begriffen. Ob diese relative Stärke die Schwächen der anderen Ebenen auszugleichen in der Lage ist, stellt sich als weitere Frage. Inwieweit sich auf diesem Terrain eine positive Bilanz zeigen kann, bestimmt schließlich auch die Haltung der Bürger der Kandidatenländer gegenüber dem EU-Beitrittsprozess insgesamt: Überwiegen die Befürworter die Skeptiker – oder kippt deren Verhältnis aufgrund negativer Erfahrungen und Befürchtungen? Die jeweiligen Potenziale im Bereich der Arbeitsbeziehungen bestimmen auch hier die Meinungsbildung wesentlich mit.

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Kollektives Arbeitsrecht in den baltischen Staaten

In allen drei Vergleichsländern sind in den vergangenen Jahren bedeutende Anstrengungen einer Anpassung und Modernisierung der die Arbeitsbeziehungen bestimmenden gesetzli-

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chen Normen erkennbar. Die Anfangsphase unmittelbar vor und nach der Erlangung der Unabhängigkeit war zunächst stärker von dem Bestreben gekennzeichnet, eine rasche Umstellung auf marktwirtschaftliche Erfordernisse im Arbeits-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht zu erzielen. Zugleich galt es, monolithische Organisationsstrukturen aufzubrechen und eine Öffnung zu Pluralismus und Wettbewerb auch im Bereich der Arbeitsbeziehungen zu schaffen. Hinzu kam der notwendige Aufbau von Arbeitgeberverbänden. Ebenso rasch setzte sich im Blick auf den späteren EU-Beitritt das Bemühen durch, bei den anstehenden Rechtsänderungen neben der Anwendung der ILO-Konventionen auch die wesentlichen Standards der EU-Richtlinien zu berücksichtigen.

Weitgehende Parallelitäten zwischen den Vergleichsländern zeigen sich im Prozess der Transformation des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts. Dies ist insofern plausibel, als eine vergleichbare Ausgangslage auch auf arbeitsrechtlichem Gebiet zugrunde lag, die rascher Änderungen bedurfte. Insgesamt gesehen kann man in allen baltischen Staaten von einem eher strukturkonservativen Anpassungsprozess sprechen: Neue Strukturelemente werden neben der marktkonformen Adaptation durch ein liberales Gesellschafts- und Eigentumsrecht jeweils nur sehr zurückhaltend eingeführt. Die Strukturen des früheren Arbeitsrechts wurden in der Tendenz soweit möglich eher fortgeschrieben, während innovative Neuanfänge erst in bestimmten Materien und Teilbereichen zu verzeichnen sind. Dies gilt vor allem für

  • die Strukturen der betrieblichen Interessenvertretung: hier besteht weiterhin faktisch das Monopol der betrieblichen Gewerkschaftsorganisation, auch wenn deren Präsenz in den Unternehmen dramatisch im Zuge der Umstrukturierung zurückgeht (in Litauen beispielsweise sind die Gewerkschaften nur noch in ca. 10% der Betriebe mit einer eigenen Organisation vertreten, in den beiden anderen Ländern ist die Situation angesichts wachsender „gewerkschaftsfreier„ Räume infolge Privatisierung sowie Firmen-Neugründungen nur graduell besser);

  • die Existenz von Euro-Betriebsräten: es gibt dazu bisher kaum Erfahrungen, ebenso wenig öffentliche Reflexion über Wirkungsweise und Nutzen dieses Instruments;

  • eine Beteiligung in Aufsichtsräten: im Gegensatz zu anderen MOE-Ländern ist diese durch gewählte Arbeitnehmervertreter praktisch unbekannt;

  • die Konfliktlösungsmodelle: hier zeigen sich erste Ansätze eines Verhandlungs- und Schlichtungsmodells auf autonomer paritätischer Basis, jedoch überwiegen nach wie vor die Entscheidungen staatlicher Gerichte und Arbitrage-Gremien;

  • Arbeitsgerichte: als eigener Gerichtszweig unter Beteiligung der Sozialpartner werden sie zwar bereits debattiert, aber trotz des objektiven Bedarfs noch nirgends eingeführt; dies erweist sich nicht nur als juristische Spezialfrage, sondern als für die Rechtswirklichkeit und Kontrolle des Normenvollzugs durchaus entscheidend;

  • das Arbeitskampfrecht: es zeigt sich in den drei Ländern als eher prohibitiv – die ultima ratio des Streiks ist mit wenigen Ausnahmen nicht populär, die Tarifautonomie als solche zumal auf sektoraler Ebene noch kein allgemein angestrebtes Ziel

Bei einem Rechtsvergleich darf allerdings nicht übersehen werden, dass augenblicklich eine neue Runde der Novellierung der Arbeitsgesetzbücher in Lettland und insbesondere Litauen ansteht, die den strukturkonservativen Grundzug der Rechtsgestaltung in Teilbereichen zu überwinden beabsichtigt – mit derzeit offenem Ausgang, was etwa die Einführung von Betriebsräten (nach dem sog. „tschechischen Modell„, s. u. S. 9) betrifft. Hervorzuheben ist schließlich auch die Rolle des Individuums im Arbeitsrecht: Es existieren in allen Ländern im Vergleich zu Westeuropa weitgehende und großenteils sehr detaillierte legale Kompetenzen, die wiederum in Konflikt mit einer perspektivisch auszuweitenden Tarifautonomie stehen könnten, welche dann nur eingeschränkt handhabbar wäre. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass der individuelle Arbeitsvertrag eine vergleichsweise große Bedeutung besitzt, be-

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dingt durch die Schwäche der Arbeitsbeziehungen auf der überbetrieblichen Ebene und deren Regelung im Rahmen von Branchen-Tarifverträgen.


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