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Europas schwieriger Osten : Konkurrent oder Armenhaus / von Michael Dauderstädt. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1994. - 19 S. : 77 Kb, Text . - (Reihe Eurokolleg ; 28). - ISBN 3-86077-295-3
Electronic ed.: Bonn: EDV-Stelle der FES, 1998

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT


Zusammenfassung

  1. Ost- und Westeuropa wachsen zusammen. Aber unterschiedliche Gesellschaftsstrukturen und dramatische Einkommensunterschiede kennzeichnen den neuen gesamteuropäischen Markt für Arbeit, Kapital, Güter und Dienstleistungen.
  2. Niedriglohnkonkurrenz aus Mittel- und Osteuropa (MOE) bedroht Arbeitsplätze im Westen, vor allem in Regionen und Sektoren mit niedrigen Löhnen und einfacher Technologie. Das Ausmaß und Charakter der Bedrohung hängen von der Entwicklung in MOE ab. Ein "Taiwan" vor der Haustür wäre ein ernster Konkurrent, aber auch ein interessanter Markt, während ein instabiles und stagnierendes MOE - abgesehen von den politischen Risiken - weniger Marktchancen bietet und kaum Wettbewerbsdruck ausübt. Die bisherige Entwicklung in MOE deutet auf eine Differenzierung der Region hin, wobei die Tendenzen zur "Peripherisierung" mit schwacher Standortattraktivität überwiegen.
  3. Zwar hängt die künftige Arbeitsteilung vor allem von der Entwicklung MOEs ab, aber auch Politik und Wirtschaft der Europäischen Union (EU) beeinflußen ihre Natur. Zögerliche Marktöffnung sowie kredit- und exportorientierte Hilfsprogramme haben die Peripherisierung MOEs unterstützt. Die Wirtschaft beginnt die neuen Investitions- und Marktchancen zu nutzen, auch wenn die Ströme an Waren, Arbeit und Kapital noch relativ bescheiden sind.
  4. Wenn MOE seine Peripherisierung überwinden und eine wettbewerbsfähige Wohlstandszone werden will, muß es einen Währungsmerkantilismus und eine aggressive Handels- und Standortpolitik verfolgen. Dazu müssen die Reformeliten ihr unrealistisches Vertrauen in das politisch und gesellschaftlich unbeeinflußte Wirken der Marktkräfte ablegen. Diese Strategie bringt MOE in Konflikt mit den kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen des Westens.
  5. Die EU kann sich letztlich nicht durch Protektionismus vor MOE schützen. Eine Abwehrstrategie der EU droht, MOE wirtschaftlich und politisch zu destabilisieren. Eine offene EU läuft Gefahr, MOE Devisenerlöse zu ermoglichen, die MOE für Importe aus Konkurrenzwirtschaften (Asien, Nordamerika) nutzt. Daher muß die EU eine offensive Politik der Arbeitsteilung - am besten flankiert durch eine Osterweiterung - verfolgen, die ihre Marktchancen in MOE sichert.
  6. Die neue Arbeitsteilung und eine mögliche Osterweiterung erfordern eine politisch handlungsfähige EU, die die Integration MOEs mit einer gesamteuropäischen Wachstums- und Beschäftigungspolitik unterstützt. Denn auf dem Hintergrund von Rezession und Massenarbeitslosigkeit mangelt es der EU an Konsens- und Strategiefähigkeit zur Anpassung an die neue Arbeitsteilung. Ein Ausgleich zwischen den Gewinnern und Verlierern in der EU und die politische Dosierung der Anpassungszwänge könnte die Widerstände gegen eine Öffnung verringern.

1. Nun teilt die Arbeit, was zusammenwächst

Europa wächst zusammen. Nach dem Umbruch in Mittel- und Osteuropa (MOE) haben alle europäischen Länder ihre - z.T. neuen - Grenzen für Handel und Investitionen geöffnet. Obwohl Arbeitskräfte meistens keine Freizügigkeit genießen, hat auch die Migration von Ost nach West zugenommen. Diese Ströme von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften verknüpfen zwei vorher weitgehend gegeneinander abgeschottete Regionen Europas.

Die beiden Teile Europas gehen damit eine neue Arbeitsteilung ein. Sie hängt von den unterschiedlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen des Arbeitsmarktes in Ost und West ab:

  • Pro-Kopf-Einkommen und Löhne liegen im Durchschnitt im Osten bei einem Bruchteil des westlichen Niveaus, auch wenn sie im reichsten osteuropäischen Land (Slowenien) ungefähr auf der Höhe der ärmsten EU-Länder (Portugal, Griechenland) liegen.
  • Auf beiden Arbeitsmärkten herrscht Arbeitslosigkeit. In MOE ist sie teils noch versteckt in unproduktiver Beschäftigung in Staatsbetrieben. Vor allem in Südwesteuropa arbeitet ein Teil der statistisch Arbeitslosen tatsächlich in der Schattenwirtschaft.
  • In MOE lag und liegt die Partizipationsrate, also der Anteil der aktiven Bevölkerung, der arbeitet, über dem Niveau im Westen, da vor allem die Frauenberufstätigkeit noch stärker ausgeprägt war und ist.
  • Strukturell arbeiten in MOE mehr Menschen - wenn auch wenig produktiv - in Landwirtschaft und Industrie als in Westeuropa, das seine Arbeitskräfte stärker und zunehmend in Dienstleistungen beschäftigt.
  • Die Arbeitskräfte in MOE sind relativ gut qualifiziert und motiviert. Auch wenn ihnen eine langjährige Sozialisation in markt- und profitorientierten Unternehmen fehlt, so besteht zumindest in Mitteleuropa eine historische Kultur industrieller Produktion.

Aufgrund seiner geographischen Nähe, Qualifikation und kulturellen Verwandtschaft übt dieses Arbeitskräftepotential einen erheblich stärkeren Konkurrenzdruck auf Westeuropa aus als andere Niedriglohnstandorte, etwa in den Entwicklungsländern. Die gleichen Faktoren lassen umgekehrt die Westeuropäer hoffen, daß sie auf den MOE-Märkten größere Chancen haben als außereuropäische Anbieter. Schließlich hat die EU ein starkes Interesse an der politischen und sozialen Stabilisierung MOEs. Armutsmigration und politische Fluchtbewegungen aus einem instabilen MOE könnten die innere Sicherheit und den sozialen Frieden, autoritär-nationalistische Regime in MOE die äußere Sicherheit der EU gefährden. Ein stabiles MOE bietet der EU und vor allem Deutschland auch Schutz vor weniger stabilen Ländern auf dem gebiet der ehemaligen Sowjetunion.

Welche Auswirkungen das Zusammenwachsen Europas und insbesondere die damit verbundene neue Arbeitsteilung auf Westeuropa hat, hängt wesentlich von der Entwicklung in MOE ab, die der Westen nur am Rande beeinflussen und gegen die er sich nur begrenzt schützen kann. Aus dem Nord-Süd-Verhältnis lassen sich drei - sicher zugespitzten - Szenarien ableiten, die die Chancen und Risiken unterschiedlicher Entwicklungsperspektiven verdeutlichen:

  • MOE als asiatischer "Tiger" würde sich rasch entwickeln. Hohe Wachstumsraten gingen bald mit Exportüberschüssen einher. Sozial und politisch relativ stabil wäre es aber ein gefährlicher wirtschaftlicher Konkurrent, vor allem für Westeuropa.
  • Eine "Lateinamerikanisierung" MOEs würde eine langsamere Entwicklung bedeuten, die von strukturellen Verzerrungen geprägt wäre. Außenverschuldung, Leistungsbilanzdefizite, Inflations-Abwertungs-Spiralen, eine auf Niedriglöhnen beruhende punktuelle Wettbewerbsfähigkeit (Typ Maquiladora), ein großer Staatssektor würden das wirtschaftliche Bild kennzeichnen. Ihm entspräche in der Politik Populismus, Klientelismus und eine schwache Demokratie und in der Gesellschaft ausgeprägte Unterschiede zwischen Arm und Reich, Instabilität und Mafiawesen.
  • Eine "Afrikanisierung" MOEs hieße: Stagnation oder gar sinkende Einkommen, Verschuldung, Abhängigkeit von Hilfe, praktisch keine wettbewerbsfähige Industrie, sondern Konzentration auf Rohstoffexporte. Politisch dominierten autoritäre Regime. Bürgerkriege und zwischenstaatliche Konflikte würden eine häufige Bedrohung darstellen. Hohe Einkommensunterschiede und informelle Netze würden die Gesellschaft prägen.

Diese Szenarien werden sich zeitlich und regional differenziert und kaum in Reinform verwirklichen. Schon jetzt ist absehbar, daß nur wenige Länder - evtl. Tschechien und Slowenien - sich zu "Tigern" entwickeln können. Eine Lateinamerikanisierung deutet sich dagegen in unterschiedlicher Intensität in vielen Ländern an. Elemente afrikanischer Zustände sind wiederum nur fallweise und in bestimmten Aspekten (z.B. kriegerische Verwicklungen) am Südrand der GUS oder im ehemaligen Jugoslawien zu beobachten.

Die Auswirkungen auf die EU unterscheiden sich erheblich. Die Standortkonkurrenz nimmt über die drei Szenarien ab, aber auch die Exportchancen. Mit der Wettbewerbsfähigkeit sinkt die Attraktivität für Investoren und die Importkonkurrenz. Die neuen Märkte in MOE muß sich die EU mit anderen Anbietern teilen. Inwieweit die EU diese Exportchancen nutzen kann, hängt von ihrer Marktposition in MOE ab. Migrationsdruck und sicherheitspolitische Risiken nähmen dagegen von Szenario zu Szenario zu.

Die EU kann nur wenig dazu beitragen, daß ein bestimmtes Szenario eintritt. Trotz mancher Kosten und Anpassungslasten wäre Hongkong vor der Haustür für die EU attraktiver als die beiden anderen Alternativen. Aber ohne entscheidenden Einfluß muß sie versuchen, sich strategisch auf die wahrscheinliche - und nicht die gewünschte - Entwicklung in MOE einzustellen. Dabei sollte die Strategie der EU darin bestehen , das gewünschte Szenario wahrscheinlicher zu machen. Es bleibt das Risiko, daß sich die EU auf ein von ihr erwartetes Szenario einstellt, aber von einer anderen Entwicklung überrascht wird.

2. die bewußtlose Peripherisierung: Transformationsprozeß und außenwirtschaftliche Öffnung

Die bisherige Entwicklung in MOE läßt keine klaren Prognosen zu. Die Unterschiede zwischen den Ländern nehmen im Zuge der Reformen eher zu. Gemeinsamer Ausgangspunkt war die Überzeugung der Reformeliten in MOE, daß mit der Einführung der Marktwirtschaft die Planwirtschaften einen automatischen Aufholprozeß vollziehen würden. Ihrem Credo von Demokratie, Marktwirtschaft und Öffnung nach Europa entsprach es, den Handel zu liberalisieren sowie eine enge wirtschaftliche und politische Integration mit der EU zu suchen. Sie gingen davon aus, daß auch der Westen zu einer entsprechenden Öffnung bereit sei. Bezeichnenderweise unterstreichen gerade die entschiedensten Reformer wie der polnische Finanzminister Balcerowicz oder der tschechische Premier Vaclav Klaus, daß sie vom Westen weniger Hilfe im traditionellen Sinn (Kredite, Beratung) als Marktzugang erwarteten.

Gegen diesen liberalen Grundkonsens opponieren in MOE nach dem Umbruch die Nationalisten und - etwas maßvoller und differenzierter - die Postkommunisten. Sie mißtrauen dem Markt als Instrument und/oder dem Westen als Partner. Von der Öffnung für ausländische Investoren befürchten die einen den Ausverkauf der nationalen Industrie, die anderen die Ausbeutung der Beschäftigten. Sie treten für einen Schutz der MOE-Märkte gegen Importe ein und radikale Oppositionsgruppen stimmen gegen die EU-Assoziierung.

Die Außenwirtschaftspolitik in MOE folgte zunächst dem liberalen Konzept, am stärksten in Mitteleuropa, weniger ausgeprägt auf dem Balkan oder in der ehemaligen Sowjetunion. Die Reformer beendeten die alten Außenhandelsmonopole, lösten den Rat für gegenseitige Wirtschafshilfe (RGW) auf und senkten die Zölle sowie andere Hürden gegen Importe. Sie traten den internationalen Organisationen wie GATT usw. bei und schlossen Handels- und Kooperationsabkommen bzw. Assoziierungsverträge mit der EU und anderen OECD-Staaten. Sie machten die Währungen für Inländer und Leistungsbilanztransaktionen konvertibel. Die meisten Ländern werteten die nationale Währung stark ab und orientierten die Wechselkurspolitik an den Hartwährungen, um die Kursrisiken für den Westhandel zu beschränken.

Die Folgen für den Außenhandel waren dramatisch. Der regionale Handel brach weitgehend zusammen, während der Handel mit dem Westen stark zunahm. Der Anteil der EU am MOE-Außenhandel verdoppelte sich zwischen 1989 und 1992. Bis 1991/92 waren die Leistungsbilanzen im Gleichgewicht oder wiesen gar einen Überschuß für MOE aus. Seit 1992 überwiegen die Importe. Vor allem die EU-Handelsüberschüsse (1991: 1,4 Mrd. ECU; 1992: 2,5 Mrd. ECU, 1993 1. Halbjahr: 3,1 Mrd. ECU) nahmen zu, da

  • die Rezession in der EU deren Importnachfrage allgemein verringerte;
  • die Kapitalexporte des Westens (Hilfe, Exportkredite, Investitionen) zunahmen;
  • die MOE-Währungen sich inzwischen dank nominal konstanter Wechselkurse und im Vergleich zum Westen hoher Inflation deutlich aufwerteten;
  • die aus der Absatznot auf den bisherigen Märkten geborenen Exporte mit dem Ende der Rezession in MOE nachließen.

Die wachsenden Zahlungsbilanzdefizite gefährden die Kreditwürdigkeit der höher verschuldeten MOE-Staaten. Diese Länder benötigen schon Exportüberschüsse, um ihre Altschulden zu bedienen. Andererseits wies Rußland 1993 einen hohen Ausfuhrüberschuß von ca. 20 Mrd. US$ auf, der einer entsprechenden Kapitalflucht entsprach. Einige Länder haben inzwischen die Zölle wieder erhöht, um einem weiteren Anstieg der Importe vorzubeugen.

Die Zusammensetzung der Ausfuhren nach Westen änderte sich dabei wenig. MOE exportierte hauptsächlich landwirtschaftliche Produkte, Rohstoffe und Fertigwaren niedriger Technologie. Die vorher in den RGW-Raum exportierten Investitionsgüter und höherwertigen Konsumgüter wurden also kaum umgelenkt. Ihre Ausfuhr und Produktion sank, während die Produktion für Westexporte anstieg bzw. aus dem Angebot für den Binnenmarkt genommen wurde.

Die meisten Exporte kamen und kommen weiterhin aus Staatsunternehmen. Der neue Privatsektor beschränkt sich hauptsächlich noch auf kleinere Unternehmen im Dienstleistungsektor (Handel, Gastronomie), die bestenfalls in Form von Tourismusdienstleistungen "exportieren". Selbst dort, wo die "große Privatisierung" schon anläuft, beschränkt sie sich auf eine Änderung der Eigentumsverhältnisse. Kein neuer Input an Kapital, Technologie, Management oder Weiterqualifizierung der Beschäftigten hat die Produktpalette, Kostenstruktur oder die Export- und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen verbessert. Das Finanzsystem bevorzugt selbst bei marktrationalem Verhalten (also ohne klientelistische Verstrickungen) die bei ihm verschuldeten, unproduktiven Betriebe, da es diese zur eigenen Rettung durch neue Kredite vor Konkurs bewahren muß.

Veränderungen ergeben sich eher aus Direktinvestitionen. Seit dem Umbruch haben Westinvestoren Zehntausende von Projekten, oft Joint ventures, angekündigt. Die tatsächlich Kapitalströme sind jedoch bescheidener. Neue Produktionen wurden kaum begonnen. Die wichtigsten Investoren übernahmen bestehende Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung im Binnenmarkt. In einigen Fällen (z.B. westliche Automobilhersteller) erwarteten die Investoren von den MOE-Regierungen den Schutz dieser Marktposition durch Zölle gegen Importe.

Die internationale Wettbewerbsfähigkeit von MOE ist nach wie vor schwach. Der Exportboom nach Westen verdankte sich äußeren Faktoren wie dem Abbau westlicher Handelsschranken, der Abwertung der MOE-Währungen und dem Zusammenbruch der anderen Absatzmärkte. Das Marketing, die Qualität, das technologische Niveau und die begleitenden Dienstleistungen der MOE-Produkte sind oft mangelhaft. Niedrige Preise können diese Nachteile nur bei Erzeugnissen ausgleichen, bei denen sie eine geringe Rolle spielen (z.B. Rohstoffe, einfache Fertigwaren).

Der Lohnkostenvorteil wird meist überschätzt. Weder sind die typischen MOE-Exporte in den Westen besonders arbeitsintensiv, noch machen Lohnkosten in MOE insgesamt einen entscheidenden Teil der Gesamtkosten aus. Viele MOE-Produktionen weisen eine niedrige oder gar negative Wertschöpfung auf. Mit der Weltmarkintegration paßt sich auch das Preisgefüge in MOE an. Die Lebenshaltungskosten (Mieten, Transport, Steuern, Sozialabgaben) steigen. Folgen die Löhne nach, so muß der Lohnkostenabstand schwinden, wenn die Inflation nicht durch Abwertungen kompensiert wird. Die mitteleuropäischen Länder wiesen aber seit 1991 eine reale Aufwertung auf.

Die niedrigen Löhne trugen bis jetzt dazu bei, daß die MOE-Industrie kaum gezwungen war, ihre Produktivität zu steigen. Dieser Kontext niedriger Produktivität und Löhne bietet hochproduktiven Exporteuren - seien es ausländische Investoren oder einheimische Modernisierer - ideale Kostenvorteile im internationalen Wettbewerb. Die Industrie baute in einigen Ländern schon zahlreiche Arbeitsplätze ab - teils als Reaktion auf Marktverluste durch Importkonkurrenz. Aber die Masse der Entlassungen, die den Personalbestand der Unternehmen in die Nähe vergleichbarer westlicher Firmen brächten, steht noch weitgehend bevor.

Viele Entlassene, vor allem Frauen, melden sich aber nicht arbeitslos, sondern scheiden aus dem Arbeitsmarkt als Hausfrauen, Rentner etc. aus. Dieser Prozeß senkt die im internationalen Vergleich hohen Partizipationsquoten in MOE auf westliches Niveau, aber um den Preis einer Verarmung der Familien, in denen jetzt alle nur noch von einem einzigen, oft auch real gesunkenen Einkommen leben müssen.

Verarmung und dauerhafte Einkommensunterschiede könnten mittelfristig die Auswanderungstendenzen aus MOE stärken. Bis jetzt emigrierten im wesentlichen nur bestimmte Gruppen wie die deutschstämmigen GUS-Einwohner oder Kriegsflüchtlinge aus Kroatien und Bosnien. Dazu kommen in geringerem Umfang in Grenzstaaten wie Österreich, Deutschland oder Italien Wanderarbeiter aus den Nachbarländern, die aber in Branchen wie der Bauindustrie oder im Dienstleistungssektor spürbaren Druck auf den Arbeitsmarkt ausüben, sowie die Abwanderung hochqualifizierter Kräfte ("brain drain"). Immerhin machen Immigranten aus MOE schon 11% der ausländischen Arbeitnehmer in Deutschland und ca. 17% in Österreich aus.

MOE hat die Entwicklung einer neuen Arbeitsteilung in Europa bisher kaum bewußt beeinflußt. Dazu fehlten den wichtigen Akteuren die Philosophie und die Instrumente. Der Marktfundamentalismus der Regierungen der ersten Stunde enthielt sich weitgehend jedes positiven Eingriffs. Die Stabilisierungs-, die Liberalisierungs- und die Privatisierungspolitik hatten struktur- und industriepolitische Wirkungen, aber diese ergaben sich als sektorale Effekte globaler Politiken, ohne in ihrer Sektorwirkung durchdacht oder beabsichtigt zu sein.

Im Ergebnis erzielte diese Strategie der "bewußtlosen Strukturpolitik" die Entwertung des Humankapitals, den Zusammenbruch der Produktionen mit höherer Technologie und eine Exportspezialisierung in Bereichen niedriger Wertschöpfung. In den ersten Jahren nach dem Umbruch hat die neue Arbeitsteilung in Europa MOE Arbeitsplätze genommen. Insgesamt läuft dies von der Produktionsstruktur auf eine "Peripherisierung" von MOE hinaus.

3. Europas Offene Arme greifen zu

Der Peripherisierung MOEs entspricht auf der Seite der Industrieländer ein Interessen- und Handlungsprofil, das einer Metropole angemessen ist. Europas erstes Interesse an MOE ist außen- und sicherheitspolitisch. Die Unterstützung der Reformen dient zuerst dazu, Stabilität und Demokratie in der Nachbarregion zu sichern und zu verhindern, daß antiwestliche Kräfte dort an die Macht kommen. Die wirtschaftliche Öffnung und Zusammenarbeit war ein Mittel zu diesem Zweck. Auf das außenpolitische Oberziel müssen sich daher all jene beziehen, die für MOE mehr - auch auf Kosten Westeuropas - erreichen wollen.

In dieser Zielkonstellation ähnelt das westliche Interesse dem an den Entwicklungsländern. Nicht zufällig nahmen sich auch weitgehend die gleichen Institutionen (Ausnahme: die neue EBRD) mit ähnlichen Instrumenten der neuen Aufgabe an, MOE zu "entwickeln". Das vorläufige Ergebnis einer tendenziellen "Peripherisierung" erinnert viele Beobachter an die unrühmliche Rolle der Entwicklungspolitik. Gerade die schon im Entwicklungsländerzusammenhang umstrittenen Stabilisierungskonzepte von Weltbank und IWF haben in MOE den in einigen Ländern sicher nötigen Inflationsabbau mit einem unnötig hohen Preis an Rezession und Deindustrialisierung erkauft.

Auch die EU wählte bekannte Instrumente. Sie schloß mit den MOE-Staaten zunächst Handels- und Kooperationsabkommen, die dann bald für die Visegradländer durch die Assoziation im Rahmen der Europaabkommen abgelöst wurden. Nach Bulgarien und Rumänien dürfte demnächst auch Slowenien assoziiert werden. Kernstück der Assoziation ist der Aufbau einer Freihandelszone, die bei aller Asymmetrie zum Vorteil der wettbewerbsfähigeren Union ist. Politischer Dialog und Hilfsprogramme flankieren die handelspolitischen Beziehungen.

Wirtschaftliche Interessen Westeuropas bestimmten Ausmaß und Form der öffentlichen wirtschaftlichen Hilfe. Die allgemeine Marktöffnung wich konkreten Regelungen, die für zahlreiche Produkte Beschränkungen vorsahen und einen Detailprotektionismus zuließen, der potentielle Exporteure in MOE schon im Vorfeld entmutigen muß. Die Hilfe diente über weite Strecken den Exportinteressen und der Flankierung westlicher Investitionen. Selbst die Beratungshilfe diente u.a. dazu, die Übernahme westlicher Modelle in der Gesetzgebung zu fördern und damit westlichen Akteuren ein vertrautes Rechtsumfeld in MOE zu schaffen. Schließlich profitierten die Zulieferer der Hilfe wie Beratungsfirmen, Lieferanten bei Materialhilfe, Auftragnehmer bei Hilfeprojekten etc. in Westeuropa.

Die private Wirtschaft selbst füllte die neuen Spielräume aus, die die Politik in Ost und West geschaffen hatte. Sie folgte dabei ihrer eigenen Logik. Konsumenten (auch als Touristen), Importeure und Verbraucher von Rohstoffen nutzten die neuen billigen Bezugsquellen. Exporteure ergriffen die Chance, die Ostmärkte mit den lange entbehrten Westwaren zu bedienen. Unternehmer (vor allem im Bausektor) und Haushalte in Deutschland und Österreich heuerten billige Arbeitskräfte an, die aus MOE einwanderten bzw. als Pendler kamen.

Westinvestoren schlossen zahlreiche Kooperationsabkommen, hielten sich aber mit wirklichen Investitionen zurück. Sie wollten stärker die Märkte in MOE sichern als MOE als kostengünstigen Standort für Weltmarktproduktion nutzen. Nur im grenznahen Raum lagerten Firmen lohnintensive Produktionsschritte nach Tschechien oder Polen aus. Insgesamt gingen nur marginale Anteile (unter 0,5%) der westlichen Direktinvestitionen nach MOE. Deutschland lag mit ca. 5% hinter Österreich mit ca. 15% an der Spitze. Der geringe Wert mag aber das Ausmaß der damit verbundenen Arbeitsplatzverlagerung verschleiern, da MOE-Firmen relativ billig zu haben sind und daher - vor allem in arbeitsintensiven Branchen - die Investitionssumme pro Arbeitsplatz gering ausfällt. Andere EU-Staaten (Portugal, Spanien, Großbritannien, Irland) treten weniger als Investoren in MOE auf, sondern konkurrieren mit MOE um Investitionen aus Drittländern (Japan, USA) und befürchten jetzt deren Umlenkung nach MOE.

Unterm Strich wirkten sich bisher die Lohnkostenunterschiede noch wenig auf die Unternehmensentscheidungen aus. Weder kam es zu massiven Produktionsverlagerungen noch zu einer starken Verdrängung einheimischer Anbieter durch Billigimporte oder zu einem massiven Zustrom von Arbeitskräften. Letzteres verhindern auch gesetzliche Regelungen weitgehend, sodaß die Konkurrenz nur auf dem schwarzen Arbeitsmarkt spürbar wird. Bei Importen bremsen zum einen die immer noch hohen Transaktionskosten größere Verschiebungen. Sie dürften aber mit zunehmenden Lernprozessen seitens der Ostanbieter und durch stärkeres Engagement westlicher Importhandelsgesellschaften abnehmen.

Firmenumfragen zu Investitionsmotiven zeigen, daß das Lohnkostenargument bei langfristig angelegten Projekten eine geringe Rolle hinter Faktoren wie der politischen und finanziellen Stabilität, lokaler Markt und Qualität der Arbeitnehmer spielt. Lediglich im grenznahen Raum (Bayern, Österreich) hat die Teilauslagerung von Produktion schon spürbare Wirkungen auf den lokalen Arbeitsmarkt beiderseits der Grenze.

Wachstum und Beschäftigung in der EU hängen vom Handelsaustausch mit MOE ab. Bisher war das Volumen insgesamt und erst recht der Exportüberschuß zu klein, um nennenswerte Wirkungen zu entfalten. Grundsätzlich profitiert die EU davon, wenn die Wirtschaften MOEs wachsen. Aber dieses Wachstum muß zumindest teilweise autonom sein und nicht nur von West nach Ost verlagerte Produktion darstellen. Die Verlagerung von Teilproduktionen geht zwar auch mit einer Ausdehnung des Handels einher (Lieferung von Vorprodukten nach Osten, Import der weiterverarbeiteten Erzeugnisse). Dieses Handelswachstum verbindet sich aber mit Beschäftigungseinbußen im Westen. Selbst ein Exportüberschuß mag im Verlagerungskontext vom Export von Investitionsgütern nach MOE herrühren, die bei Nutzung in der Produktion dann Westproduktion ersetzen.

Betrachtet man die Handelsbilanz für einzelne Produktgruppen, so stehen EU-Überschüssen bei Investitionsgütern Defizite bei einfachen Industrieprodukten gegenüber. In den entsprechenden Branchen haben diese Importe EU-Grenzanbieter auch schon in Schwierigkeiten gebracht. In dem Maße, wie sich solche Anbieter in bestimmten Regionen oder Ländern konzentrieren, kann es auch zu Konflikten innerhalb der EU kommen. Die Bayern werden ungern ihre Porzellan-, die Portugiesen kaum ihre Textilindustrie opfern, um den Absatz der Investitionsgüterunternehmen in Baden-Württemberg oder Norditalien zu fördern.

Die hohe Sockelarbeitslosigkeit in der EU, die in der Rezession seit 1992 weiter anstieg, verlieh den noch geringen Beschäftigungseffekten der Ostintegration eine überproportionale Bedeutung. Was in Zeiten der Vollbeschäftigung als willkommene Entlastung gegolten hätte, erschien nun als Bedrohung. Mögliche stärkere Wirkungen in der Zukunft unterstreichen diese Sichtweise noch.

Die Arbeitgeber weisen gern auf die niedrigen Löhne im Osten hin, um die Gewerkschaftsforderungen im Verteilungskampf zurückzuschrauben. Die Standortdebatte in Deutschland vergleicht gerne das deutsche Lohnniveau mit MOE, um Druck auf Löhne und Sozialleistungen auszuüben. Unternehmer, die arbeitsintensive Produktionsschritte nach MOE auslagern und dabei Arbeitsplätze in Deutschland abbauen, erklären daraufhin, daß diese Arbeitsplätze auf jeden Fall verloren gegangen wären. Nur durch die Verbilligung der Gesamtproduktion konnten sie das Überleben des Unternehmens im (internationalen) Wettbewerb sichern und die restlichen Arbeitsplätze retten.

Diesen internationalen Wettbewerb bestimmen gewichtigere Spieler als MOE. Die EU muß sich in erster Linie mit Konkurrenten aus den USA, Japan und Südostasien messen. Diese setzen die Weltmarktstandards an Kosten und Qualität, die es zu erreichen gilt. Die Öffnung nach Osten gibt EU-Produzenten weniger neue Konkurrenten als eine Chance, einen Produktionsverbund mit einer Niedriglohnregion vor der Haustür einzugehen, wie sie die Weltmarktkonkurrenten in ihrem Bereich schon länger haben. In einem solchen Produktionsverbund könnte die europäische Industrie geographisch ihre Wertschöpfungskette so restrukturieren, daß sie international wettbewerbsfähig wird oder bleibt.

Einerseits sind die EU-Investoren an niedrigen Kosten und Löhnen in MOE interessiert, andererseits aber an wachsenden Märkten in MOE, die ihrerseits von steigenden Einkommen abhängen. Dieses Dilemma stellt sich aber nur kurzfristig. Langfristig könnte die Wirtschaft der EU am meisten von einem prosperierenden MOE profitieren. Eine neue Wachstumsregion im eigenen Hinterhof würde die EU etwas dafür entschädigen, daß sie den Einstieg in Asien, der wichtigsten Wachstumsregion, verschlafen hat.

Asien seinerseits verschläft eventuell den Einstieg in ein prosperierendes MOE nicht. Trotz geographischer und kultureller Nähe gibt es keine Garantie dafür, daß Europa hauptsächlich oder gar allein vom Nachfragewachstum in MOE profitiert. Sind die anderen Anbieter wettbewerbsfähiger, so zieht die EU den kürzeren. Zwar mag MOE seine Devisen mit Exporten nach Westeuropa verdienen; es gibt sie aber gegebenenfalls für Importe aus anderen Ländern aus.


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