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Europa: Eine Bundesrepublik mit begrenzten Kompetenzen? : Die Europapolitik der SPD im internationalen Vergleich / Michael Dauderstädt - [Electronic ed.] - Bonn, 2001 - 6 S. : 22 KB, Text . - (Politikinfo / Internationale Politik-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT


Rechtzeitig zum Parteikongress der Europäischen Sozialdemokraten (SPE) veröffentlichte die SPD am 30. April 2001 ihren Entwurf für einen Leitantrag zur Europapolitik. Das Dokument mit dem Titel „Verantwortung für Europa" ist lediglich ein Entwurf, der zunächst vom Präsidium der Partei und letztlich vom Parteitag der SPD in Nürnberg am 19.-23.11.2001 zu verabschieden ist. Erst dann wäre es eine verbindliche Darstellung der SPD-Position, aber auch dann noch keine offizielle Position der Bundesregierung, als die es international gern gehandelt wird. Das vorliegende Papier versucht, zentrale Aussagen dieses Entwurfs mit den Positionen wichtiger deutscher und europäischer Partner zu vergleichen, insbesondere Delors, Prodi, Blair, Fischer, französische und europäische Sozialisten.

Der größte Teil des SPD-Papiers (die ersten acht von zehn Abschnitten) beschäftigt sich mit inhaltlichen Zielen, also damit, was Europa mit der Integration erreichen will (Wohlstand, soziale Gerechtigkeit, Sicherheit etc.). Dieser „Output" steht auch bei den meisten anderen Autoren (vor allem Blair und den französischen Sozialisten) im Vordergrund und die Differenzen halten sich in Grenzen. Die Unterschiede bestehen mehr bei den Verfahren, den institutionellen Fragen und der Reform wichtiger Politiken. Darauf konzentriert sich das vorliegende Politikinfo.

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Zusammenfassung


Der SPD-Entwurf ist institutionell bescheidener als andere Vorschläge (z.B. Fischer oder Blair), da er keinen neue Organe vorsieht. In seiner Betonung nationaler Kompetenzen weist er mehr Gemeinsamkeiten mit den britischen als französischen Positionen auf.

Der implizite Föderalismus des SPD-Papiers (auch für eine europäische Verfassung) reibt sich dagegen deutlich mit englischen Vorstellungen, weniger mit französischen, die eine weitere Vertiefung aber eher innerhalb einer „Avantgarde" sehen, zu der sich die SPD nicht äußert.

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Das Trilemma der EU: Demokratie, Effizienz, nationale Interessen

Alle Vorschläge zur weiteren Entwicklung der EU bewegen sich im Spannungsdreieck zwischen demokratischer Legitimität, effizienter Erreichung inhaltlicher Ziele und dem Ausgleich nationaler Interessen.

Demokratische Legitimität entsteht in der EU aus zwei Quellen: dem direkt gewählten Europäischen Parlament und dem Rat als Vertretung der (meist indirekt) gewählten nationalen Regierungen. Sowohl ein Konsens der Regierungen als auch eine Mehrheitsentscheidung des Parlaments kann prinzipiell für sich demokratische Legitimität in Anspruch nehmen.

Aber die Nationalstaaten sind nicht bereit, sich in allen Bereichen europäischen Mehrheiten unterzuordnen. Mit immer mehr EU-Mitgliedern wächst auch die Angst, von immer unterschiedlicheren Interessen abhängig zu werden. Die Auswahl der Entscheidungsfelder, in denen die Mitgliedstaaten ihre Souveränität aufgeben, ist ein komplizierter Verhandlungsprozess. Dabei unterscheidet sich das Ausmaß der Souveränitätsaufgabe graduell je nach Politikfeld (Vetorechte, Mehrheits-entscheidungen, Mitwirkungsrechte des Parlaments, Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofs etc.). Die Nationalstaaten sehen allerdings ihre Souveränität durch reale Interdependenzen („Globalisierung") ohnehin eingeschränkt und hoffen, durch supranationale Politik wieder Gestaltungsmöglichkeiten zu gewinnen.

Je größer die perzipierte Interdependenz und das Vertrauen in gemeinsame Interessen ist, desto eher lassen sich Entscheidungen und Politiken supranational gestalten. Dabei erlaubt die Ausgestaltung der Verfahren unterschiedliche Grade nationaler Einflussnahme.

Die Briten vertrauen überwiegend der eigenen Regierung und kaum einer - in ihren Augen gesellschaftlich unbegründeten - europäischen Demokratie. Entsprechend setzen sie auf die Regierungskooperation und eine stärkere Rolle der nationalen Parlamente.

Die Franzosen sehen stärker die Notwendigkeit supranationaler Politik, fürchten aber die Verwässerung ihres Einflusses in einer immer größeren EU. Daraus resultiert ihr starkes Plädoyer für eine Avantgarde.

Die Deutschen akzeptieren dagegen, dass letztlich ein europäischer demokratischer Bundesstaat die der europäischen Ebene überlassenen Aufgaben regelt. Aber sie sind zunehmend wählerischer, was die Auswahl dieser Aufgaben betrifft.

Nationale Vorbehalte gegen europäische Politik artikulieren sich also mal mehr durch das Insistieren auf Verfahren, mal durch die Auswahl der Mitglieder am Entscheidungsprozess, mal durch die Begrenzung der Kompetenzfelder.

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Reform der Entscheidungsverfahren und Institutionen

Die am meisten beachteten und umstrittenen Aussagen des SPD-Papiers befinden sich eher gegen Ende im Abschnitt 9 „Aufgaben klar zuweisen". Hier fordert der Entwurf, „dass die Transparenz der Entscheidungswege auf europäischer Ebene durch Ausbau der Kommission zu einer starken europäischen Exekutive, durch weitere Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments mittels Ausweitung der Mitentscheidung und volle Budgethoheit sowie durch den Ausbau des Rates zu einer europäischen Staatenkammer gestärkt werden." Diese Gewaltenteilung entspricht grundsätzlich dem bundesdeutschen Modell. Obwohl zur Machtverteilung zwischen den beiden Kammern und der Kommission/Exekutive keine direkte Aussage gemacht wird, sahen viele Beobachter darin eine Schwächung des Rates und damit des Einflusses der nationalen Regierungen.

Schon der andere prominente deutsche Entwurf von Bundesaußenminister Fischer (wenn auch als „Privatmann") teilt zwar das föderale Ziel, entwickelt aber von der Rolle des Rates andere Vorstellungen: das Parlament soll zwei Kammern haben, aber die Staatenkammer wäre nach Fischer nicht der Rat, sondern ein neues Gremium, zusammengesetzt aus Abgeordneten der nationalen Parlamente. Der Rat dagegen wäre ein Teil einer doppelköpfigen Exekutive aus Rat und Kommission, deren gegenseitiges Verhältnis offen bleibt.

Tony Blair (Rede in Warschau am 6.10.2000) möchte dagegen am institutionellen Aufbau so wenig wie möglich ändern. Für ihn steht der Output im Vordergrund. Soweit er Änderungen vorsieht, geht es um eine Stärkung des Rates und der Nationalstaaten. Die Kommission wäre zwar „Hüterin der Verträge", aber die politische Leitlinie ginge vom Rat aus, dem der Kommissionspräsident zwar angehört, aber die Macht der Kommission wäre auf ein Vorschlagsrecht begrenzt. Eine zweite Kammer der Nationen (ähnlich wie bei Fischer) soll über die Kompetenzabgrenzung wachen. In der Stoßrichtung, wenn auch nicht so explizit, deckt sich dies mit dem Verfassungsentwurf des britischen „Economist", der die Kommission auch als Sekretariat des Rates sieht und den Vorschlägen von Larry Siedentop („Democracy in Europe").

Der französische Präsident Chirac (Rede in Berlin am 27.6.2000) klammert institutionelle Fragen weitgehend aus. Sie sind für ihn Teil einer künftigen Verfassung, die in einem mehrjährigen, offenen Prozess zu entwickeln ist.

Für die französischen Sozialisten (der internationale Sekretär Henri Nallet und andere Unterzeichner auf dem Parteitag der PS in Grenoble im November 2000) geht es um ein „institutionelles Gleichgewicht", das keine neuen Gremien vorsieht, aber den Rat stärken und das Parlament besser demokratisch legitimieren will. Der Kommissionspräsident soll aus den Kreisen der Parlamentsmehrheit gewählt werden.

Eine Gruppe wichtiger europäischer Sozialdemokraten (Europaabgeordnete) schlug im Februar 2001 einen „Neuen Föderalismus" vor, dessen Elemente weitgehend mir den SPD-Vorstellungen übereinstimmen, jedoch durch neue Funktionsbezeichnungen stärker die Staatlichkeit der EU hervorheben wollen: Kommission = Regierung, Kommissar = Minister; Kommissionspräsident = Premierminister, Ratspräsident = Präsident.

Naturgemäß laufen auch die Vorschläge von Kommissionspräsident Romano Prodi (Rede vom 3.10.2000) auf eine Stärkung der Kommission hinaus. Er kritisiert die Methode der Regierungszusammenarbeit und kann sich einen gerechten Interessenausgleich in der EU nur über die Kommission vorstellen. Sie ähneln darin auch den Vorstellungen von Jacques Delors (Internationale Politik und Gesellschaft 1/2001), der ebenfalls eine Effektivierung der Gemeinschaftsmethode befürwortet und die intergouvernementale Zusammenarbeit mit konstruktiver Kritik beäugt. Insgesamt sieht Delors jedoch weniger einen Bedarf an institutionellem Umbau als an einer besseren Zusammenarbeit der bestehenden Institutionen, wobei die Kompetenzen auch nach Politikfeldern zu differenzieren wären.

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Verfassung/Grundrechte/Kompetenzabgrenzung

Der SPD-Entwurf spricht sich dafür aus, der EU eine Verfassung zu geben, sieht das aber als ein langfristiges Ziel. Dabei sollen die Grundrechte (denen der Entwurf einen ganzen Abschnitt, 5. „Bürgerrechte stärken" widmet) einbezogen, die Vertragstexte einfacher und klarer und die Kompetenzabgrenzung deutlicher werden. Im 9. Abschnitt des SPD-Papiers („Aufgaben klar zuweisen"). kommen insbesondere die Interessen der deutschen Bundesländer in der Betonung der Subsidiarität spürbar zum Ausdruck. Aber auch die Rechte der Mitgliedstaaten sollen gegen einen „schleichenden Kompetenztransfer" geschützt werden, wobei aber die Union auch jene Kompetenzen erhalten soll, die sie zur Lösung ihrer europäischen Aufgaben braucht (z.B. in der Außen- und Sicherheitspolitik). Die SPD will zwar die Kompetenzen begrenzen; aber wo Europa sie hat, soll es sie wie ein Bundesstaat ausüben.

Bundesaußenminister Fischer wünschte eine Verfassung, die die drei wichtigen Aufgaben der Grundrechte, Gewaltenteilung und Kompetenzabgrenzung zwischen der föderalen Union und den Mitgliedstaaten regelt. In seinem jüngsten Interview mit der Financial Times Deutschland vom 17.5.2001 hat er diese bundesstaatliche Position allerdings zugunsten einer „Föderation der Nationalstaaten" abgeschwächt.

Es kann nicht überraschen, dass der britische Premier Tony Blair dagegen eine Verfassung für überflüssig hält. Er kann gut mit dem britischen Modell einer Vielfalt von grundlegenden Dokumenten leben, die er um eine „Kompetenzcharta" ergänzen möchte, die aber kein juristisches, sondern ein politisches Papier sein soll.

Der französische Präsident Chirac sieht eine Verfassung als Schlussstein einer längeren Entwicklung, die mit klareren Verträgen und der Grundrechtecharta beginnen soll und von einem Konvent zu steuern wäre.

Die französischen Sozialisten teilen den Vorschlag von Delors, der eine „Föderation der Nationalstaaten" vorgeschlagen hat. Delors hält aber eine Verfassung für weniger dringlich als pragmatische Verbesserungen, bei denen seiner Ansicht nach das Insistieren auf formalen Klarheiten nur stört.

Auch die Gruppe der SPE/PSE-Abgeordneten betont den verfassungsgebenden Prozess, der die Grundrechte verbindlich machen und die Verträge reorganisieren soll.

Die ebenfalls sehr umstrittenen SPD-Vorschläge zur Agrar- und Strukturpolitik betten sich für die SPD in die Kompetenzfrage ein und fordern eine Rückverlagerung der Kompetenzen an die Mitgliedstaaten.

Dazu haben sich die anderen Autoren kaum geäußert, aber die nationalen Interessen sind klar: Eine Renationalisierung von für sie kostenträchtigen Politiken lehnen die Franzosen bei der Agrarpolitik und andere (z.B. Spanien) bei der Regionalpolitik strikt ab.

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Verstärkte Zusammenarbeit/Avantgarde

Vor dem Vertrag von Nizza hat die Frage der vertieften Zusammenarbeit von einigen Mitgliedstaaten, schärfer auch als Vorschlag für eine „Avantgarde" oder ein „Kerneuropa" immer wieder Anlass zu heftigen innereuropäischen Kontroversen gegeben.. Das SPD-Papier nimmt zu diesem Streitpunkt nicht Stellung. Damit unterscheidet es sich deutlich von den meisten übrigen hier betrachteten Dokumenten.

Außenminister Fischer stand zwar dem Avantgarde-Konzept in seiner Berliner Rede skeptisch gegenüber, sah jedoch eine notwendige Differenzierung (vor allem nach der Erweiterung), die er auch für berechtigt hält, wenn der Integrationsprozess sonst stagniert. In seinem jüngsten Interview unterstreicht er aber auch die Folgeprobleme einer solchen Avantgarde-Lösung, die daher nur die zweitbeste Option darstelle.

Noch kritischer ist Tony Blair, der zwar die verstärkte Zusammenarbeit akzeptiert, ein Kerneuropa jedoch klar ablehnt. Er betont, dass jede Kerngruppe immer offen bleiben müsse und keine Gemeinschaftspolitiken unterminieren dürfe.

Für alle französischen Autoren spielt das Avantgarde-Konzept dagegen eine wichtige Rolle, um Integrationsziele (Wirtschafts- und Sozialpolitik, vor allem Steuerharmonisierung und Einführung von EU-Steuern, aber auch Innen- und Verteidigungspolitik) erreichen zu können, für die sie in einer Union der 15 und erst recht in einer erweiterten EU keinen Konsens mehr sehen.

Chirac sprach daher in Berlin von einer Avantgarde, deren verstärkte Zusammenarbeit von einem Sekretariat koordiniert werden könnte.

Auch Delors und die französischen Sozialisten befürworten eine Avantgarde. Vor allem Nallet entwickelt dazu auch weitreichende institutionelle Vorstellungen, die von der Gemeinschaftsmethode ausgehen und praktische parallele Organe (Rat, Parlament) vorsehen, die aber nur aus den Vertretern der Kerngruppe bestünden. Aber auch sie wollen diese Avantgarde immer für weitere Mitglieder offen halten.

Die europäischen Sozialdemokraten halten dagegen eine verstärkte Zusammenarbeit nur auf dem engeren gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik innerhalb der Euro-Gruppe für angezeigt.

Schnelle Übersicht

Thema

Institutionen

Verfassung

Avantgarde

SPD

Föderale Rollenstruktur

Langfristig

Keine Angabe

Fischer

Nationenkammer

Ja

Notlösung

Blair

Nationenkammer

Unnötig; Kompetenzcharta

Skeptisch

Chirac

Keine Änderung

Langfristiger Prozess

Naheliegend; mit Sekretariat

Nallet

Geringe Änderung, starker Rat

(langfristiger Prozess)

Notwendig mit eigenen Organen

Delors

Pragmatische Verbesserung der Kooperation

Pragmatismus statt formelle Regeln

Föderation der Nationalstaaten

SPE/PSE

Sichtbarer Föderalismus

Konstitutioneller Prozess

Nur in der Eurozone


Michael Dauderstädt

Friedrich-Ebert-Stiftung, 53170 Bonn, fax: 0228 / 883 538, e-mail: Daudersm@fes.de





Lesehinweis:

Weiterführende und vertiefende Ausführungen zum Thema finden Sie auch in:

Michael Dauderstädt: Wege, Umwege und Dritte Wege zu einem sozialen und demokratischen Europa. Bonn: FES, 2001. - (Reihe Eurokolleg ; 44)
Als Online-Ausgabe unter: http://library.fes.de/pdf-files/id/00924.pdf


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