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Europas schwieriger Osten : Konkurrent oder Armenhaus / von Michael Dauderstädt. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1994. - 19 S. : 77 Kb, Text . - (Reihe Eurokolleg ; 28). - ISBN 3-86077-295-3 Electronic ed.: Bonn: EDV-Stelle der FES, 1998 © Friedrich-Ebert-Stiftung
Zusammenfassung
1. Nun teilt die Arbeit, was zusammenwächst
Europa wächst zusammen. Nach dem Umbruch in Mittel- und Osteuropa (MOE) haben alle europäischen Länder ihre - z.T. neuen - Grenzen für Handel und Investitionen geöffnet. Obwohl Arbeitskräfte meistens keine Freizügigkeit genießen, hat auch die Migration von Ost nach West zugenommen. Diese Ströme von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften verknüpfen zwei vorher weitgehend gegeneinander abgeschottete Regionen Europas. Die beiden Teile Europas gehen damit eine neue Arbeitsteilung ein. Sie
hängt von den unterschiedlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Strukturen des Arbeitsmarktes in Ost und West ab:
Aufgrund seiner geographischen Nähe, Qualifikation und kulturellen
Verwandtschaft übt dieses Arbeitskräftepotential einen erheblich
stärkeren Konkurrenzdruck auf Westeuropa aus als andere Niedriglohnstandorte,
etwa in den Entwicklungsländern. Die gleichen Faktoren lassen umgekehrt
die Westeuropäer hoffen, daß sie auf den MOE-Märkten größere
Chancen haben als außereuropäische Anbieter. Schließlich
hat die EU ein starkes Interesse an der politischen und sozialen Stabilisierung
MOEs. Armutsmigration und politische Fluchtbewegungen aus einem instabilen
MOE könnten die innere Sicherheit und den sozialen Frieden, autoritär-nationalistische
Regime in MOE die äußere Sicherheit der EU gefährden. Ein
stabiles MOE bietet der EU und vor allem Deutschland auch Schutz vor weniger
stabilen Ländern auf dem gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Welche Auswirkungen das Zusammenwachsen Europas und insbesondere die
damit verbundene neue Arbeitsteilung auf Westeuropa hat, hängt wesentlich
von der Entwicklung in MOE ab, die der Westen nur am Rande beeinflussen
und gegen die er sich nur begrenzt schützen kann. Aus dem Nord-Süd-Verhältnis
lassen sich drei - sicher zugespitzten - Szenarien ableiten, die die Chancen
und Risiken unterschiedlicher Entwicklungsperspektiven verdeutlichen:
Diese Szenarien werden sich zeitlich und regional differenziert und
kaum in Reinform verwirklichen. Schon jetzt ist absehbar, daß nur
wenige Länder - evtl. Tschechien und Slowenien - sich zu "Tigern"
entwickeln können. Eine Lateinamerikanisierung deutet sich dagegen
in unterschiedlicher Intensität in vielen Ländern an. Elemente
afrikanischer Zustände sind wiederum nur fallweise und in bestimmten
Aspekten (z.B. kriegerische Verwicklungen) am Südrand der GUS oder
im ehemaligen Jugoslawien zu beobachten. Die Auswirkungen auf die EU unterscheiden sich erheblich. Die Standortkonkurrenz
nimmt über die drei Szenarien ab, aber auch die Exportchancen. Mit
der Wettbewerbsfähigkeit sinkt die Attraktivität für Investoren
und die Importkonkurrenz. Die neuen Märkte in MOE muß sich die
EU mit anderen Anbietern teilen. Inwieweit die EU diese Exportchancen nutzen
kann, hängt von ihrer Marktposition in MOE ab. Migrationsdruck und
sicherheitspolitische Risiken nähmen dagegen von Szenario zu Szenario
zu. Die EU kann nur wenig dazu beitragen, daß ein bestimmtes Szenario
eintritt. Trotz mancher Kosten und Anpassungslasten wäre Hongkong
vor der Haustür für die EU attraktiver als die beiden anderen
Alternativen. Aber ohne entscheidenden Einfluß muß sie versuchen,
sich strategisch auf die wahrscheinliche - und nicht die gewünschte
- Entwicklung in MOE einzustellen. Dabei sollte die Strategie der EU darin
bestehen , das gewünschte Szenario wahrscheinlicher zu machen. Es
bleibt das Risiko, daß sich die EU auf ein von ihr erwartetes Szenario
einstellt, aber von einer anderen Entwicklung überrascht
wird. 2. die bewußtlose Peripherisierung: Transformationsprozeß
und außenwirtschaftliche Öffnung Die bisherige Entwicklung in MOE läßt keine klaren Prognosen
zu. Die Unterschiede zwischen den Ländern nehmen im Zuge der Reformen
eher zu. Gemeinsamer Ausgangspunkt war die Überzeugung der Reformeliten
in MOE, daß mit der Einführung der Marktwirtschaft die Planwirtschaften
einen automatischen Aufholprozeß vollziehen würden. Ihrem Credo
von Demokratie, Marktwirtschaft und Öffnung nach Europa entsprach
es, den Handel zu liberalisieren sowie eine enge wirtschaftliche und politische
Integration mit der EU zu suchen. Sie gingen davon aus, daß auch
der Westen zu einer entsprechenden Öffnung bereit sei. Bezeichnenderweise
unterstreichen gerade die entschiedensten Reformer wie der polnische Finanzminister
Balcerowicz oder der tschechische Premier Vaclav Klaus, daß sie vom
Westen weniger Hilfe im traditionellen Sinn (Kredite, Beratung) als Marktzugang
erwarteten. Gegen diesen liberalen Grundkonsens opponieren in MOE nach dem Umbruch
die Nationalisten und - etwas maßvoller und differenzierter - die
Postkommunisten. Sie mißtrauen dem Markt als Instrument und/oder
dem Westen als Partner. Von der Öffnung für ausländische
Investoren befürchten die einen den Ausverkauf der nationalen Industrie,
die anderen die Ausbeutung der Beschäftigten. Sie treten für
einen Schutz der MOE-Märkte gegen Importe ein und radikale Oppositionsgruppen
stimmen gegen die EU-Assoziierung. Die Außenwirtschaftspolitik in MOE folgte zunächst dem liberalen
Konzept, am stärksten in Mitteleuropa, weniger ausgeprägt auf
dem Balkan oder in der ehemaligen Sowjetunion. Die Reformer beendeten die
alten Außenhandelsmonopole, lösten den Rat für gegenseitige
Wirtschafshilfe (RGW) auf und senkten die Zölle sowie andere Hürden
gegen Importe. Sie traten den internationalen Organisationen wie GATT usw.
bei und schlossen Handels- und Kooperationsabkommen bzw. Assoziierungsverträge
mit der EU und anderen OECD-Staaten. Sie machten die Währungen für
Inländer und Leistungsbilanztransaktionen konvertibel. Die meisten
Ländern werteten die nationale Währung stark ab und orientierten
die Wechselkurspolitik an den Hartwährungen, um die Kursrisiken für
den Westhandel zu beschränken. Die Folgen für den Außenhandel waren dramatisch. Der regionale
Handel brach weitgehend zusammen, während der Handel mit dem Westen
stark zunahm. Der Anteil der EU am MOE-Außenhandel verdoppelte sich
zwischen 1989 und 1992. Bis 1991/92 waren die Leistungsbilanzen im Gleichgewicht
oder wiesen gar einen Überschuß für MOE aus. Seit 1992
überwiegen die Importe. Vor allem die EU-Handelsüberschüsse
(1991: 1,4 Mrd. ECU; 1992: 2,5 Mrd. ECU, 1993 1. Halbjahr: 3,1 Mrd. ECU)
nahmen zu, da
Die wachsenden Zahlungsbilanzdefizite gefährden die Kreditwürdigkeit
der höher verschuldeten MOE-Staaten. Diese Länder benötigen
schon Exportüberschüsse, um ihre Altschulden zu bedienen. Andererseits
wies Rußland 1993 einen hohen Ausfuhrüberschuß von ca.
20 Mrd. US$ auf, der einer entsprechenden Kapitalflucht entsprach. Einige
Länder haben inzwischen die Zölle wieder erhöht, um einem
weiteren Anstieg der Importe vorzubeugen. Die Zusammensetzung der Ausfuhren nach Westen änderte sich dabei
wenig. MOE exportierte hauptsächlich landwirtschaftliche Produkte,
Rohstoffe und Fertigwaren niedriger Technologie. Die vorher in den RGW-Raum
exportierten Investitionsgüter und höherwertigen Konsumgüter
wurden also kaum umgelenkt. Ihre Ausfuhr und Produktion sank, während
die Produktion für Westexporte anstieg bzw. aus dem Angebot für
den Binnenmarkt genommen wurde. Die meisten Exporte kamen und kommen weiterhin aus Staatsunternehmen.
Der neue Privatsektor beschränkt sich hauptsächlich noch auf
kleinere Unternehmen im Dienstleistungsektor (Handel, Gastronomie), die
bestenfalls in Form von Tourismusdienstleistungen "exportieren".
Selbst dort, wo die "große Privatisierung" schon anläuft,
beschränkt sie sich auf eine Änderung der Eigentumsverhältnisse.
Kein neuer Input an Kapital, Technologie, Management oder Weiterqualifizierung
der Beschäftigten hat die Produktpalette, Kostenstruktur oder die
Export- und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen verbessert. Das Finanzsystem
bevorzugt selbst bei marktrationalem Verhalten (also ohne klientelistische
Verstrickungen) die bei ihm verschuldeten, unproduktiven Betriebe, da es
diese zur eigenen Rettung durch neue Kredite vor Konkurs bewahren muß. Veränderungen ergeben sich eher aus Direktinvestitionen. Seit dem
Umbruch haben Westinvestoren Zehntausende von Projekten, oft Joint ventures,
angekündigt. Die tatsächlich Kapitalströme sind jedoch bescheidener.
Neue Produktionen wurden kaum begonnen. Die wichtigsten Investoren übernahmen
bestehende Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung im Binnenmarkt.
In einigen Fällen (z.B. westliche Automobilhersteller) erwarteten
die Investoren von den MOE-Regierungen den Schutz dieser Marktposition
durch Zölle gegen Importe. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit von MOE ist nach wie vor schwach. Der Exportboom nach Westen verdankte sich äußeren Faktoren wie dem Abbau westlicher Handelsschranken, der Abwertung der MOE-Währungen und dem Zusammenbruch der anderen Absatzmärkte. Das Marketing, die Qualität, das technologische Niveau und die begleitenden Dienstleistungen der MOE-Produkte sind oft mangelhaft. Niedrige Preise können diese Nachteile nur bei Erzeugnissen ausgleichen, bei denen sie eine geringe Rolle spielen (z.B. Rohstoffe, einfache Fertigwaren). Der Lohnkostenvorteil wird meist überschätzt. Weder sind die
typischen MOE-Exporte in den Westen besonders arbeitsintensiv, noch machen
Lohnkosten in MOE insgesamt einen entscheidenden Teil der Gesamtkosten
aus. Viele MOE-Produktionen weisen eine niedrige oder gar negative Wertschöpfung
auf. Mit der Weltmarkintegration paßt sich auch das Preisgefüge
in MOE an. Die Lebenshaltungskosten (Mieten, Transport, Steuern, Sozialabgaben)
steigen. Folgen die Löhne nach, so muß der Lohnkostenabstand
schwinden, wenn die Inflation nicht durch Abwertungen kompensiert wird.
Die mitteleuropäischen Länder wiesen aber seit 1991 eine reale
Aufwertung auf. Die niedrigen Löhne trugen bis jetzt dazu bei, daß die MOE-Industrie
kaum gezwungen war, ihre Produktivität zu steigen. Dieser Kontext
niedriger Produktivität und Löhne bietet hochproduktiven Exporteuren
- seien es ausländische Investoren oder einheimische Modernisierer
- ideale Kostenvorteile im internationalen Wettbewerb. Die Industrie baute
in einigen Ländern schon zahlreiche Arbeitsplätze ab - teils
als Reaktion auf Marktverluste durch Importkonkurrenz. Aber die Masse der
Entlassungen, die den Personalbestand der Unternehmen in die Nähe
vergleichbarer westlicher Firmen brächten, steht noch weitgehend bevor.
Viele Entlassene, vor allem Frauen, melden sich aber nicht arbeitslos,
sondern scheiden aus dem Arbeitsmarkt als Hausfrauen, Rentner etc. aus.
Dieser Prozeß senkt die im internationalen Vergleich hohen Partizipationsquoten
in MOE auf westliches Niveau, aber um den Preis einer Verarmung der Familien,
in denen jetzt alle nur noch von einem einzigen, oft auch real gesunkenen
Einkommen leben müssen. Verarmung und dauerhafte Einkommensunterschiede könnten mittelfristig
die Auswanderungstendenzen aus MOE stärken. Bis jetzt emigrierten
im wesentlichen nur bestimmte Gruppen wie die deutschstämmigen GUS-Einwohner
oder Kriegsflüchtlinge aus Kroatien und Bosnien. Dazu kommen in geringerem
Umfang in Grenzstaaten wie Österreich, Deutschland oder Italien Wanderarbeiter
aus den Nachbarländern, die aber in Branchen wie der Bauindustrie
oder im Dienstleistungssektor spürbaren Druck auf den Arbeitsmarkt
ausüben, sowie die Abwanderung hochqualifizierter Kräfte ("brain
drain"). Immerhin machen Immigranten aus MOE schon 11% der ausländischen
Arbeitnehmer in Deutschland und ca. 17% in Österreich aus. MOE hat die Entwicklung einer neuen Arbeitsteilung in Europa bisher
kaum bewußt beeinflußt. Dazu fehlten den wichtigen Akteuren
die Philosophie und die Instrumente. Der Marktfundamentalismus der Regierungen
der ersten Stunde enthielt sich weitgehend jedes positiven Eingriffs. Die
Stabilisierungs-, die Liberalisierungs- und die Privatisierungspolitik
hatten struktur- und industriepolitische Wirkungen, aber diese ergaben
sich als sektorale Effekte globaler Politiken, ohne in ihrer Sektorwirkung
durchdacht oder beabsichtigt zu sein. Im Ergebnis erzielte diese Strategie der "bewußtlosen Strukturpolitik"
die Entwertung des Humankapitals, den Zusammenbruch der Produktionen mit
höherer Technologie und eine Exportspezialisierung in Bereichen niedriger
Wertschöpfung. In den ersten Jahren nach dem Umbruch hat die neue
Arbeitsteilung in Europa MOE Arbeitsplätze genommen. Insgesamt läuft
dies von der Produktionsstruktur auf eine "Peripherisierung"
von MOE hinaus. 3. Europas Offene Arme greifen zu Der Peripherisierung MOEs entspricht auf der Seite der Industrieländer
ein Interessen- und Handlungsprofil, das einer Metropole angemessen ist.
Europas erstes Interesse an MOE ist außen- und sicherheitspolitisch.
Die Unterstützung der Reformen dient zuerst dazu, Stabilität
und Demokratie in der Nachbarregion zu sichern und zu verhindern, daß
antiwestliche Kräfte dort an die Macht kommen. Die wirtschaftliche
Öffnung und Zusammenarbeit war ein Mittel zu diesem Zweck. Auf das
außenpolitische Oberziel müssen sich daher all jene beziehen,
die für MOE mehr - auch auf Kosten Westeuropas - erreichen wollen. In dieser Zielkonstellation ähnelt das westliche Interesse dem
an den Entwicklungsländern. Nicht zufällig nahmen sich auch weitgehend
die gleichen Institutionen (Ausnahme: die neue EBRD) mit ähnlichen
Instrumenten der neuen Aufgabe an, MOE zu "entwickeln". Das vorläufige
Ergebnis einer tendenziellen "Peripherisierung" erinnert viele
Beobachter an die unrühmliche Rolle der Entwicklungspolitik. Gerade
die schon im Entwicklungsländerzusammenhang umstrittenen Stabilisierungskonzepte
von Weltbank und IWF haben in MOE den in einigen Ländern sicher nötigen
Inflationsabbau mit einem unnötig hohen Preis an Rezession und Deindustrialisierung
erkauft. Auch die EU wählte bekannte Instrumente. Sie schloß mit den
MOE-Staaten zunächst Handels- und Kooperationsabkommen, die dann bald
für die Visegradländer durch die Assoziation im Rahmen der Europaabkommen
abgelöst wurden. Nach Bulgarien und Rumänien dürfte demnächst
auch Slowenien assoziiert werden. Kernstück der Assoziation ist der
Aufbau einer Freihandelszone, die bei aller Asymmetrie zum Vorteil der
wettbewerbsfähigeren Union ist. Politischer Dialog und Hilfsprogramme
flankieren die handelspolitischen Beziehungen. Wirtschaftliche Interessen Westeuropas bestimmten Ausmaß und Form
der öffentlichen wirtschaftlichen Hilfe. Die allgemeine Marktöffnung
wich konkreten Regelungen, die für zahlreiche Produkte Beschränkungen
vorsahen und einen Detailprotektionismus zuließen, der potentielle
Exporteure in MOE schon im Vorfeld entmutigen muß. Die Hilfe diente
über weite Strecken den Exportinteressen und der Flankierung westlicher
Investitionen. Selbst die Beratungshilfe diente u.a. dazu, die Übernahme
westlicher Modelle in der Gesetzgebung zu fördern und damit westlichen
Akteuren ein vertrautes Rechtsumfeld in MOE zu schaffen. Schließlich
profitierten die Zulieferer der Hilfe wie Beratungsfirmen, Lieferanten
bei Materialhilfe, Auftragnehmer bei Hilfeprojekten etc. in Westeuropa. Die private Wirtschaft selbst füllte die neuen Spielräume
aus, die die Politik in Ost und West geschaffen hatte. Sie folgte dabei
ihrer eigenen Logik. Konsumenten (auch als Touristen), Importeure und Verbraucher
von Rohstoffen nutzten die neuen billigen Bezugsquellen. Exporteure ergriffen
die Chance, die Ostmärkte mit den lange entbehrten Westwaren zu bedienen.
Unternehmer (vor allem im Bausektor) und Haushalte in Deutschland und Österreich
heuerten billige Arbeitskräfte an, die aus MOE einwanderten bzw. als
Pendler kamen. Westinvestoren schlossen zahlreiche Kooperationsabkommen, hielten sich
aber mit wirklichen Investitionen zurück. Sie wollten stärker
die Märkte in MOE sichern als MOE als kostengünstigen Standort
für Weltmarktproduktion nutzen. Nur im grenznahen Raum lagerten Firmen
lohnintensive Produktionsschritte nach Tschechien oder Polen aus. Insgesamt
gingen nur marginale Anteile (unter 0,5%) der westlichen Direktinvestitionen
nach MOE. Deutschland lag mit ca. 5% hinter Österreich mit ca. 15%
an der Spitze. Der geringe Wert mag aber das Ausmaß der damit verbundenen
Arbeitsplatzverlagerung verschleiern, da MOE-Firmen relativ billig zu haben
sind und daher - vor allem in arbeitsintensiven Branchen - die Investitionssumme
pro Arbeitsplatz gering ausfällt. Andere EU-Staaten (Portugal, Spanien,
Großbritannien, Irland) treten weniger als Investoren in MOE auf,
sondern konkurrieren mit MOE um Investitionen aus Drittländern (Japan,
USA) und befürchten jetzt deren Umlenkung nach MOE. Unterm Strich wirkten sich bisher die Lohnkostenunterschiede noch wenig
auf die Unternehmensentscheidungen aus. Weder kam es zu massiven Produktionsverlagerungen
noch zu einer starken Verdrängung einheimischer Anbieter durch Billigimporte
oder zu einem massiven Zustrom von Arbeitskräften. Letzteres verhindern
auch gesetzliche Regelungen weitgehend, sodaß die Konkurrenz nur
auf dem schwarzen Arbeitsmarkt spürbar wird. Bei Importen bremsen
zum einen die immer noch hohen Transaktionskosten größere Verschiebungen.
Sie dürften aber mit zunehmenden Lernprozessen seitens der Ostanbieter
und durch stärkeres Engagement westlicher Importhandelsgesellschaften
abnehmen. Firmenumfragen zu Investitionsmotiven zeigen, daß das Lohnkostenargument
bei langfristig angelegten Projekten eine geringe Rolle hinter Faktoren
wie der politischen und finanziellen Stabilität, lokaler Markt und
Qualität der Arbeitnehmer spielt. Lediglich im grenznahen Raum (Bayern,
Österreich) hat die Teilauslagerung von Produktion schon spürbare
Wirkungen auf den lokalen Arbeitsmarkt beiderseits der Grenze. Wachstum und Beschäftigung in der EU hängen vom Handelsaustausch
mit MOE ab. Bisher war das Volumen insgesamt und erst recht der Exportüberschuß
zu klein, um nennenswerte Wirkungen zu entfalten. Grundsätzlich profitiert
die EU davon, wenn die Wirtschaften MOEs wachsen. Aber dieses Wachstum
muß zumindest teilweise autonom sein und nicht nur von West nach
Ost verlagerte Produktion darstellen. Die Verlagerung von Teilproduktionen
geht zwar auch mit einer Ausdehnung des Handels einher (Lieferung von Vorprodukten
nach Osten, Import der weiterverarbeiteten Erzeugnisse). Dieses Handelswachstum
verbindet sich aber mit Beschäftigungseinbußen im Westen. Selbst
ein Exportüberschuß mag im Verlagerungskontext vom Export von
Investitionsgütern nach MOE herrühren, die bei Nutzung in der
Produktion dann Westproduktion ersetzen. Betrachtet man die Handelsbilanz für einzelne Produktgruppen, so
stehen EU-Überschüssen bei Investitionsgütern Defizite bei
einfachen Industrieprodukten gegenüber. In den entsprechenden Branchen
haben diese Importe EU-Grenzanbieter auch schon in Schwierigkeiten gebracht.
In dem Maße, wie sich solche Anbieter in bestimmten Regionen oder
Ländern konzentrieren, kann es auch zu Konflikten innerhalb der EU
kommen. Die Bayern werden ungern ihre Porzellan-, die Portugiesen kaum
ihre Textilindustrie opfern, um den Absatz der Investitionsgüterunternehmen
in Baden-Württemberg oder Norditalien zu fördern. Die hohe Sockelarbeitslosigkeit in der EU, die in der Rezession seit 1992 weiter anstieg, verlieh den noch geringen Beschäftigungseffekten der Ostintegration eine überproportionale Bedeutung. Was in Zeiten der Vollbeschäftigung als willkommene Entlastung gegolten hätte, erschien nun als Bedrohung. Mögliche stärkere Wirkungen in der Zukunft unterstreichen diese Sichtweise noch. Die Arbeitgeber weisen gern auf die niedrigen Löhne im Osten hin,
um die Gewerkschaftsforderungen im Verteilungskampf zurückzuschrauben.
Die Standortdebatte in Deutschland vergleicht gerne das deutsche Lohnniveau
mit MOE, um Druck auf Löhne und Sozialleistungen auszuüben. Unternehmer,
die arbeitsintensive Produktionsschritte nach MOE auslagern und dabei Arbeitsplätze
in Deutschland abbauen, erklären daraufhin, daß diese Arbeitsplätze
auf jeden Fall verloren gegangen wären. Nur durch die Verbilligung
der Gesamtproduktion konnten sie das Überleben des Unternehmens im
(internationalen) Wettbewerb sichern und die restlichen Arbeitsplätze
retten. Diesen internationalen Wettbewerb bestimmen gewichtigere Spieler als
MOE. Die EU muß sich in erster Linie mit Konkurrenten aus den USA,
Japan und Südostasien messen. Diese setzen die Weltmarktstandards
an Kosten und Qualität, die es zu erreichen gilt. Die Öffnung
nach Osten gibt EU-Produzenten weniger neue Konkurrenten als eine Chance,
einen Produktionsverbund mit einer Niedriglohnregion vor der Haustür
einzugehen, wie sie die Weltmarktkonkurrenten in ihrem Bereich schon länger
haben. In einem solchen Produktionsverbund könnte die europäische
Industrie geographisch ihre Wertschöpfungskette so restrukturieren,
daß sie international wettbewerbsfähig wird oder bleibt. Einerseits sind die EU-Investoren an niedrigen Kosten und Löhnen
in MOE interessiert, andererseits aber an wachsenden Märkten in MOE,
die ihrerseits von steigenden Einkommen abhängen. Dieses Dilemma stellt
sich aber nur kurzfristig. Langfristig könnte die Wirtschaft der EU
am meisten von einem prosperierenden MOE profitieren. Eine neue Wachstumsregion
im eigenen Hinterhof würde die EU etwas dafür entschädigen,
daß sie den Einstieg in Asien, der wichtigsten Wachstumsregion, verschlafen
hat. Asien seinerseits verschläft eventuell den Einstieg in ein prosperierendes MOE nicht. Trotz geographischer und kultureller Nähe gibt es keine Garantie dafür, daß Europa hauptsächlich oder gar allein vom Nachfragewachstum in MOE profitiert. Sind die anderen Anbieter wettbewerbsfähiger, so zieht die EU den kürzeren. Zwar mag MOE seine Devisen mit Exporten nach Westeuropa verdienen; es gibt sie aber gegebenenfalls für Importe aus anderen Ländern aus. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1998 |