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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.:28] 7. Russland und die europäische Integration Mit der Wahl W. Putins zum russischen Präsidenten im Mai 2000 gewannen die russisch-europäischen Beziehungen an Dynamik. Die Ansichten über die Architektur des modernen Europas und die Entwicklung seiner geopolitischen Struktur wurden differenzierter. Eine Mehrheit der Experten hält ein künftiges Europa ohne Trennlinien für eine greifbare Möglichkeit. Deren genaue Konfiguration und territoriale Ausbreitung bleibt allerdings offen . Die Studie zeigt, dass Trennlinien gegenwärtig entlang der Grenzen der ehemaligen Sowjetunion geschaffen werden, denn die Integration Osteuropas in das vereinigte Europa wird von allen als eine nahezu vollendete Tatsache angesehen. Sie gilt als fast so sicher, wie die bereits erfolgte Integration Westeuropas (jeweils 54% und 60%). Dagegen wird die Einbeziehung des post-sowjetischen Raums in diesen Prozess von mehr als 60% der Experten als unwahrscheinlich eingestuft (siehe Tabelle 16). Tabelle 16 Ein "Europa ohne Trennlinien" (in %)
Die NATO-Osterweiterung wird als unvermeidlich erachtet. Sie wird sich in mehreren Stufen, wie bereits eingeleitet, vollziehen. Dabei werden wesentlich mehr Staaten in den Machtbereich der NATO einbezogen werden als in den europäischen Integrationsprozess. Die Prognosen bezüglich der Annäherung osteuropäischer Staaten an die NATO gehen erheblich weiter, als die Einschätzung ihrer Annäherung an Russland (siehe Tabelle 17). [Seite der Druckausg.:29] Tabelle 17 Die politische Zukunft osteuropäischer Staaten und des post-sowjetischen Raums (in %)
Die außenpolitische Elite nimmt nach dem Machtwechsel in Belgrad an, dass Jugoslawien seine Rolle als Zentrum der anti-westlichen Opposition und als politisches Gegengewicht zur NATO auf dem Balkan verliert. Dabei wird, allerdings, wie erwähnt, Jugoslawien weiterhin als freundschaftlich Russland gegenüber eingeschätzt. Insgesamt, so die Annahme, wird Russland, auch wenn in erheblich geringerem Maßstab, seine Rolle als Zentrum einer vergleichsweise kleinen, aber eigenbestimmten politischen Galaxie beibehalten können, indem es einige kleine und mittlere Planeten in seinem Anziehungsfeld hält, bzw. dahin zurückführt. Neben Weißrussland zählt eine überwältigende Mehrheit der Experten auch Armenien dazu. Aber auch einige zentralasiatische Staaten (z. B. Kasachstan) sowie, allerdings nicht so sicher, Ukraine könnten dazu zählen. Die Meinungen über Aserbaidschan gehen hingegen auseinander. Die außenpolitische Elite geht davon aus, dass der europäische Integrationsprozess durch eine tiefgreifende Restrukturierung des europäischen Raums gekennzeichnet sein wird. In struktureller Hinsicht wird es eine Unterteilung in zwei Gruppen geben, wobei es zu einer Umverteilung geopolitischer Massen kommt. Die westlichen Grenzen Russlands, vor denen drei Jahrhunderte lang eine bunte Vielzahl von Klein- und Mittelstaaten lag, werden sich im Laufe dieses Prozesses in die Berührungslinie mit einem konsolidierten, geopolitischen und geo-ökonomischen Machtsubjekt verwandeln, das mindestens zehn Mal so groß sein wird wie Russland. Dieses Subjekt ist vor allem die NATO und in zweiter Linie die Europäische Union. Daher stellt sich die berechtigte Frage, wie russische Reaktionen auf eine fortgesetzte Erweiterung des nordatlantischen Bündnisses aussehen sollen ? Es stellte sich heraus, dass die außenpolitische Elite in einem solchen Fall nicht zur Konfrontation neigt. Obwohl 36% sich dafür aussprechen, dass Russland ein kompromisslose Haltung einnehmen und sich auf jeden Fall der NATO-Osterweiterung widersetzen soll, tritt eine Mehrheit (51%) in dieser Frage für eine Kompromisslösung ein. Die Westler, die für die West- [Seite der Druckausg.:30] integration Russlands sind, sind da in einem noch viel stärkeren Maße kompromissbereit (siehe Tabelle 18). Tabelle 18 Reaktionsmöglichkeiten auf die zweite Etappe der NATO-Osterweiterung unter Experten: Traditionalisten und Westler, in %
Offensichtlich ist die fehlende Klarheit in bezug auf eventuelle russische Reaktionen auf die weiteren Stufen der NATO-Osterweiterung nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass der an Russland angrenzende Raum, in einer undefinierten Zwischenzone liegt. Die wichtigste Form der multilateralen Kooperation in dieser Region ist die GUS. Doch die Ansichten der Experten über ihre Zukunft gehen weit auseinander (und in den vergangenen Jahren hat sich die Kluft zwischen den verschiedenen Meinungen noch vergrößert) (siehe Tabelle 19). Tabelle 19 Experten über die Zukunft der GUS (in %)
Es zeigt sich dass die Mehrheit der Experten die GUS für ein provisorisches und nicht sonderlich stabiles Gebilde hält, dass entweder einer vollen oder teilweisen Desintegration entgegensteuert, oder sich in eine Konföderation aus mehreren GUS-Ländern, bzw. in ein militärisches Bündnis verwandelt. [Seite der Druckausg.:31] Jedenfalls will Russland, trotz seines verringerten Potentials und seiner geschrumpften Einflusszone, nach wie vor in den über den post-sowjetischen Raum hinausgehenden internationalen Konstellationen nicht als Kleinrussland, sondern in einem vergrößerten Format, nämlich als Russland + auftreten. Insgesamt herrscht die Annahme vor, dass sich die russisch-europäischen Beziehungen nicht wie Beziehungen eines Staates mit einer Staatengemeinschaft gestalten, sondern als Zusammenwirken zweier geopolitischer Systeme. Bei der Bewertung der Zukunft Russlands im Kontext der russisch-europäischen Beziehungen vertraten
Die letztgenannte Ansicht wird von all denen vertreten, die Russland nicht als Zentrum eines selbständigen geopolitischen Systems sehen. Die Entwicklung der europäisch-russischen Beziehungen wird in erster Linie als durch die weit verbreiteten westlichen Vorurteile gegen Russland behindert, eingeschätzt. Diese Antwort gaben Anhänger verschiedenster politischer Richtungen und außenpolitischer Konzeptionen, einschließlich der pro-westlich eingestellten Liberalen. Im übrigen wurden aber auch Ansichten geäußert, welche der russischen Politik die Schuld für den noch unbefriedigenden stand der Beziehungen geben. Ungefähr 23% der Befragten meinen, dass Russland für sich einen privilegierten, aber für die EU unzumutbaren Sonderstatus beansprucht. Eine geringe Zahl denkt, dass Russland sich nicht in die europäischen Strukturen integrieren will. Beide Antworten entsprechen in etwa der politischen Auffassung der Befragten und gelten als Indikator einer demokratischen Orientierung. Hauptgründe für Schwierigkeiten in den Beziehungen zwischen der EU und Russland (in %, Mehrfachnennungen)
[Seite der Druckausg.:32] Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass die Hauptursache für die Schwierigkeiten in den europäisch-russischen Beziehungen darin besteht, dass für beide Seiten noch sehr eingeschränkte Kooperationsfelder existieren (worauf 58% der Experten hinwiesen). In diesem Zusammenhang könnten die Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union auf einen neue Grundlage gestellt werden und eine Wendung hin zum Positiven erfahren, wenn sie zur Lösung einiger, für die Entwicklung beider Seiten entscheidender Probleme beitragen würden. Um welche Probleme könnte es sich hierbei handeln? Die wichtigsten Kooperationsbereiche Russlands mit der EU
Konsens besteht in der außenpolitischen Elite, dass nach wie vor die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union als Faktor der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung des eigenen Landes definiert und gewünscht wird. Die Experten unterstrichen in diesem Kontext die russische Teilnahme an gesamteuropäischen Pilotprojekten und wollen den undiskriminierten Zugang zum europäischen Markt für russische Unternehmen. Dies bezieht sich vor allem auf den High-Tech-Bereich, in dem Russland auf reiche Erfahrungen zurückgreifen kann (Luftfahrt, Raumfahrt, Kernenergie). Verbleibende Diskriminierungen im Handel seien zu beseitigen (über 54% der Befragten). Zweitwichtigster Aspekt im Verhältnis Russlands zur Europäischen Union ist der Bereich der Sicherheit. Fast 2/3 der Experten verstehen darunter den Kampf gegen den internationalen Terrorismus, 57% plädieren für die Stärkung des gesamteuropäischen Sicherheitssystems, ein knappes Drittel unter Einschluss der militär-technischen Kooperation mit längerfristiger Perspektive zur Schaffung einer europäischen Verteidigungsidentität". [Seite der Druckausg.:33] Skeptisch wird allerdings das Projekt der Kooperation mit der EU am Beispiel Kaliningrad, als einer Art "Pilotregion", gesehen. Dieses Projekt wurde in der Priorität auf den letzten Platz verwiesen und fand lediglich 12% Anhänger. Sicher sind hier Souveränitätsfaktoren angesprochen, die bei der außenpolitischen Elite einen höheren Stellenwert haben als bei anderen funktionalen Eliten. Fragen der kollektiven Sicherheit haben Priorität bei der Mehrheit der außenpolitischen Elite. 54,3% sprechen sich für ein Konzept der kollektiven Sicherheit im Rahmen OSZE aus. Aber auch 51% plädieren für eine Verteidigungsunion der GUS-Staaten. Diese Präferenzen sind offensichtlich eine Reaktion auf die militärische Intervention der NATO im Kosovo. Gleichzeitig sprach sich etwa ein Drittel der Befragten für die russische Teilnahme am NATO-Programm "Partnerschaft für den Frieden" aus. Und ungefähr ein Drittel der Experten unterstützte die russische Teilnahme an gemeinsamen friedensstiftenden Einsätzen, sowohl durch die UNO als auch durch die zu schaffenden Krisenreaktionskräfte der EU, an denen sich vor allem auch NATO-Staaten beteiligen werden: Formen der europäischen kollektiven Sicherheit, die für Russland am ehesten zumutbar sind (in %, Mehrfachnennungen)
Diese Angaben zeugen davon, dass die Experten in Sicherheitsfragen flexible Lösungen durchaus akzeptieren. Dabei machen einzelne Vertreter auch Alternativvorschläge. So schlug einer der Experten vor, "ein prinzipiell neues Verteidigungsbündnis auf der Paritätsgrundlage NATO- Russland zu bilden". Somit ist die außenpolitische Elite in Fragen der kollektiven Sicherheit überaus kompromissbereit, allerdings nicht unbegrenzt. Keinesfalls will man sich zum Instrument einer fremdbestimmten Politik oder in eine Statistenrolle drängen lassen. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2001 |