FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO


Teildokument zu: "Zwischen Lomé und Maastricht"

4. Nationalstaaten bremsen die Europäisierung der Südpolitik

Der Vertrag von Maastricht definiert in Art. 130 u die Entwicklungspolitik der Gemeinschaft als eine Ergänzung der Politik der Mitgliedsstaaten. Art. 130 x bestimmt darüber hinaus, daß Gemeinschaft und Mitgliedsstaaten ihre Politik koordinieren, daß die Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft bei der Durchführung der Hilfs-programme helfen und daß die Kommission zur Koordinierung initativ werden kann.

Diese Regelungen eröffnen einen Interpretationsspielraum, der inzwischen von allen Beteiligten, vor allem von den nationalen Ministerien und der Kommission, eifrig gefüllt wird. Schon bisher sorgte die Gemeinschaftskompetenz in der Handelspolitik dafür, daß die Marktöffnung gegenüber den Entwicklungsländern (Allgemeines Präferenzsystem, Handelsabkommen, Regelungen innerhalb des Loméverhältnisses und in den Mittelmeerabkommen) Aufgabe der Gemeinschaft war. Die Gemeinsame Agrarpolitik führte in ähnlicher Weise zu einer starken EU-Rolle in der Nahrungsmittelhilfe. Mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) dehnt sich dieser abstimmungsbedürftige Bereich weiter aus. Besonders in internationalen Organisationen und multilateralen Verhandlungen würde ein gemeinsames Auftreten die Einflußmöglichkeiten der Union erhöhen.

In der Handels- und Agrarpolitik haben sich die Mitgliedsstaaten weitgehend mit der EU-Kompetenz abgefunden. Sie wehren sich zwar in Einzelfragen, wie etwa die Deutschen in der Bananenfrage, aber die grundsätzlichen Kompetenzen sind unbestritten. Anders sieht es in der Kooperationspolitik im engeren Sinne aus. Bisher betreibt die Gemeinschaft praktisch eine dreizehnte Entwicklungspolitik neben den Politiken der Mitglieder. Dies erscheint vielen Beteiligten nunmehr als überholt und reformbedürftig, wobei einige Mitgliedsstaaten (z.B. Großbritannien und Frankreich) weniger, andere mehr wollen.

Vor allem die Kommission sieht die Zukunft in einer "gemeinschaftlichen Entwicklungspolitik". Dieses Konzept umfaßt gemeinsame Zieldefinition, Koordination der bilateralen Hilfe und die Kohärenz verschiedener entwicklungsrelevanter Politikfelder.

In einem ersten Schritt könnte die EU dazu Verfahren etwa des Projektzyklus (Identifizierung, Monitoring, Evaluierung, etc.) harmonisieren. Dazu drängt auch schon die Öffnung des internen Marktes für Durchführungsinstitutionen aller Mitgliedsländer im Zuge der Herstellung des gemeinsamen Binnenmarktes. Dabei will die EU nicht auf eigene operative Tätigkeit verzichten.

Die Mitgliedsstaaten möchten weniger Kompetenzen und Budgetmittel abgeben und problematisieren die potentielle Arbeitsteilung zwischen europäischer und nationaler Entwicklungspolitik. Sie wollen einerseits auf keinen Fall nur noch die Durchführungsorgane einer gemeinschaftlichen Politik sein. Andererseits billigen sie der EU am ehesten noch eine Vordenkerrolle zu, während sie die Ausführung behalten oder gar monopolisieren wollen. Mit der Vordenkerrolle wäre die Kommission aber bei der derzeitigen personellen Ausstattung überfordert.

Angesichts der Interpretationskonflikte zwischen Union und Mitgliedsstaaten dürfte die im VEU festgelegte Koordinierung zunächst in kleinen Schritten anlaufen:

  • Zuerst müßten alle Beteiligten verstärkt Informationen über ihre jeweilige Entwicklungspolitik austauschen. In vielen Fällen geschähe das zunächst in den Empfängerländern. Sie setzt dort eine schon seit Jahren oft gepflegte (und umstrittene) Tradition der Geberkoordination fort.
  • Ser innergemeinschaftliche Dialog über entwicklungspolitische Ziele, regionale und sektorale Prioritäten wäre zu intensivieren.

Politisch kurzfristig unwahrscheinlich, aber langfristig vorstellbar wäre eine Arbeitsteilung, die aufgrund einer gemeinsamen Zieldefinition der Union eine Kompetenz für Rahmenrichtlinien zukäme, deren Umsetzung zum Teil bei der Union, schwerpunktmäßig aber bei den Organisationen der Mitgliedsstaaten läge. Die Union wäre in einigen Bereichen (z.B. AKP, Nahrungsmittel- und Katastrophenhilfe, regionale Integration) für die Durchführung verantwortlich. Die nationalen bilateralen Politiken würden sich - den gemeinsam definierten Zielen folgend - nach den Rahmenrichtlinien untereinander vor Ort koordinieren.

Kohärenz und Komplementarität, die beiden anderen Stichworte des VEU, könnten mehr zur tatsächlichen Koordinierung beitragen als die Bestimmungen des Art. 130 x. Die Verflechtungen mit anderen Politikbereichen (Außen-, Handels-, Agrarpolitik etc.) und die aktive Rolle der Union in bestimmten südpolitischen Feldern wie Politikdialog, Strukturanpassung, Regionaldialoge, Katastrophen- und Nahrungsmittelhilfe erfordern, die Politiken der unterschiedlichen Gemeinschaftsebenen besser abzustimmen und zu verzahnen. Dieser Anspruch des Art. 130 v stößt sich aber an so vielen massiven Interessen der Mitgliedsstaaten (z.B. in der Agrarpolitik), daß seine Umsetzung illusorisch erscheint.

Das Kriterium der Subsidiarität dient in diesem Konflikt mehr als Kampfbegriff denn als Mittel einer rationalen Aufgabenverteilung. Für die Union finden sich viele sachliche Gründe, warum wirksame Kooperation nur harmonisiert und koordiniert erfolgen kann. Die Mitgliedsstaaten hingegen verteidigen mit Hinweis auf die Subsidiarität jedes Element nationaler Entwicklungszusammenarbeit gegen die Übernahme durch die Union. Konkrete Kriterien einer sinnvollen Arbeitsteilung zwischen Union und Mitglieder sprächen für eine Unionskompetenz

  • bei grenzüberschreitenden Maßnahmen;
  • bei Projekten, deren Finanzvolumen eine kritische Masse überschreitet;
  • für Aktivitäten, die politisch besonders sensibel sind;
  • in horizontalen Themenbereichen wie Umwelt, regionale Integration.

Das Subsidiaritätsprinzip verteilt nicht nur Verantwortungen, sondern auch Ressourcen. Die Ebene, die eine bestimmte Aufgabe am besten erfüllen kann, sollte auch entsprechend ausgestattet werden. Hier sind aber schon die nächsten Widerstände der Mitgliedsstaaten absehbar. Eine Ausdehnung der Brüsseler Bürokratie und ihres Haushalts gilt zumindest in der gegenwärtigen Phase der Euroskepsis und der knappen Kassen nicht als opportun. So blieb der Europäische Entwicklungsfonds außerhalb des EU-Haushalts unter direkter Kontrolle der Mitglieder und erzielte dadurch in der Vergangenheit oft überproportionale Zuwächse.

Daher erscheint eine Strategie der "Angleichung der Entwicklungskooperationspolitiken" (2000-Papier der EG-Kommission) gegenwärtig nicht als aussichtsreich. Nichtregierungsorganisationen befürchten von einer solchen verstärkten Abstimmung ohnehin eine Politik der kleinsten gemeinsamen Anstrengung, die nicht die Stärken kombiniert, sondern den schwächsten Ansatz zur Regel erhebt. Sie erwarten Rücksicht auf die Partner im Süden und nicht auf die Interessen anderer Geber.

5. Wege zwischen unrealistischer Solidarität und unsolidarischer Realpolitik

Es sind vor allem die Entwicklungspolitiker, die die EU-Südpolitik formulieren. Ihre ehrenwerten Absichten verbinden sich mit den Eigeninteressen der entwicklungspolitischen Institutionen, die diese Ziele teilen und daraus ihr Einkommen beziehen. Anschließend kollidieren sie häufig mit den Interessen der Außen- und Wirtschaftspolitik. Was nach dem Zusammenstoß übrig bleibt, ist eine Mischung aus entwicklungspolitischer Rhetorik und realpolitischer Praxis: die bekannte Entwicklungspolitik.

Die Entwicklungspolitiker und Experten haben seit langem hohe Ideale und drängende Probleme ins Feld geführt, um die Realpolitiker unter Druck zu setzen und so wenigstens etwas mehr von ihren Vorstellungen durchzusetzen. Schon 1980 ging es der Brandt-Kommission um nichts Geringeres als das Überleben ("Das Überleben sichern"). In letzter Zeit geht es mehr um Umwelt- und Migrationsrisiken. Kernpunkt der entwicklungspolitischen Argumentation bleibt, daß der Norden ein starkes (z.B. friedens-, umwelt- oder wirtschaftspolitisches) Interesse an der Entwicklung des Südens haben müsse, und sei es aus dem moralischen Imperativ der Solidarität heraus.

Auf diesem Weg geraten die Entwicklungspolitiker in zwei Sackgassen:

- Die erste Sackgasse ist entwicklungsstrategisch: Niemand kennt das Geheimnis erfolgreicher Entwicklung. Obendrein ist nicht auszuschließen, daß der Entwicklungserfolg nicht andere Ziele negativ tangiert wie z.B. Umwelt- und Ressourcenschonung.

- Die zweite Sackgasse ist kooperationstaktisch: Der Versuch, Entwicklung (oder Demokratie oder Umweltschonung) von außen zu fördern, scheitert - von Ausnahmefällen abgesehen - an der strategischen Unkenntnis und im Dickicht gegenläufiger Interessen.

Das Geheimnis erfolgreicher Entwicklung bleibt ein Geheimnis

Die Liste der "Zutaten" erfolgreicher Entwicklung ist lang. Die Mode ändert die Reihenfolge ihrer Wichtigkeit. Sie reicht von funktionierenden Märkten für Güter, Kapital und Arbeit, über Ersparnisbildung, eine effiziente Verwaltung, kohärente Wirtschaftspolitik (niedrige Inflation, geringes Staatsdefizit), politische Stabilität, entwicklungsfreundliche Kultur und Gesellschaft, eine gute Infrastruktur, Bildung und Erziehung, ein funktionierendes Gesundheitssystem, einer niedrigen Geburtenrate bis hin zu außenwirtschaftlichen Faktoren wie einem angemessenen Wechselkurs, Freihandel, ausländischen Direktinvestitionen und einer stabilen und wachsenden Weltwirtschaft. Die Liste läßt sich fast beliebig verlängern.

Für den Erfolg sollten möglichst gleichzeitig alle Bedingungen erfüllt sein. Andererseits gibt es fast immer Beispiele dafür, daß ein Land auch ohne die eine oder andere "Zutat" sich entwickelte, mithin diese unter Umständen verzichtbar ist. So stützten sich die ostasiatischen Länder Japan, Korea und Taiwan kaum auf die heute so gepriesenen Direktinvestitionen, das ebenfalls erfolgreiche Singapur dagegen stark. Sie verfolgten auch keine Wirtschaftspolitik nach dem Muster neoliberaler Dogmen, die im Rückzug des Staates den Schlüssel zum Entwicklungserfolg sehen. Korea verschuldete sich hoch am internationalen Kapitalmarkt, um sein Wachstum zu finanzieren, Japan und Taiwan dagegen nicht. Jede Strategie hat ihre Erfolgsgeschichten und ihre Gegenbeispiele. Liegt es nicht am Land, daß eine Strategie funktioniert oder nicht, so liegt es an den veränderten weltwirtschaftlichen Bedingungen; und die ändern sich immer.

Der Erfolg ist selbst im Erfolgsfall schwer zu packen. Wächst die Wirtschaft, so fallen Verteilungsprobleme auf. In den 70er Jahren schwenkte die Entwicklungspolitik deshalb von der damals gelungenen Wachstumsförderung zur Armutsbekämpfung. Gelingt beides, ist die Umwelt ruiniert. Oder die Kultur mit ihren sinnstiftenden Werten und der gesellschaftliche Zusammenhalt werden zerstört.

Was für die Strategien gilt, gilt erst recht für Politiken, Projekte und Institutionen. Ihre Leistungsfähigkeit hängt von einer Vielzahl schwer durchschaubarer Faktoren ihrer politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umwelt ab. Die eine Wirtschaft floriert mit flexiblen Wechselkursen, die andere mit festen. Land A wächst, weil die starken Gewerkschaften hohe Löhne in überbetrieblichen Tarifverträgen durchsetzen, die den Produktivitätsfortschritt antreiben; Land B gedeiht, da schwache Gewerkschaften betriebsnah Löhne aushandeln, die auch schwachen Unternehmen das Überleben ermöglichen. Was im soziokulturellen Zusammenhang des einen Landes funktioniert, führt im anderen zum Disaster. Da aber jede Strategie sich letztlich aus einem komplexen Paket solcher Politiken, Institutionen etc. zusammensetzt, ist die Auswahl immer ein Risiko, das besser dem Land selbst überlassen bleibt, das letztlich auch die Folgen tragen muß.

Die Entwicklungspolitik im Dickicht der Interessen

Die Unkenntnis über die richtige Entwicklungsstrategie, das Bewußtsein dieser Unkenntnis und entwicklungspolitisches Engagement sind unterschiedlich zwischen Gebern und Empfängern verteilt. Auf der Empfängerseite gibt es die Leute, die jede Politik befürworten, die den "Hilfetropf" weiterlaufen läßt - am liebsten in die eigenen Taschen. Und es gibt die aufrechten Politiker, die ernsthaft glauben, sie hätten die richtige Strategie, und die sich untereinander streiten, wer recht hat. Auf der Geberseite findet sich für jeden der geeignete Partner. Die "Mittelabflußverwalter" wollen ihre Hilfe um jeden Preis los werden, schon um die eigene Institution im Geschäft zu halten. Die aufrechten Entwicklungspolitiker streiten sich um die richtige Politik.

Angesichts der Schwierigkeit, die "richtige" Entwicklungsstrategie zu finden, kann es nicht überraschen, daß die Ergebnisse der gewählten Politik nicht den Erwartungen entsprechen. Die Vertreter von Entwicklungsplanung, Importsubstitution und Abkoppelungsstrategien sind ebenso ernüchtert wie die Strukturanpasser der internationalen Finanzinstitutionen. Deren eigene Bewertungen zeigen inzwischen, daß die Programme nur in einem Teil der Länder wirken und andere Länder auch ohne solche Programme ihre Probleme lösen.

Die Entwicklungspolitiker haben auf diese Enttäuschung teilweise damit reagiert, daß sie ihre Anstrengungen verstärken. So beziehen sie weitere Politikfelder in die Entwicklungspolitik ein. Mit Recht stellen sie fest, daß die Industrieländer mit der Hand der Handels-, Agrar-, Umwelt-, Finanz- und Währungspolitik nehmen, was sie mit der Hand der Entwicklungspolitik geben. Der VEU fordert daher, die Entwicklungsziele bei den anderen Gemeinschaftspolitiken zu berücksichtigen. Engagierte Entwicklungspolitiker bezeichnen die Entwicklungspolitik als "Querschnittsaufgabe". Der wissenschaftliche Beirat des BMZ denkt an ein "Entwicklungska-binett", das die verschiedenen Politikfelder koordinieren soll.

Im Zeitalter zunehmender Politikverflechtung sind allerdings viele Aufgaben Querschnittsaufgaben. Beschäftigung, Umwelt, Wettbewerbsfähigkeit, innere Sicherheit, Gleichberechtigung, Familienförderung - überall wird man schnell zu dem Ergebnis kommen, daß sie ernsthaft nur zu erreichen sind, wenn alle Politiken dieses Ziel berücksichtigen. Diese Querschnittsziele konkurrieren untereinander und mit den eigentlichen Zielen all der "senkrechten" Politiken, zu denen sie quer liegen.

Einige dieser Ziele wiederum gelten als Oberziele der Entwicklungspolitik. So dient das Ziel des globalen Umweltschutzes als Legitimation der Südpolitik. Es ist daher unrealistisch anzunehmen, aus Solidarität mit dem Süden würde der Norden Politiken verfolgen, die er trotz anderer wichtiger Gründe nicht verfolgt. Wer dem eigenen Wald und der eigenen Leistungsbilanz zuliebe nicht auf die freie Fahrt verzichten will, wird es kaum aus Liebe zu den Armen tun.

Realpolitische Nischen für Solidarität:
Pluralismus und Partnerschaft

Die Solidarität kann die Makropolitiken nur am Rande beeinflussen. Das schließt Teilerfolge - z.B. dank eines massiven Mediensperrfeuers - nicht aus. Aber dauerhafte und flächendeckende Veränderungen kann man kaum vom nur auf Solidarität gegründeten Handeln erwarten. Die Entwicklungspolitiker haben dies auch längst akzeptiert, wie die zahlreich vorgetragenen Ersatzbegründungen für Entwicklungshilfe zeigen, die sie wegen der Umwelt, der Wirtschaft oder zur Migrationsabwehr befürworten.

Der erste Schritt zu mehr Realismus wäre die Befreiung der Südpolitik von diesem Ballast:

- Globale Umweltpolitik ist ein eigenes wichtiges Politikfeld, zu dem die Umweltsünder des Nordens den ersten Beitrag auf dem eigenen Fahrrad und nicht im Amazonas leisten sollten. Solange der Norden seine Wachstumsphilosophie und Konsummuster nicht grundlegend ändert, dürften Appelle an den Süden wenig bewirken.

- Migration an ihren Ursachen und Wurzeln zu bekämpfen ist fast aussichtslos. Die Herkunftsländer in prosperierende Demokratien zu verwandeln, heißt nichts Anderes als erfolgreiche Entwicklung und ist genauso schwierig.

- Der Drogenhandel ist letztlich nur auf der Nachfrageseite durch Legalisierung, Aufklärung und soziale Eingliederung der Randgruppen des Nordens zu bekämpfen.

Das schließt nicht aus, gelegentlich Synergieffekte zu nutzen. Wenn man Schuldenabbau mit Umweltschutz kombinieren kann (z.B. "debt-ecology-swaps"), ist das durchaus sinnvoll. Aber die Legitimation und die operative Politik zu vermengen, verdeckt die wirklichen Probleme mehr, als daß es hilft.

Entsprechend sollte sich die europäische Politik gegenüber den Gruppen, Ländern und Regionen, die nicht der Solidarität bedürfen (oder sie nicht verdienen), an den europäischen Interessen ausrichten. Die Interessen mögen in den Positivsummenzonen des Nord-Süd-Spiels dieselben Ziele haben wie die Solidarität.

Eine entsprechende EU-Südpolitik müßte sich zunächst an den außenwirtschaftlichen und außenpolitischen Interessen ausrichten. Die südlichen Mittelmeeranrainer, die Ölproduzenten aus Nahost, China, Südostasien und Lateinamerika wären die Hauptpartner der EU. Mit diesen Partnern gilt es, einen Interessenausgleich zu finden. Wirtschaftlich sind die Anpassungsprozesse zu regeln, die eine ständig sich erweiternde internationale Arbeitsteilung allen Beteiligten abfordert. Mittelfristig wird es auch um die Verteilung knapper Ressourcen (Umwelt, Ölvorkommen etc.) gehen.

Außenwirtschaftliche Konflikte nehmen zwangsläufig einen breiteren Raum in der außenpolitischen Tagesordnung ein. Ansonsten ist die Tagesordnung der klassischen Außenpolitik der Bündnisse und Gegnerschaft sowie der traditionellen militärisch definierten Sicherheitspolitik seit dem Ende des Kalten Krieges geschrumpft. In einer ferneren Zukunft könnten neue Weltkonflikte wie Huntingtons Konfrontation der Zivilisationen (Islam oder Konfuzianismus gegen Abendland) sie wieder ausweiten. In der nahen Zukunft geht es eher darum, lokale Konflikte mittels internationaler Organisationen zu lösen oder einzugrenzen.

Interessen dominieren die Beziehungen zu den "wichtigen" Ländern. Aber in diesen Ländern gibt es Gruppen und Regionen, die die Solidarität Europas verdienen. In einigen Fällen kann die EU-Südpolitik diese Zielgruppen mit Einverständnis der jeweiligen Regierung und somit im Konsens mit ihren Interessen unterstützen. In anderen muß sie sich auf Beziehungen und Maßnahmen unterhalb der Regierungsebene stützen.

Afrika südlich der Sahara, die Karibik und Südasien sind Aufgabenfelder für eine Solidaritätspolitik. Die Lomé-Kooperation deckt einen Teil dieses Feldes ab, klammert aber andere wichtige Länder wie Indien, Pakistan, Bangladesch und Sri Lanka aus, in denen (noch) ein größerer Teil der Armutsbevölkerung der Welt lebt als in den AKP-Staaten. Die EG begründete diese unterschiedliche Behandlung damit, daß eine Lomé-artige Entwicklungspolitik für diese Länder die Kapazität der EG sprengen würde.

Ob und in welche Richtung die Lomé-Zusammenarbeit zu reformieren ist, gehört zu den umstrittensten Fragen der aktuellen Debatte zur EU-Südpolitik. Der Masstrichter Vertrag hatte Lomé einen Sonderstatus zugebilligt. EU-Kommissar Marin denkt allerdings laut über eine Lomé-Reform nach. Schon der Fall Südafrika wirft erneut die Frage nach dem Charakter der AKP-Kooperation auf:

- Sollen arme Länder (LLDCs) AKP-Mitglieder sein oder nur Länder aus bestimmten Regionen mit kolonialer Vergangenheit?

- Wenn Lomé eine immer vielfältigere Gruppe von Entwicklungs-ländern erfaßt, muß dann nicht auch die Zusammenarbeit stärker differenziert werden?

Eine größere Union nach einer Erweiterung um die EFTA-Staaten dürfte wohl nicht mehr so stark an den alten kolonialen Banden interessiert und in der Lage sein, eine weniger auf Finanztransfers ausgerichtete Solidaritätspolitik ab dem Jahr 2000 für alle Armutsgebiete zu formulieren.

Aber auch hier benötigt die Solidarität eine Menge Realismus. Am besten funktioniert sie in kleinen Projekten mit klar umrissenen, kooperationsfähigen und -willigen Zielgruppen. Diese Projekte werden aber immer nur eine Minderheit der riesigen Armutsbevölkerung erreichen. In vielen Fällen stoßen sie rasch an die Grenzen, die ihnen ihr politisches, gesellschaftliches oder wirtschaftliches Umfeld setzt. Der Preis, den Solidaritätspolitik zahlen müßte oder muß, um solche Grenzen und Widerstände zu durchbrechen, kann sehr hoch sein, wie das Beispiel Somalia zeigt.

Es liegt daher näher, die Hilfe dort zu konzentrieren, wo ihrer Wirksamkeit keine engen Grenzen gesetzt sind und das Umfeld eher förderlich ist. In einem ersten Schritt könnte die EU die Partner (Regierungen oder Gruppen/Organisationen/Institutionen unterhalb der Regierungsebene) identifizieren, die ernsthaft an Entwicklung und Armutsbekämpfung interessiert sind. Mit diesen Partnern, die die Ziele der EU-Südpolitik teilen, kann dann die EU eine intensivere Beziehung entwickeln.

Eine solche Beziehung könnte auf einem "Entwicklungsvertrag" aufbauen, in dem beide Seiten ihre Verpflichtung auf die gemeinsamen Ziele und die dafür dienlichen Maßnahmen festhalten. Auf dieser Grundlage könnte die EU auch bereit sein, nicht nur Entwicklungshilfe zu leisten, sondern auch Hilfe beim Aufbau der Demokratie. In vielen Ländern krankt z.B. der Rechtsstaat daran, daß eine unabhängige Justiz schwer zu finanzieren ist. Hier könnte die Union einspringen, wobei allerdings das Empfängerland sicherstellen müßte, daß eine geeignete Binnenfinanzierung eine solche Unterstützung langfristig ablöst.

Ein Politikdialog muß diese Beziehung begleiten, um zu verhindern, daß sie in gegenseitiger Enttäuschung endet. Beide Seiten müssen bereit sein, grundsätzlich alle von ihnen verfolgten Politiken offen zu diskutieren. Die EU muß ihr unsinnig erscheinende Wirtschaftspolitiken des Entwicklungslandes (Überbewertung, Preisverzerrungen, Korruption etc.) ansprechen dürfen. Der vielgelobte Vertrags- und Partnerschaftscharakter des Loméabkommens setzte in seinem Geist, wenn nicht in seinem Buchstaben der Kritik der Südeliten zu enge Grenzen, die seinem Ruf schadeten. Umgekehrt muß es sich die EU aber auch gefallen lassen, daß die Partner aus dem Süden ihre Agrarpolitik oder ihren Protektionismus hinterfragen.

Eine Änderung der jeweils als unsinnig oder schädlich empfundenen Politiken kann und sollte keiner erzwingen. Aber er kann in letzter Konsequenz den gemeinsamen "Entwicklungsvertrag" kündigen, wenn die Handlungen oder Unterlassungen des jeweiligen Partners sein Engagement für das urprünglich gemeinsame Ziel fraglich erscheinen lassen. Fristen und Schlichtungsverfahren sollten den schwächeren Partner vor willkürlichen Kündigungen schützen.

Die Zusammenarbeit bewegt sich dabei auf einem Grat, der seit langem bekannt ist. Einerseits sollen langfristige, vertraglich fixierte Beziehungen den Empfängern Planungssicherheit geben und Geberwillkür einschränken. Andererseits ermöglicht eine flexible Mittelverwaltung, daß die Geber auf neue Bedürfnisse rasch eingehen bzw. bei Problemen die Transfers verringern können. So hat die EU z.B. im Fall Indien durch einjähriges Aussetzen der Hilfe eine Reform der dortigen Verwaltungstrukturen durchsetzen können, während im Lomé-Kontext z.Z. eine Milliarde ECU brachliegen, da die EU zwar die Auszahlung blockieren, sie aber nicht anderweitig verwenden kann.

Pluralisierung und Dezentralisierung der Zusammenarbeit können dieses Dilemma zumindest abmildern. Regierungen, Nichtregierungs- und internationale Organisationen können ihre jeweiligen "Entwicklungsverträge" schließen (und bei Bedarf kündigen), wie es ihrem Interesse und dem ihrer jeweiligen Partner entspricht. Die Regierung eines Entwicklungslandes mag keine Unterstützung erhalten, da sie Grundanforderungen nicht erfüllt. Aber die Opposi-tionsparteien, Bürgerrechtsbewegungen, Gewerkschaften, Umweltgruppen oder Fraueninitiativen mögen trotzdem mit ihren Partnern im Norden weiter zusammenarbeiten.

Die Solidarität in die Nischen der Weltpolitik zu verweisen, mag zunächst grausam oder zynisch erscheinen. Tatsächlich hat sie die Nischen meist nur verlassen, um in den Medien und in den Köpfen der Leichtgläubigen für andere Interessen herzuhalten. Langfristig ist ihr mehr damit gedient, wenn die Politk diese Interessen klar benennt und ihrem Stellenwert entsprechend berücksichtigt. Auch ein Herz für die Armen schlägt länger, wenn es von Hemd und Rock geschützt ist, und zwar zuerst vom Hemd und dann vom Rock.

* Aber schon gegenüber internationalen Organisationen werden sich die Mitgliedsstaaten auf den zweiten Absatz des Art. 130 y berufen, um ihre Eigenständigkeit - vor allem in finanzieller Hinsicht - zu betonen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1998

Previous Page