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1. Katerstimmung allerorten

Ein Jahr nach dem Ende des NATO-Bombardements gegen Jugoslawien, mit dem ein internationales Mandat im Kosovo militärisch erzwungen wurde, macht sich Ernüchterung breit. Eine internationale Öffentlichkeit, die das Kosovo-Problem über Jahre weitgehend ignoriert hat, zeigt sich trotz ihrer Balkan-(Vor-)Urteile erstaunt, daß die Lage vor Ort nicht dem Leitbild einer friedlichen multi-ethnischen Zivilgesellschaft entspricht. Tatsächlich bestimmt das Prinzip der ethnischen Ausgrenzung weiterhin die politische Landschaft, denn nach ihrer Rückkehr im Sommer 1999 begannen die zuvor vertriebenen Kosovo-Albaner ihrerseits mit Vertreibungen und Gewalttaten. Diese zielten nicht nur auf die serbische Bevölkerung, sondern auch auf die Roma und andere Minderheiten. Eine Überquerung der seitdem geschaffenen ethnischen Trennlinien im Kosovo ist nur unter massivem Schutz der jeweils „Fremden„ durch die Kosovo Force (KFOR) möglich.

Die einzig dauerhaft tragbare Option für die gesamte Region Südosteuropa, nämlich die Konsolidierung moderner politischer Nationen und damit von Nationalstaaten, in denen der staatsnationale Konsens über die politische Beteiligung aller Bürger des Staatsgebiets, nicht jedoch über den Mythos der ethnischen Homogenität angestrebt wird –, liegt nach wie vor in weiter Ferne. Diese ist auch nicht in jeder Konstellation denkbar, sondern müßte der jüngsten Geschichte Rechnung tragen; eine technokratische Rekonstruktion der systematisch zerstörten jugoslawischen (Rest-)Nation ist aussichtslos. Dies kompliziert die Suche nach einem tragfähigen Status für das Kosovo, da die etablierte Praxis des Völkerrechts an der Garantie bestehender Staatsgrenzen orientiert ist.

Die Hilflosigkeit der internationalen Gemeinschaft, die Vertreibungen sowohl während als auch nach dem Krieg zu verhindern und für die persönliche Sicherheit aller Bürger Kosovos zu garantieren, haben verstärkte Zweifel an der Sinnhaftigkeit des westlichen Engagements aufkommen lassen, das gerade damit begründet wurde, weitere Menschenrechtsverletzungen und eine humanitäre Katastrophe zu vermeiden. Die Eskalationen nach dem Einmarsch der KFOR-Truppen leisten dem inhärenten Nihilismus einer außenpolitischen Denkschule Vorschub, die das Motto Give War a Chance zu ihrem Leitbild erhoben hat. Sie unterstellt, daß eine künstliche Stabilisierung durch Interventionen von außen grundsätzlich unmöglich ist, weil die Konfliktparteien kein eige-

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nes Interesse an einer Friedenslösung entwickeln konnten und ihr deshalb zwangsläufig entgegenarbeiten. [Edward N. Luttwak: Give War a Chance. In: Foreign Affairs 4/1999, S. 36-44.]

Zunehmend wird die Frage gestellt, ob die Ergebnisse der NATO-Aktion die politischen Kosten rechtfertigen, die durch den umstrittenen Umgang mit dem Völkerrecht entstanden sind. Denn auch wenn das Bombardement nicht einhellig als Bruch „des„ Völkerrechts interpretiert wird, so wird es doch zweifelsohne als machtpolitisch-militärische Durchsetzung eines völkerrechtlichen Prinzips Verbot des Völkermords ohne die völkerrechtliche vorgesehene Legitimierung durch den UN-Sicherheitsrat angesehen. [Vgl. Egbert Jahn: „Nie wieder Krieg! Nie wieder Völkermord!„ Der Kosovo-Konflikt als europäisches Problem. Forschungsschwerpunkt Konflikt- und Kooperationsstrukturen in Osteuropa an der Universität Mannheim: Untersuchungen des FKKS 23/1999, S. 28-38.]

Auch die Unzufriedenheit der über 2 Mio. Kosovaren steigt. Dies betrifft einerseits die etwa 10 %ige Minderheit der Kosovo-Serben, die inzwischen verhaßt bei den meisten albanischen Kosovaren, aber auch in Innerserbien unwillkommen und vom Milosevic-Regime für künftige Eskalationen instrumentalisiert die eigentlichen Verlierer der gegenwärtigen Lage sind und die internationale Präsenz grundsätzlich ablehnen. Andererseits sieht sich die internationale Präsenz seitens der Kosovo-Albaner der Frage ausgesetzt, warum sie ihre Mission nicht zu einem Ende führt, das den Willen von rund 90 % der Bevölkerung nach „Unabhängigkeit„ endlich erfüllt.

Schneller Wiederaufbau, langsame Entwicklung

Verstärkt wird die Unzufriedenheit durch die prekäre wirtschaftliche Lage, deren Verbesserung gemeinhin als Schlüssel zur Stabilisierung der Region angesehen wird. Die Ausgangsbedingungen für eine Entwicklung Kosovos sind aber keinesfalls optimal. Die Provinz war traditionell ein wenig industrialisierter Teil Jugoslawiens mit einigen schwerindustriellen Betrieben der Energiewirtschaft (Braunkohle und Wasserkraft) und des Buntmetallbergbaus (v.a. die Zink- und Bleiproduktion des Trepca-Kombinats). Der Anteil ländlicher Subsistenzwirtschaft war hoch. Für die jüngste Bevölkerung Europas zwei Drittel der Kosovaren sind unter 30 Jahre alt bietet sie nur wenige Zukunftsperspektiven, ganz im Gegensatz zu kriminellen Handlungen, die das schnelle Geld versprechen.

Obwohl gerade den Kosovo-Albanern ein hohes Maß an Eigeninitiative bescheinigt wird belegt durch die Schnelligkeit ihrer Rückkehr nach Beendigung des NATO-Bombardements, dem anschließenden Wiederaufbau ihrer Dörfer bis hin zu den wirtschaftlichen Aktivitäten in Handel und Dienstleistungen , haben die umfangreichen internationalen Hilfsprogramme bei vielen Kosovaren eine Anspruchshaltung entstehen lassen, diese Unterstützung als selbstverständliche Bringschuld der internationalen Organisationen anzusehen.

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Damit verbunden ist die Tendenz, die Verantwortung für jegliche Probleme die zweifelsohne vorhanden, aber in einer chaotischen Umbruchsituation wohl unvermeidlich sind vor allem der United Nations Interim Administration Mission in Kosovo (UNMIK) anzulasten. Im Gegensatz zur NATO und der von ihr geführten KFOR hat das UN-System bei den Kosovo-Albanern von Vornherein kein hohes Ansehen genossen, vor allem wegen (i) Srebrenica, (ii) der fehlenden Unterstützung der NATO-Kampagne durch den Sicherheitsrat, (iii) des Festhaltens an der territorialen Zugehörigkeit Kosovos zu Jugoslawien und (iv) der insgesamt ernüchternden Bilanz von UN-Missionen weltweit.

Bestätigt wird diese Haltung dadurch, daß die UNMIK in den ersten Monaten ihrer Existenz tatsächlich vor allem damit beschäftigt gewesen ist, die eigene Arbeitsfähigkeit herzustellen. Wichtige wirtschaftspolitische Entscheidungen wurden verzögert, die Rehabilitierung wichtiger Infrastruktur (Kraftwerke, Telekommunikation u.a.) verlief schleppend. Hinzu kommt, daß der ungeklärte Status Kosovos auch dazu führte, daß die für potentielle Investoren entscheidende Frage die Klärung der Eigentumsrechte offen geblieben ist.

Auf kosovarischer Seite herrschen zudem falsche Einschätzungen hinsichtlich des wirtschaftlichen Potentials des bescheidenen Industrieerbes vor. Wie auch in anderen Ländern zu Beginn der Transformation stellt sich nämlich die Frage, in welchem Umfang die alten Kollektivbetriebe unter marktwirtschaftlichen Bedingungen überhaupt wiederbelebt werden können. Da niemand die schmerzhaften Wahrheiten öffentlich ausspricht und vermittelt, steigt die Unzufriedenheit weiter.

Ausstiegsfahrplan ohne Ziel?

Angesichts der wachsenden Kosten und Risiken einer dauerhaften Präsenz vor Ort suchen die am UN-Mandat führend beteiligten Staaten inzwischen verstärkt nach Ausstiegsszenarien. Auf dem EU-Frühjahrsgipfel in Lissabon erhoben der Generalsekretär für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, und der Kommissar für Außenbeziehungen, Chris Patten, die Forderung, einen Fahrplan (roadmap) für die Konsolidierung des Kosovo im Rahmen der UN-Sicherheitsresolution 1244 zu erarbeiten. [ Report on the Western Balkans presented to the Lisbon European Council by the Secretary General/High Representative together with the Commission (SN 2032/2/00 REV 2). In: CEPS Europa South-East Monitor No. 9, March 2000, Brussels: Centre for European Policy Studies.]

Von den drei Elementen eines möglichen Fahrplans (Ziel, Wegstrecke und ihre zeitliche Festlegung) fehlt allerdings das wichtigste ein eindeutiges Ziel. Denn erfolgreich wird die Mission nur dann sein, wenn sie eine erneute Gewalteskalation nach ihrem Abschluß verhindert. Im Rahmen des UN-Mandats läßt sich ein Status für Kosovo, der dies gewährleistet, zumindest kurzfristig nicht finden.

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Grundsätzlich lassen sich für einen endgültigen Status Kosovos fünf Optionen mit steigenden Autonomie- bzw. Souveränitatsgraden identifizieren:

  1. Fortbestand als Teil Jugoslawiens und Serbiens;

  2. substantielle Autonomie im jugoslawischen Staatsverband;

  3. substantielle Autonomie im Rahmen eines internationalen Protektorats eigenen Typs;

  4. ethnische Teilung zwischen Serben und Albanern, möglicherweise gefolgt vom Anschluß der Teileinheiten an Albanien bzw. Serbien;

  5. Unabhängigkeit, möglicherweise gefolgt vom Anschluß an Albanien.

Eine dauerhaft tragfähige Option wird die Legitimation durch die kosovarische Bevölkerung sicherzustellen haben, also den Tatbestand einer modernen politischen Nationsbildung auf dem jeweiligen Staatsgebiet erfüllen müssen sei es innerhalb Jugoslawiens oder in einem unabhängigen Kosovo. Es ist jedoch augenscheinlich, daß es zur Zeit keine entsprechende einvernehmliche Lösung zwischen den beiden wichtigsten Bevölkerungsgruppen im Kosovo gibt.

Die albanisch-ethnische Mehrheit der Kosovaren tritt eindeutig für die Option (5) ein und sieht alle anderen Optionen durch die staatlich inszenierten Mord- und Vertreibungsaktionen der Jahre 1998/99 unwiederbringlich diskreditiert. Eine weitergehende Dynamik durch die anschließende Vereinigung Kosovos mit Albanien wird von den meisten Kennern der Region dagegen für unwahrscheinlich gehalten, obwohl sich die Mehrheit der Kosovo-Albaner durchaus als Teil einer großalbanischen Nation versteht. Dabei dominiert jedoch eher ein kulturelles denn ein politisches Nationenverständnis. Das real existierende, von Staatszerfall und kriminellen Strukturen geprägte Albanien insbesondere im benachbarten Nordalbanien übt nur wenig Anziehungskraft auf die Kosovaren aus und läßt bei ihnen nur wenig Neigung aufkommen, die positive Utopie eines vereinten Albaniens aktiv zu verfolgen. [ Vgl. Stefan Troebst: Die albanische Frage Entwicklungsszenarien und Steuerungsinstrumente. Studie für das Militärwissenschaftliche Büro des österreichischen Bundesministeriums für Landesverteidigung, Leipzig, 22. Mai 2000.]

Die serbisch-ethnische Minderheit hält mehrheitlich an Option (1) fest und wäre bestenfalls bereit, einer Variante der Option (2) zuzustimmen, der ein sehr eng gefaßtes Autonomieverständnis zugrunde liegt. Allerdings läßt das mit Belgrad abgestimmte Verhalten der politischen Vertreter der Serben im Nordteil Kosovos (Gebiet Mitrovica) darauf schließen, daß hier inzwischen auch über verschiedene Formen der Option (4) nachgedacht wird (s.u.).

Das UN-Mandat zielt dagegen auf eine tragfähige Option (2), nimmt aber aufgrund der Erkenntnis, daß eine „traditionelle„ Autonomieregelung bis auf weiteres nicht umsetzbar sein wird, aus pragmatischen und sicherheitspolitischen Erwägungen inzwischen starke Züge der Option (3) an.

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Eine Vision für Kosovo

Die Vision für ein erfolgreiches Ende der UN-Mission kann deshalb nur eine offene Zielvorstellung sein. Dies wäre ein Zustand, in dem für die Kosovaren eine Wahlmöglichkeit über den endgültigen Status (choice option) existiert, ohne daß die dann getroffene Entscheidung wie immer sie auch ausfallen mag den Frieden erneut gefährdet. Die Übergangsperiode bis zu diesem Zustand wird vermutlich recht lange dauern und erfordert ein fortgesetztes ziviles und militärisches Engagement. Diese Vision müßte trotz der damit verbundenen Kosten von der internationalen Gemeinschaft geteilt werden können, denn trotz aller Konkurrenzen befinden sich die wichtigsten internationalen Akteure NATO, UN, OSZE, USA, die EU und ihre Mitgliedsstaaten in einer Situation, in der letztlich alle gewinnen oder alle verlieren werden. Auch der großen Mehrheit der Kosovaren sollte diese Vision vermittelbar sein, da die Alternative Krieg und damit nur erneutes Elend bedeuten würde.

Diese Vision soll im folgenden vertieft und begründet werden. Abschnitt 2 diskutiert die Lösungsansätze im Rahmen des UN-Mandats. Er geht zunächst auf die wiederholt geäußerten Vorschläge einer Teilung Kosovos ein und widmet sich dann der bisherigen Ausgestaltung des Autonomiestatus, vor allem in den Schlüsselbereichen Rechtsetzung und Eigentumsordnung. Abschnitt 3 widmet sich dem Kernproblem des internationalen Mandats, der Durchsetzung und Legtimierung des staatlichen Gewaltmonopols. Zunächst wird die Transformation der kosovarischen Parallelstrukturen und die Einbindung der Kosovaren in die Gemeinsame Übergangsverwaltung problematisiert, sodann die Fragen der inneren Sicherheit und der inter-ethnischen Beziehungen. Das Fazit in Abschnitt 4 benennt die wichtigsten Prinzipien, die zum erfolgreichen Abschluß des UN-Mandats beitragen können.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

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