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Die Rolle der EU beim Aufholprozess

Die EU sollte bedenken, wie sie die Beitrittsbedingungen für die neuen Mitglieder gestaltet, um die Angleichung der Einkommensniveaus möglichst zu beschleunigen. Der EU-Beitritt selbst wird die Attraktivität des Standorts Mittel- und Osteuropa kräftig erhöhen. Danach kann die EU den Aufholprozess der Beitrittsländer unterstützen, indem sie systematische Wettbewerbsverzerrungen zugunsten Mittel- und Osteuropas erlaubt und finanziert. Sie kann einmal über ihre Strukturfonds dazu beitragen, gute Rahmenbedingungen (Infrastruktur, Bildung) für Produktivitätssteigerungen und damit für private Investitionen zu schaffen. Sie kann weiter nationale Subventionen und Vorleistungen tolerieren, die Investoren dort begünstigen. Man darf allerdings gespannt sein, ob die alten Mitgliedsländer wirklich bereit wären, zwei drei, viele Irlands vor ihrer östlichen Haustür zu dulden, wenn diese versuchen, begehrte Investitionen durch Steuervergünstigungen sowie Infrastruktur- und Qualifikationsvorleistungen einzuwerben, die sie obendrein noch durch Transfers auf Kosten ihrer westlichen Konkurrenten finanzieren.

Soweit der Aufholprozess gelingt, sollten auch reale Aufwertungen und/oder höhere Inflationsraten folgen und diese wären durch die EU zu tolerieren. Wenn dagegen die Gefahr der Überschätzung der eigenen Wirtschaftskraft droht (wie z.B. in Tschechien Mitte der 90er Jahre), kann und sollte die EU als wichtigster Handelspartner und Investor warnen. Oft müsste sich diese Warnung aber eher an voreilige europäische Investoren als an die Geld- und Einkommenspolitik der armen Länder richten. Um zu hohe reale Aufwertungen zu vermeiden, kann neben einer restriktiven Geldpolitik im Inland auch eine – am besten mit der EU abgestimmte - Währungspolitik helfen, die signalisiert, dass beide Seiten spekulativen Aufwertungen entgegentreten. In dem Maße, wie sich ein Land entwickelt, d.h. seine Produktivität steigert und Exportüberschüsse erzielt, sollte es aber auch real aufwerten, um die Einkommensunterschiede zur EU abzubauen.

Die EU dürfte nicht – wie im Fall Irland – eine angeblich zu hohe Inflation und zu expansive Fiskalpolitik rügen oder gar sanktionieren. Denn eine so verstandene und exekutierte Stabilitätspolitik droht die Einkommensdisparitäten in Europa festzuschreiben. Inflation in ärmeren Mitgliedsstaaten oder auch Regionen ist innerhalb einer Währungsunion praktisch der einzige Weg zur Angleichung von Einkommensunterschieden. „Inflationierung„ bedeutet im Kontext der Einkommensanpassung, dass der Preisanstieg im aufholenden Land etwa 2-4 Prozentpunkte stärker ist als im EU-Durchschnitt. Es geht keinesfalls um die Rechtfertigung von „echter„ Inflation mit zweistelligen Anstiegsraten. Insbesondere osteuropäische Beitrittskandidaten und ärmere Mitglieder im Euroland müssten sich fragen, wie sich die EU ein Aufholen des Pro-Kopf-Einkommens ihrer Länder vorstellt, wenn eine höhere Inflation als im EU-Durchschnitt sanktioniert wird. Eine auf sozialen Ausgleich und Kohäsion bedachte europäische Wirtschaftspolitik muss also diese Aufholprozesse zulassen.

Wenn sich die Einkommen angleichen sollen, ist in einer Währungsunion eine höhere Inflation unvermeidlich. Zwar wäre angesichts der Produktivitätssteigerungen auch eine Preissenkung denkbar, die bei gleich bleibenden Nominaleinkommen das Realeinkommen erhöhen würde. Aber in einem europäischen Binnenmarkt würden damit vor allem die Exporte steigen, da die billigeren Produkte auf den Auslandsmärkten noch wettbewerbsfähiger werden. Denn eine Preissenkung bei festen Wechselkursen kommt einer Abwertung gleich. Der Nachfragesog würde alsbald die Preise wieder steigen lassen. Letztlich gilt in einem Binnenmarkt das Law of One Price („Gesetz des einheitlichen Preises„) – jedenfalls für handelbare Güter. [Vgl. dazu Hubert Gabrisch „Effects of Accession to the EU on Prices, Wages and Aggregate Demand in CEE Countries„ in Hubert Gabrisch und Rüdiger Pohl (eds.), a.a.O., S. 3-25.]

Schließlich sollten die Produktivitätsgewinne gerecht verteilt werden – auch um den Preis überdurchschnittlicher Lohnerhöhungen und staatlicher Umverteilungspolitik. Daran muss auch die EU ein Interesse haben, wenn sie langfristig die soziale Stabilität in der Nachbarregion erhalten und die Konsequenzen hoher Einkommensdisparitäten vermeiden will. Sie sollte also eine entsprechende Steuer- und Fiskalpolitik unterstützen und nicht durch unangemessene Stabilitätsanforderungen behindern.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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